Ukraine-Krieg

Die Narrative des Kremls

04.04.2022

Thomas Urban hat mehr als 20 Jahre als Osteuropa-Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet. In diesem journalist-Essay kritisiert er die deutsche Ukraine-Berichterstattung der vergangenen Jahre. Er sagt: Zu lange haben wir die Grenzüberschreitun­gen Putins nicht scharf genug beschrieben.

"Warum sind einige Narrative des Kremls bis heute überaus wirksam geblieben?", fragt Thomas Urban.

Unter den Kommentatoren der deutschen Tagespresse sowie der großen Fernsehsender herrscht seltene Einigkeit: Der russische Überfall auf die Ukraine ist ein schwerer Bruch des Völkerrechts und geht mit vielerlei Kriegsverbrechen einher. Die Version des Kremls, dass es sich um einen Militäreinsatz zur Befreiung der vom "faschistischen Regime" in Kiew mit Völkermord bedrohten Landsleute handele, ist so grotesk, dass sich die Frage stellt, ob ihre Erfinder nicht besonders hart gesottene Zyniker sind. Obwohl sie wissen, dass im Westen niemand diese Version glaubt, verbreiten sie sie, um ihrer Geringschätzung der angeblich durch die LGBT-Bewegung verweichlichten Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, Stichwort: Gayropa. Damit meinen die gleichgeschalteten Moskauer Medien die Europäische Union. 

Doch gerade in Deutschland stellen sich andere Fragen: Was haben die deutschen Medien dazu beigetragen, dass man in Berlin Putins Grenzüberschreitungen so lange hingenommen hat? Warum sind einige Narrative des Kremls, die mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Industrierevier Donbass 2014 ihren Ausgang nahmen, bis heute überaus wirksam geblieben? Ein Musterbeispiel für erfolgreiches Framing ist die Saga von den "prorussischen Separatisten" im Osten der Ukraine, die ihre Heimatregion an Russland anschließen wollen. Der Begriff bekräftigt die Kreml-Version vom "ukrainischen Bürgerkrieg", in dem die von Kiew unterdrückten ethnischen Russen letztlich obsiegten und die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausriefen, also das Selbstbestimmungsrecht der Völker wahrnahmen. Moskau war demnach nie unmittelbar an dem Konflikt beteiligt. 

Dabei liegt seit Jahren eine Fülle von Informationen über die Besetzung nahezu aller Schlüsselpositionen in Verwaltung, Repressionsapparat und Militär der "Volksrepubliken" durch Staatsbürger der Russischen Föderation vor. Die Komitees der Soldatenmütter, entstanden während des Ersten Tschetschenienkriegs 1994, konnten nachweisen, dass im Donbass-Krieg mindestens 15.000 Soldaten der russischen Streitkräfte unter falscher Flagge im Einsatz waren. Prompt wurden die Komitees 2015 zu "ausländischen Agenten" erklärt, weil sie Spenden aus dem Westen bekommen hatten.  

"Warum sind einige Narrative des Kremls, die mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Industrierevier Donbass 2014 ihren Ausgang nahmen, bis heute überaus wirksam geblieben?"

Zur Aufklärung trug ebenfalls die in Kleinstauflage erscheinende Nowaja Gaseta bei, zu deren bekanntesten Redaktionsmitgliedern die ermordete Reporterin Anna Politkowskaja gehört hatte. Die Zeitung ließ in den vergangenen Jahren ehemalige russische Offiziere, die den Kurs des Kremls ablehnen, sowie im Donbass eingesetzte Soldaten zu Wort kommen. Ihr Chefredakteur Dmitri Muratow, der 2021 wegen des Einsatzes der Zeitung für die Menschenrechte stellvertretend für die Redaktion mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, musste sich nun dem Druck der Moskauer Pressebehörde beugen: Die Redaktion verzichtet auf Berichte über Kriegsverbrechen in den bombardierten ukrainischen Städten, um die Schließung wegen "Feindpropaganda" zu vermeiden. 

Der Begriff "prorussische Separatisten" verschleiert also die Realität, er verdeckt, dass es russische Besatzer waren, die die beiden "souveränen Volksrepubliken" proklamiert haben. Die politischen Folgen dieses Framings sind offensichtlich: Berliner Politiker und Kommentatoren sprachen oder schrieben nicht vom "russisch-ukrainischen Krieg" um den Donbass, sondern verharmlosend von der "Ukraine-Krise", so als sei dies eine interne Angelegenheit der Führung in Kiew, die gefälligst ihr grundlegendes Problem mit der unzufriedenen russischen Minderheit im Lande lösen solle. 

