Mein Blick auf den Journalismus

Läuft die Durchökonomisierung journalistischer Inhalte heiß?

09.06.2022

In unserer Serie „Mein Blick auf den Journalismus“ hält Benjamin Piel, Chefredakteur des Mindener Tageblatts, eine Gegenrede auf die Klickökonomiefixierung. Redaktionen haben heute tausend Möglichkeiten, Texte nach Klicks, Lesedauer, Themenkarrieren auszuwerten. Das ist gut. Aber ab wann bleibt die journalistische Moral auf der Strecke? Von: Benjamin Piel

Benjamin Piel: "Der Leser, der Konsument, der Kunde darf am Ende nicht zum reinen Nutzer werden." (Foto: Thorsten Jander)

Haben wir uns auf einen Irrweg begeben? Sind wir in der Überzeugung, das Richtige zu tun, auf einen Weg geraten, der vorgibt, in die Zukunft des Journalismus zu führen? Wenn wir nicht aufpassen, passiert das Gegenteil. Die Rede ist von der Durchökonomisierung journalistischer Inhalte. Sie träufelt Datenauswertungen in die Adern von Medienleuten, die süchtig gemacht werden nach der scheinbar heilsbringenden Botschaft: Dein Text hat sich gut verkauft, er hat viele interessiert! Das hast du gut gemacht, mach es morgen wieder! Halt die Werte oben! Und wage nicht, einen Text abzuliefern, der nicht funktioniert!

Um es gleich zu sagen: Ich schätze die Datenauswertung journalistischer Inhalte. Was wird gelesen, wie lange, wo steigen Leser aus, und welche Inhalte lösen ein Abo aus? Das zu wissen, hat so manches Bauchgefühl durch Tatsachen ersetzt. Wofür Menschen sich interessieren, ist nun kein Stochern im Nebel mehr. Es zeigte sich, dass wir mit mancher Einschätzung falsch lagen. Ellenlange Bankbilanzen wurden abgestraft, unverstehbare Kommunalhaushalts-Berichterstattungen kaum gelesen, Kulturkritiken in elaborierter Fachsprache ignoriert. Die Daten zeigen bestenfalls, was Journalisten lassen sollten, weil es die meisten Menschen anödet, und was sie tun sollten, weil es sich aus Sicht der Kunden lohnt. Das ist gut, denn es macht den Journalismus besser. Nicht zuletzt, weil die Auswertungen zeigen, dass Recherchen gefragt sind, auch Stücke aus der Kommunalpolitik – wenn die Entscheidungen etwas mit dem Leben der Leute zu tun haben und Journalisten verstehbar machen, was passiert. Wenn Analysen zu diesen Ergebnissen führen, ist das bereichernd.

"Dein Text hat sich gut verkauft, er hat viele interessiert! Das hast du gut gemacht, mach es morgen wieder! Halt die Werte oben! Und wage nicht, einen Text abzuliefern, der nicht funktioniert!"

Doch selten hat eine Innovation im Journalismus so sehr nach verantwortungsvollem Handeln, Führung und Einordnung verlangt. Die Dosis macht das Gift. Beginnt sich in einer Redaktion alles um die Verkaufbarkeit von Inhalten zu drehen, wird der Datenauswerter zum Dealer. Das darf nicht sein, weil das Ergebnis Abhängige sind – was ungut ist für einen Beruf, in dem Unabhängigkeit das Fundament ist.

In einigen Verlagen ist etwas ins Rutschen geraten. Da wird in einer Runde über Themen gesprochen, die besonders gut "funktionieren" (allein schon dieses Wort). Ein Mordfall habe viele "interessiert", viele Abonnenten hätten "geklickt" und die "Themenkarriere" sei super gewesen, weil sie so viele "bei der Stange gehalten" hätte. Gemeint ist: Die betreffende Redaktion hatte über einen Mordfall nicht nur ein- oder zweimal, sondern gleich ein Dutzend Mal berichtet. Täglich in der Zeitung, mehrfach täglich digital. Für die Erkenntnis, dass so ein Handeln "funktioniert", hätte es zwar gar keine Datenanalyse gebraucht, aber das ist eine andere Sache. Die Frage ist: Streben Redakteure die "Themenkarriere" mit einer Nachdrehe nach der nächsten an, weil es so viel Neues gibt? Da habe ich als Beobachter von außen meine Zweifel. Ein Thema nachzudrehen, kann notwendig sein, wenn es Erkenntnisse gibt. Aber immer öfter kommt es mir so vor, als würden Themen neuigkeitsarm im Kreis bewegt. Es ist keine Überraschung, dass jeder dieser Texte Inte­resse auslöst, geht es doch um einen emotionsgeladenen Kriminalfall, der zum Reflexklick motiviert. Doch ist es noch Journalismus, wenn im Quark gestampft wird, um ja nur die Aufmerksamkeit hochzuhalten? Oder ist das eher das Gegenteil? Und wenn es das Gegenteil ist, was genau ist es dann? 

