Meinung

Kirche im Dorf lassen

13.07.2021

Es ist kein Zeichen von Pluralismus und offener Gesellschaft, wenn jeder, der etwas gegen den Strom anmerkt, einen Shitstorm abbekommt, findet Medienanwalt Michael Schmuck. Er sagt: Auch doofe und unkorrekte Meinungen müssen erlaubt sein. Umso wichtiger sei es, dass Journalistinnen und Journalisten Meinung und Fakten erkennbar trennen.

Michael Schmuck, Journalist, Rechtsanwalt und Dozent in Berlin.

Nun war es eine Anzeige der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in der Süddeutschen, der FAZ und bei Zeit Online gegen Annalena Baerbock und die Grünen, die einige gewichtige Gemüter erhitzt hat. In liberalen, aufgeklärten Medien eine Anzeige gegen die Kanzlerkandidatin der neuen Bildungselite? Shitstorm gegen die Redaktionen. Der Presserat soll’s nun richten. Wird er aber wohl nicht. Dass für Anzeigen der Verlag und nicht die Redaktion verantwortlich ist, scheint für Shitstorm-Bläser keine Rolle zu spielen – nicht einmal für Chefredakteure anderer Medien, die sich wegen der Anzeige über die Redaktionen heftig erregten.

Kürzlich waren es Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit einem Shitstorm überzogen wurden, weil sie ihre Meinung zu oder sogar gegen gewisse Corona-Maßnahmen irgendwie satirisch oder jedenfalls so ähnlich herausgeplappert haben. Ja, das mag vielleicht ziemlich verunglückt und doof gewesen sein, peinlich und blöde. Aber es war eine Meinungsäußerung im Meinungskampf, in der Streitkultur des Pluralismus. Dazu gehören – leider – auch doofe Meinungen. Aber wer entscheidet, was doof oder unkorrekt ist? Bei den Themen Corona, Gendern, Diversität, Rassismus, Ökologie oder Radfahren muss es nach Meinung einer meinungsführenden diffus intellektuell verbundenen Community jedenfalls zurzeit irgendwie politisch korrekt zugehen.

"Ja, das mag vielleicht ziemlich verunglückt und doof gewesen sein, peinlich und blöde. Aber es war eine Meinungsäußerung im Meinungskampf, in der Streitkultur des Pluralismus."

Es ist allerdings kein Zeichen von Pluralismus, Meinungsfreiheit und offener Gesellschaft, wenn jeder, der etwas gegen den Strom oder die aktuelle Politik-Mode anmerkt, das dumme Gefühl bekommt, er werde – um es ganz überspitzt zu sagen – irgendwie auf eine Stufe gestellt mit Holocaust-Leugnern und -Leugnerinnen. Nur weil rechts- oder linksextreme Idioten, coronaleugnende Populisten und gefährliche Hetzer mit der Fahne der Meinungsfreiheit ihre braunen oder bescheuerten Parolen verbreiten, darf es nicht verboten sein, auf Meinungsfreiheit hinzuweisen. Wer ganz sachlich seine abweichende freie Meinung äußert zu Corona, Klimawandel, sexistischer Gewalt, Gendern, politischer Korrektheit und LSBT*Q, wird "digital gesteinigt" – oft ohne dass die Steiniger mal richtig zuhören und versuchen, das differenziert und vielschichtig zu betrachten. Beim Einkaufen im Supermarkt mal eben schnell disliken. Shitstorm. Ganz neu: "Cancel Culture". Abkanzeln. Auf diese Kanzel dürfen Journalistinen und Journalistinnen nicht einfach aufspringen. Ein distanzierter, differenzierter und kritischer Rundumblick ist gefragt.

Sogar wer als bekennender Befürworter oder als eifrige Befürworterin einer guten Sache lediglich anmerkt, dass das ein oder andere womöglich fragwürdig, wenig effektiv, unpraktikabel oder übertrieben sei, der wird als Gegnerin beschimpft und gedisliked. Ist es denn politisch unkorrekt, einfach nur mal "die Kirche im Dorf lassen" zu wollen? (Mit "Kirche" sind hier natürlich jegliche Gotteshäuser aller bekannten Religionen gemeint und mit "Dorf" jede Siedlungsform sämtlicher Erdbewohner und Erdbewohnerinnen.)

"Es ist allerdings kein Zeichen von Pluralismus, Meinungsfreiheit und offener Gesellschaft, wenn jeder, der etwas gegen den Strom oder die aktuelle Politik-Mode anmerkt, das dumme Gefühl bekommt, er werde – um es ganz überspitzt zu sagen – irgendwie auf eine Stufe gestellt mit Holocaust-Leugnern und -Leugnerinnen."

Debattieren Sie als Sprachexperte doch nur mal fachlich und sachlich darüber, ob das Sternchen, der Unterstrich, der Doppelpunkt oder der Schrägstrich die bessere Lösung sei. Oder bringen Sie in die Diskussion ein, alternativ beide Geschlechter abwechselnd zu nennen. Und ganz schlimm: Dass es einige Engpässe gibt, an denen es schwierig ist zu gendern oder gar übertrieben. Schon fliegen, jedenfalls vereinzelt, digitale Steine. Wie gesagt: Es geht um sachliche Kritik, nicht um Gehetze. Übrigens auch bei diesem Beitrag hier.