Eng verknüpft damit ist das zweite überaus erfolgreiche Narrativ des Kremls: Wer Russisch als Muttersprache spricht, ist Russe. Putin erklärte wiederholt, dass der russische Staat sich als Schutzmacht von 27 Millionen Russen verstehe, die gegen ihren Willen nun in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken lebten. Diese Zahl geistert auch durch die deutschen Medien, erst kürzlich brachte Gregor Gysi sie unwidersprochen in einem Spiegel-Talk unter. Ein Blick in die letzte Ausgabe des Statistischen Jahrbuchs der 1991 untergegangenen UdSSR zeigt allerdings, dass Putin maßlos übertreibt: In den anderen Sowjetrepubliken lebten damals knapp 15 Millionen, die die Standesämter unter der Rubrik "russisch" führten. Namentlich in den islamisch geprägten neuen Republiken Mittelasiens und in Aserbeidschan waren sie in der Tat behördlichen Schikanen ausgesetzt, eine Reaktion auf den russischen Rassismus: Die muslimischen Untertanen des Zaren galten als Menschen zweiter Klasse, woran sich auch in der Sowjetära allen Parolen von der "sozialistischen Völkerfreundschaft" zum Trotz wenig änderte. Aus den ehemaligen asiatischen Kolonien des Zarenreichs setzte nach 1991 ein Exodus der Russen ein. 

Im Fall der Ukraine ist indes offensichtlich, dass die überwältigende Mehrheit der russischsprachigen Einwohner sich nicht als Russen fühlt, sondern als Ukrainer. Sie wollen genauso wenig Russen sein wie Wiener und Züricher Deutsche. Die nationale Selbstverortung von Menschen einer Region lässt sich am einfachsten am Verhalten von Fußballfans sowie an Wahlergebnissen ablesen. In den überwiegend russischsprachigen Metropolen Donezk, Dnipro, Charkiw und Odessa wurden Siege der ukrainischen und Niederlagen der russischen Fußballnationalmannschaft bejubelt; schon zu Sowjetzeiten machte der KGB die inoffiziellen Fanclubs in diesen Städten als "Hort des ukrainischen Nationalismus" aus.  

Bei Wahlen kamen in den russischsprachigen Gebieten der Ukraine Parteien, die für den Anschluss an Russland agitierten, nie über 15 Prozent hinaus, auf der Halbinsel Krim waren es sogar nur vier Prozent. Fast immer siegte bis zum Ausbruch des Kriegs um den Donbass 2014 die Partei der Regionen, an deren Spitze der vormalige Premier und Staatspräsident Viktor Janukowitsch stand. Janukowitsch bekam in den deutschen Medien durchweg das Etikett "prorussisch" – eine Fehleinschätzung. Wie seine Vorgänger betrieb er nämlich eine Schaukelpolitik zwischen Moskau und Brüssel.

"Ein Musterbeispiel für erfolgreiches Framing ist die Saga von den ‚prorussischen Separatisten‘ im Osten der Ukraine, die ihre Heimatregion an Russland anschließen wollen."

Bei der Privatisierung von Industriebetrieben ließ er interessierte russische Konzerne nicht zum Zuge kommen, die hinter ihm stehenden Oligarchen wollten die "Moskowiter" aus ihrem Beritt fernhalten. Kaum beachtet blieb, dass Janukowitsch aus seinem russischen Exil heftig gegen die Ausrufung der "Volksrepubliken" in der Ostukraine und die Annexion der Halbinsel Krim protestierte, woraufhin ihn seine Bewacher von allen Medienkontakten abschnitten.

Die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine prägt ein ukrainischer Patriotismus, dessen historische Bezugspunkte die Rebellionen der freien Kosaken gegen die Zaren und der Holodomor sind, die große Hungersnot unter Stalin mit Millionen Toten. Die Fernsehnachrichten von der Fluchtwelle dieser Tage bestätigen dies: Fast alle Frauen, die mit ihren Kindern nun in Polen und Deutschland Schutz suchen, sprechen Russisch. Und sie verfluchen Putin, der vorgibt, die russischsprachige Bevölkerung zu schützen. Auch Wolodymyr Selenskyj hat Russisch als Muttersprache, wie vier seiner fünf Vorgänger im Kiewer Präsidentenpalast.

Das dritte überaus wirksame Narrativ des Kremls kreist um das angebliche Versprechen der westlichen Staatsführer von 1990, die Nato niemals über die deutsche Ostgrenze hinaus auszudehnen. Die Riege der "Putin-Versteher" wiederholte es immer wieder in den Talkshows. Dass es eine solche Zusage nie gegeben hat, bestätigte wiederholt kein Geringerer als Michail Gorbatschow. Vor allem hat sich die Sowjetunion Ende 1991 aufgelöst, somit hätten irgendwelche Zusagen zu Lasten der aus ihr hervorgegangenen neuen Staaten ohnehin keine Bindewirkung. Überdies erklärte Putin bei seinem ersten Treffen mit US-Präsident Bill Clinton, er könne sich vorstellen, dass Russland eines Tages der Nato beitreten werde. Dies war ein Jahr nach der ersten Erweiterungsrunde von 1999. Völlig untergegangen ist in den deutschen Medien zudem, dass für die ehemaligen Ostblockstaaten die von Moskau überaus grausam geführten Kriege in Tschetschenien der Auslöser für ihre Beitrittsgesuche waren.