"In jeder Redaktion braucht es jemanden, der sagt: Mag sein, dass dieses Thema im ökonomischen Sinne nicht 'funktionieren' wird, aber das macht es nicht weniger wichtig – wir wollen es trotzdem."

Wo so gearbeitet und gedacht wird, wird der Leser, der Konsument, der Kunde, am Ende konsequenterweise zum reinen Nutzer. So entsteht auf die Dauer ein technisch-kaltes Klima, in dem die Gefahr wächst, dass journalistische Ethik auf der Strecke bleibt. So entstehen Überschriften, die versprechen, was die Texte darunter nicht halten können. So unterwirft sich der Journalismus denselben Regeln, die soziale Netzwerke prägen. Und so wird er auf lange Strecke zu dem, was er heute noch kritisiert. Angenommen, Menschen sehnten sich nach Ausgeruhtheit, Analyse, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit, Nachdenklichkeit und einem zweiten Gedanken – kann Journalismus das unter den Bedingungen eines auf die Spitze getriebenen Verkaufbarkeitszentrismus überhaupt noch leisten? Und wenn er es nicht kann, verliert dann der Journalismus nicht gerade das, was ihn ausmachen sollte und was dann auch seine Zukunft wäre?

Das Verkaufbarkeitsdenken darf schon allein deshalb nicht auf die Spitze getrieben werden, weil es zu trügerischen Ergebnissen führen kann. Wer meint, die hohe Anzahl von Kunden auf einem Artikel sei zwangsläufig Ausdruck von Zustimmung, liegt falsch. Vieles spricht dafür, dass Blaulicht-, Skandal- und Spektakelgeschichten zwar effektvoll Reflexe bedienen, die Mehrheit der Leserinnen und Leser sich aber gerade kein Angebot wünscht, das mehrheitlich aus dem entsprechenden Mix besteht. Wäre es anders, müssten Boulevardmedien nur so florieren, was nicht der Fall ist. Das zu ausgeprägte Starren auf die Klicks und die Lesedauer der zahlenden Kunden kann dazu führen, dass das Zuschnappen der Effektfalle mit Zufriedenheit verwechselt wird. Doch wer in die Falle gegangen ist, muss noch lange nicht damit einverstanden sein.

"Bei einigen Regional- und Lokalzeitungen ist zumindest online eine schleichende Boulevardisierung, Verblaulichtung und Skandalisierungsbereitschaft zu erkennen."

Bei einigen Regional- und Lokalzeitungen ist zumindest online eine schleichende Boulevardisierung, Verblaulichtung und Skandalisierungsbereitschaft zu erkennen. Aus Erfahrung ist zu vermuten, dass Menschen in einer solchen Inhalte-Atmosphäre zwar viel klicken – aber letztlich nicht einverstanden sind mit der daraus resultierenden Gesamtausrichtung. Menschen drücken regelmäßig aus, dass sie von ihrem Lokalmedium Distanz, Objektivität, Zurückhaltung, Seriosität und gerade keine Zuspitzung erwarten. So könnte ironischerweise ausgerechnet das Streben nach der Befriedigung des Nutzerinte­resses dazu führen, dass Menschen sich abwenden.

Journalistische Werte

Auf der Strecke bleiben in dieser Denke übrigens auch sogenannte Randgruppen, denen der Journalismus eigentlich eine Stimme geben sollte. Warum über Hartz-IV-Empfänger berichten, die sich ja eh kein Abo leisten können? Warum Migranten in den Blick nehmen, wenn sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht für sie interessiert? Führt die auf die Spitze getriebene Datenanalyse zu diesem Ergebnis, erblindet der ohnehin von blinden Flecken belastete Journalismus für einige Themenfelder vollends. Haben Mittellose und andere gesellschaftlich Randständige überhaupt noch eine Chance, in den Fokus umsatzzentriert denkender Journalisten zu kommen?

"Die Frage ist: Streben die Redakteure die „Themenkarriere“ mit einer Nachdrehe nach der nächsten an, weil es so viel Neues gibt? Da habe ich als Beobachter von außen meine Zweifel."  

