Floskel des Monats

klare Kante

03.03.2022

Wenn Sie diese nun seit sechs Jahren bestehende Kolumne in der Printfassung lesen, dann fühlen Sie sie deutlich in Ihren Händen: die klare Kante. Rechtwinklig, scharf und nach DIN, kantig eben. Im Floskel-Tetris ist sie so etwas wie das Passepartout im Bilderrahmen. Sie passt immer. Der roten Linie ist sie weit überlegen. Können Linien jegliche Formen bis hin zum Kreis haben, ist die klare Kante gerade. Niemand stellt sie sich gebogen vor. Und deshalb müssen wir auch mal loben: Wir zeigen klare Kante für die klare Kante.

Wobei diese Formulierung einen gewissen Seltenheitswert hat. Die klare Kante wird fast ausschließlich gegen etwas verwendet. Sie soll abtrennen, verhindern und Grenzen aufzeigen. Vom neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz erhoffen sich viele Mitglieder "klare Kante" zu zeigen. Selbige wird in Gerichtsentscheidungen erkannt, und gegen fackeltragende Corona-Schwurbler wird ebenfalls nach dem wortgewaltigen rechten Winkel gerufen. Was für ein Spektrum!

Und was für ein Aufstieg: Im Neologismen-Wörterbuch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) lag die Gebrauchshäufigkeit der klaren Kante in den Nullerjahren fast unter der Nachweisgrenze. 2017 erreichte der Wert seinen höchsten Stand: Fast 0,25 Erwähnungen pro eine Million Wörter. Das klingt nach wenig, aber das entspricht der Häufigkeit des Begriffs "Kuschelrock" in seiner populärsten Zeit 1997.

Tatsächlich ist auch in den Zeitungskorpora des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (DWDS) keine frühere Verwendung der klaren Kante zu finden. Erst im Sommer 1998 taucht in einer Berliner Lokalzeitung ein Zitat des damaligen SPD-Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering auf, in dem er das Sprachbild verwendet. Seit Ende der 1990er Jahre verbreitet sich die Formulierung wie ein Lauffeuer: Laut DWDS gab es im vergangenen Jahr 2021 mit 3.717 Treffern in deutschsprachigen Zeitungen die meisten Erwähnungen überhaupt. Vornehmlich tauchen sie in Zitaten auf.

Schade, dass eine inflationäre Verwendung ausdrucksstarker und wohlkomponierter Sprachbilder auch zur Abnutzung führt. Die turbulenten vergangenen Monate waren geprägt von internationaler Krisen-Diplomatie, medialer Viren-Empörung bis hin zur päpstlichen Fehlbarkeit. So viele wirklich klare Kanten waren schon lange nicht mehr auf dem Meinungsmarkt. Aber wir wollen das Nudelholz nicht an die Wand malen. 

Wie sich Floskeln und Phrasen im Journalismus ausbreiten, machen Sebastian Pertsch und Udo Stiehl mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke sichtbar. Hier stellen sie Begriffe oder Formulierungen vor, mit denen KollegInnen besonders häufig danebenliegen.

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