„Wir überschätzen, wie wichtig Intelligenz ist“

„Journalismus ist vielseitig, und manches wird die KI besser erledigen.“ Foto: Ilaria Sofia Arcangeli
David Caswell zählt zu den führenden Denkern zu Künstlicher Intelligenz. Im Interview erklärt er, wie KI den Journalismus verändern wird: weg vom Senden, hin zum Zuhören. Seine Prognose: Wer das Publikum nicht versteht, wird den Anschluss verlieren.
Interview: Jacob Vicari
05.06.2025
Droht durch KI ein weiterer Vertrauensverlust in die Medien – oder eröffnet sie gerade neue Chancen? David Caswell blickt optimistisch in die Zukunft und sagt eine Wissensexplosion in der Gesellschaft voraus.
journalist: Herr Caswell, Sie arbeiten seit 15 Jahren mit Künstlicher Intelligenz. Was hat Sie zum Optimisten werden lassen?
David Caswell: Ich habe 2010 bei Yahoo mit frühen Deep- Learning-Modellen gearbeitet. Anfangs war ich überhaupt nicht überzeugt, dass diese Modelle irgendwann wirklich intelligent werden würden. Erst als Chat GPT-2 im Sommer 2019 herauskam, änderte sich meine Meinung. Da habe ich erkannt: Dieses Zeug funktioniert und es wird immer besser funktionieren. Selbst wenn der Fortschritt jetzt aufhören würde, könnte ich für den Rest meines Lebens mit KI an großartigen Sachen arbeiten.
Haben Sie eine Vision, wie Ihre Arbeit in fünf oder zehn Jahren aussehen wird?
Denken Sie an einen Dorfbewohner, der im Jahr 1225 lebte: Was wusste derjenige über die Welt? Fast nichts. Er wusste, was in seinem Dorf los war und kannte ein paar Leute, die ins Dorf kamen. Vielleicht lief er ab und zu in eine Marktstadt. Heute ist unser Wissen um so viele Größenordnungen breiter als früher. Eine ähnliche Wissensexplosion wird die Gesellschaft im Jahr 2045 oder 2085 erfahren haben, vielleicht mit einer viel besseren Version der KI, die wir jetzt haben, vielleicht eine Art Superintelligenz. Was könnten wir über unsere Welt dann alles wissen!
Woher kommt die Kluft zwischen KI-Optimisten und KI-Pessimisten?
Beim International Journalism Festival in Perugia neulich konnte man die kollektive kognitive Dissonanz deutlich spüren. Es war, als gebe es zwei völlig verschiedene Betrachtungsweisen. Menschen, die durch KI-Macht verlieren, sind natürlich unglücklich darüber, und Menschen, die Macht gewinnen, sind glücklich.
Wie können wir diese Kluft überbrücken?
Wir müssen dafür sorgen, dass zwischen zwei unterschiedlichen Standpunkten eine echte Debatte entsteht. Wir, die Avantgarde, sollten bessere Argumente liefern, wie KI unser Informations-Ökosystem verbessert. Die Nachhut konnte mit weniger Ablehnung und mehr Einsicht kommunizieren.
Kann es sein, dass wir Journalist:innen bei der KI-Frage zu sehr um uns selbst kreisen und das Publikum außer Acht lassen?
Ja, wir müssen uns auf unsere Zielgruppen konzentrieren, auf gewöhnliche Menschen mit alltäglichen Informationsbedürfnissen. Das Publikum nutzt KI bereits mit beispielloser
Geschwindigkeit, während wir noch diskutieren. Die Nutzer werden entscheiden, welche Rolle KI bei der Informationsgewinnung spielt.
Viele Medien haben mittlerweile verstanden, wie sie den Fokus auf ihre Zielgruppen legen.
Das User-Needs-Model, also unsere Produkte aus Sicht der Zielgruppe zu betrachten, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dass wir erst jetzt damit anfangen, ist ein bisschen beunruhigend. Wir hätten das vor 20 Jahren tun sollen.
Wie wird sich der nutzerorientierte Journalismus verändern?
Ein tiefes, wirkliches Verständnis für das Publikum wird immer wichtiger werden, das ist die spannendste Erkenntnis aus unserer Forschung. Wir nennen es Listening as a Service. Vor der KI haben Journalisten gesprochen, gesendet und geschrieben. Nun geht es darum, den Journalismus umzukehren.
Braucht es überhaupt noch menschliche Journalisten?
Journalismus ist vielseitig, und manches wird die KI besser erledigen, zum Beispiel Geschichten, die formelhaft oder sehr geradlinig sind. Komplexe Recherchen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht und die Informationen mit Emotionen verknüpfen, bleiben echten Journalisten vorbehalten. Es wird auch weiterhin Redakteure geben, die Meinungsbeiträge schreiben, Konzerte besuchen und kritisieren.
Unterschätzen wir den Menschen?
Ja. Wir überschätzen aber vielleicht auch, wie wichtig Intelligenz ist. Wir nehmen an, dass alles, was wir sind, unsere Intelligenz ist. Aber Menschen sind viel mehr als Intelligenz, sie sind emotionale, fühlende Wesen.
Viele Kolleg:innen befürchten, KI könnte das Vertrauen in die Medien beschädigen. Liegen sie richtig?
Das ist ein reales Risiko. Es könnte aber auch andersherum sein. Denn das Interesse an Nachrichten schwindet auch, weil viele Menschen redaktionellen Entscheidungen misstrauen. Da könnte es eine Chance sein, wenn KI den menschlichen Einfluss auf die Nachrichtenauswahl eindämmt.
Jakob Vicari ist Lead Creative Technologist, KI-Pionier und Geschäftsführer der Agentur tactile.news. Als Professor für Datenjournalismus und Digitale Medienforensik an der Hochschule Hannover lehrt er in den Studiengängen Journalistik und Visual Journalism.
David Caswell ist Gründer von StoryFlow Ltd., einer Innovationsberatung mit Fokus auf KI im Journalismus. Er war Executive Product Manager bei den BBC News Labs und hatte leitende Positionen bei KI-Initiativen von Yahoo!, Tribune Publishing und der Los Angeles Times inne. Er veröffentlicht wissenschaftliche Texte zu automatisierten Formen des Journalismus und ist Mitautor des im August 2024 erschienenen Berichts „AI in Journalism Futures“.