Es darf nicht dazu kommen, dass diese Entwicklung flächendeckend zu einer tektonischen Verschiebung journalistischer Werte führt. Und deshalb braucht es in jeder Redaktion jemanden, der sagt: Mag sein, dass dieses Thema im ökonomischen Sinne nicht "funktionieren" wird, aber das macht es nicht weniger wichtig – wir wollen es trotzdem! Das ist gerade für junge Journalisten eine unerlässliche Unterstützung. Sie kommen neu in den Beruf, und die Datenauswertung gehört für sie von Anfang an zum Alltag. Wenn der Nachwuchs nicht eine stetige und behutsame Einordnung der Möglichkeiten und Grenzen dessen bekommen, was am Dashboard so verlockend flimmert, könnte das zum Ende des journalistischen Selbstverständnisses führen, wie wir es heute kennen. Was denkt ein Journalist der Zukunft über das Kernziel seiner Arbeit? Wird es noch "Ich will informieren" sein oder eher "Ich muss verkaufen"?

Dateninformiert, aber nicht datengetrieben zu arbeiten, war ein gutes Versprechen vieler Redaktionen, als deren Datenanalyse Fahrt aufnahm. Mir scheint diese wichtige Abmachung im Zuge der Monetarisierungsbestrebungen und des wirtschaftlichen Drucks mancherorts vergessen worden oder ins Hintertreffen geraten zu sein. Einmal ganz abgesehen davon, was die fortschreitende Algorithmisierung des Journalismus für dessen Zukunft mit sich bringen wird. 

Es wird Zeit, dass wir uns an unser Versprechen erinnern und danach handeln. Es ist an der Zeit für eine Rückbesinnung!

Benjamin Piel volontierte er bei der Schweriner Volkszeitung und wechselte später zur Elbe-Jeetzel-Zeitung in Lüchow (Niedersachsen). Seit Juni 2018 ist er Chefredakteur des Mindener Tageblatts.  

Bisher erschienen:

Teil 1: Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed Deutschland

Teil 2: Carline Mohr, Social-Media-Expertin

Teil 3: Georg Mascolo, Leiter des WDR/NDR/SZ-Rechercheverbunds

Teil 4: Hannah Suppa, Chefredakteurin Märkische Allgemeine

Teil 5: Florian Harms, Chefredakteur von t-online.de

Teil 6: Georg Löwisch, taz-Chefredakteur

Teil 7: Stephan Weichert, Medienwissenschaftler

Teil 8: Julia Bönisch, Chefredakteurin von sz.de

Teil 9: Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin

Teil 10: Barbara Hans, Spiegel-Chefredakteurin

Teil 11: Sascha Borowski, Digitalleiter Augsburger Allgemeine

Teil 12: Richard Gutjahr, freier Journalist, Start-up-Gründer und -Berater

Teil 13: Benjamin Piel, Chefredakteur Mindener Tageblatt

Teil 14: Josef Zens, Deutsches GeoForschungsZentrum

Teil 15: Christian Lindner, Berater "für Medien und öffentliches Wirken"

Teil 16: Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtjournalistin

Teil 17: Carsten Fiedler, Chefredakteur Kölner Stadt-Anzeiger

Teil 18: Stella Männer, freie Journalistin

Teil 19: Ingrid Brodnig, Journalistin und Buchautorin

Teil 20: Sophie Burkhardt, Funk-Programmgeschäftsführerin

Teil 21: Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin, Filmemacherin, Journalistin

Teil 22: Tanja Krämer, Wissenschaftsjournalistin

Teil 23: Marianna Deinyan, freie Journalistin und Radiomoderatorin

Teil 24: Alexandra Borchardt, Journalistin und Dozentin

Teil 25: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 26: Jamila (KI) und Jakob Vicari (Journalist)

Teil 27: Peter Turi: Verleger und Clubchef

Teil 28: Verena Lammert, Erfinderin von @maedelsabende

Teil 29: Anna Paarmann, Digital-Koordinatorin bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide

Teil 30: Wolfgang Blau, Reuters Institute for the Study of Journalism der Universitäte Oxford

Teil 31: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 32: Simone Jost-Westendorf, Leiterin Journalismus Lab/Landesanstalt für Medien NRW

Teil 33: Sebastian Dalkowski, freier Journalist in Mönchengladbach

Teil 34: Justus von Daniels und Olaya Argüeso, Correctiv-Chefredaktion

Teil 35: Benjamin Piel, Mindener Tageblatt

Teil 36: Joachim Braun, Ostfriesen-Zeitung

Teil 37: Ellen Heinrichs, Bonn Institute

Teil 38: Stephan Weichert, Vocer

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