"Im Fall der Ukraine ist indes offensichtlich, dass die überwältigende Mehrheit der russischsprachigen Einwohner sich nicht als Russen fühlt, sondern als Ukrainer." 

Weitere Leerstellen in der Berichterstattung über den Krieg Putins betreffen die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream. Dass russische Umweltschützer von Anfang an gegen Nord Stream protestierten, blieb in Deutschland weitgehend unbekannt; sie forderten, die Mittel für den Ausbau und die Reparatur des bereits vorhandenen Röhrensystems auszugeben, aus dem in großen Mengen Methan entweicht. Stattdessen war die deutsche Debatte moralisch intoniert: Nord Stream sei ein völkerverbindendes Projekt, so wie schon das Erdgas-Röhren-Geschäft aus der Zeit der Entspannungspolitik unter Willy Brandt. Die Gegenmeinung: Wegen des Anschlags auf den Regimekritiker Alexej Nawalny dürfe Nord Stream 2 nicht freigegeben werden. Kaum Beachtung fanden die Analysen, nach denen die westdeutsch-sowjetische Wirtschaftskooperation die Hochrüstung der Streitkräfte der UdSSR finanzierte. Ebensowenig hinterfragten deutsche Kommentatoren die Behauptung, dass Moskau nie den Rohstoffexport als politisches Druckmittel benutzt habe. In Wirklichkeit haben dies alle Kremlführer getan, von Breschnew über Gorbatschow und Jelzin bis zu Putin, um Demokratiebewegungen im Ostblock zu schwächen oder den Westdrang ehemaliger Sowjetrepubliken zu blockieren.   

Wegen seiner Dienste für Putins imperialistische Energiepolitik sieht sich nun Gerhard Schröder heftigen Angriffen ausgesetzt. Doch die viel bedeutendere Rolle, die sein ehemaliger Gefolgsmann Frank-Walter Steinmeier als Hauptarchitekt der von Wunschdenken geprägten deutschen Ostpolitik im 21. Jahrhundert spielte, beschäftigt bislang kaum die Leitartikler. Steinmeier wurde aus den osteuropäischen EU-Staaten auch angelastet, dass er es abgelehnt hat, die Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 an die Bedingung zu knüpfen, dass Moskau zu einer Lösung des eingefrorenen Konflikts im Donbass beiträgt – auch dies ein Aspekt, der meist in der deutschen Mediendebatte fehlte. 

Schon vor vier Jahrzehnten erschienen im Samisdat, der sowjetischen Untergrundpresse, Berichte über die ökologischen Verwüstungen in den Fördergebieten von Erdgas und Erdöl. Das Echo in der Bundesrepublik war äußerst gering. In der aktuellen deutschen Debatte über Nord Stream wird ausgespart, dass die russischen Stromerzeuger vor allem auf Kohle setzen, weil das Erdgas Devisen für Putins Hochrüstung erbringen muss. Während in Deutschland über ein Betriebsverbot für das hochmoderne Steinkohlekraftwerk Datteln gestritten wurde, ging in Sibirien und in Russlands fernem Osten ein Dutzend neuer Kohlekraftwerke ans Netz, deren Abgase nahezu ungefiltert die Atmosphäre erreichen. Die vom russischen Geheimdienst bedrängten Umweltschützer werfen den Deutschen vor, wegen ihrer eigenen kommerziellen Interessen im Rohstoffsektor von Moskau den Druck zu nehmen, die regenerative Stromerzeugung zu fördern. Erneuerbare Energien machen im russischen Energiemix nur 0,2 Prozent aus, eine Zahl, die man in den deutschen Medien nur schwer findet. 

All diese Oberflächlichkeiten und Lücken in der deutschen Berichterstattung rühren an ein Kernproblem der Qualitätspresse: die Qualifikation von Korrespondenten. Zwar sind in Osteuropa einige Meister ihres Fachs unterwegs; doch haben Untersuchungen auch ergeben, dass etwa die Hälfte der nach Moskau, aber auch nach Kiew und Warschau entsandten Zeitungskorrespondenten nicht über die für diese Posten unabdingbaren Sprach- und Landeskenntnisse verfügte. Einem Korrespondenten, der nicht die Sprache seines Einsatzlands spricht, entgehen wichtige Entwicklungen, er kann sich nicht unauffällig im Land bewegen, wird nicht zu Hintergrundgesprächen eingeladen und in der Branche nicht ernst genommen. Manche Chefredakteure erklären ihre kuriosen Personalentscheidungen mit dem angeblichen Wunsch der Leser nach Abwechslung, obwohl Befragungen das Gegenteil ergeben: Die Leser erwarten Kontinuität und Kompetenz. Dass der aggressive Charakter der Politik Putins in der bundesdeutschen Gesellschaft so lange bagatellisiert wurde, ist auch eine Folge lückenhafter Berichterstattung. 

Thomas Urban ist Journalist und Buchautor. Er war 24 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, von 1991 bis 2012 gehörte die Ukraine zu seinem Berichtsgebiet. 

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