Eine fachliche Diskussion in einem Seminar zur gewaltfreien und korrekten Kommunikation kann aus den Fugen geraten, wenn ganz ernsthaft und themenbezogen darüber gesprochen wird, welche Begriffe, Redensarten und Sprichwörter nicht mehr benutzt werden sollten, weil sie rassistisch, sexistisch oder beleidigend sind oder sein können. Dabei hier und da die umstrittenen Begriffe zu nennen, kann durchaus passieren. Explosionen und Eruptionen politischer Korrektheit können die Folge sein.

Zurück zu den aufmüpfigen Schauspielern und Schauspielerinnen: Schon wurden offizielle Stimmen laut, ihnen künftig Rollen zu versagen, weil sie in ihrer Rolle auf öffentlicher Bühne versagt hätten – oder den falschen Text vortrugen. War da eine Angst herauszuhören, dass die Schauspieltruppe im Kampf der Meinungen womöglich irgendwie ein kleines bisschen recht gehabt haben könnte? Oder ist es die Angst, selbst "gesteinigt" zu werden, wenn der Anfangsverdacht des Schimmers eines Anflugs einer Sympathie oder nur Neutralität entstehen könnte? Wegen Schweigens dazu?

"Oder ist es die Angst, selbst ,gesteinigt' zu werden, wenn der Anfangsverdacht des Schimmers eines Anflugs einer Sympathie oder nur Neutralität entstehen könnte?"

Die Änderungen von Straßennamen, der Abriss von Denkmälern und die Beseitigung von Gemälden, die inzwischen zu politisch höchst unkorrekten Störfällen geworden sind, wird zum Thema Nummer Eins. Das Thema ist wichtig und richtig. Aber die Kämpferinnen für eine bessere Welt sollten sich fragen, welche Themen sie auf der Prioritätenliste ganz oben ansiedeln und welche eher etwas niedriger. Und wenn nun Bewohnerinnen und Bewohner einer Straße, die einen politisch unkorrekten Namen trägt, die Namensänderung zwar für prinzipiell richtig halten aber für nicht soooo eilig, darf ihnen nicht gleich ohne Weiteres unterstellt werden, sie machten sich gemein mit den Taten oder der Vergangenheit des Namensgebers oder mit Rassismus.

Ja, oftmals haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner überhaupt keine Gedanken über den Namensgeber gemacht. O ja, es gibt solche schlichten, normalen Menschen – sehr viele. Aber sie sind deshalb keine Militaristen, Sklavenhändlerinnen oder Menschenschlächter wie die Straßennamensgeber. Mit überheblicher Besserwisserei ist die Welt nicht zu verbessern. Das gilt vor allem für Politiker und Journalistinnen. Also: die Kirche im Dorf lassen.

Nun hat sich zu alledem auch noch herausgestellt, dass gerade jüngere Menschen oft den Unterschied zwischen Meinung und Fakten nicht klar erkennen oder die Grenzen verschwimmen. Das mag an den sozialen Medien liegen, in denen eben vielen Menschen etwas publizieren, die die Trennung von Meinung und Fakten nicht kennen und gelernt haben. Das mag auch daran liegen, dass nun auch gerade jüngere Journalistinnen und Journalisten vermehrt ihre Meinung in eigentlich als nackte Nachrichten daherkommende Beiträge hineindrücken – mehr als das schon üblicherweise ohnehin ungewollt oder unbewusst geschieht. Meinung und Fakten erkennbar zu trennen (oder aber erkennbar zu vermischen) ist ein journalistisches Gebot, wichtiges redaktionelles Handwerk.

Vorsicht aber auch umgekehrt: Auch die Kritik an der "digitalen Steinigung" muss differenziert ausfallen. Der Stitstorm wird eben nur von einem Teil der Community in die Welt gepustet, nicht von der Mehrheit. Die Angst vor Shitstorms ist eben vor allem ein Gefühl.

Das Resümee all dieser Gefühle: Schon melden Meinungsforscherinnnen und -forscher aus Allensbach, dass die Deutschen sich um die Meinungsfreiheit Sorgen machen. Weniger als die Hälfte der Befragten glaubt oder empfindet noch, dass sie ihre Meinung frei äußern kann. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich gegängelt und bevormundet. Von Sprachpolizei und Meinungsdiktatur ist da oft die Rede. Das alles erscheint faktisch wohl übertrieben. Aber es gibt diese Ängste und Sorgen – und das macht Sorgen. Sorgen um das höchste Gut: um die Meinungsfreiheit – das Fundament des Journalismus.

Michael Schmuck ist Journalist, Rechtsanwalt und Dozent in Berlin. Er ist Autor des Standardwerks Presserecht – kurz und bündig.

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