Mein Blick auf den Journalismus

Wie fühlt es sich an, wenn man Sayed, Alaa oder Ahmad heißt?

27.01.2021

In unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus" erzählt der Journalist Stephan Anpalagan von seiner Enttäuschung, wenn es um das Bild von Muslimen oder Zuwanderern in vielen Medien geht. Er sagt: "Man könnte meinen, 'Islam' sei einfach nur ein anderes Wort für 'Terrorismus' und 'Ausländer' ein anderes Wort für 'kriminell'. Das irritiert mich sehr." Text: Stephan Anpalagan.

Stephan Anpalagan: Ich hätte es sein können, der auf solchen Titeln als "fremd" oder "gefährlich" dargestellt wurde. (Foto: Holger Talinski)

Ich glaube, ich war 16 Jahre alt. Andere rauchten Zigaretten oder kamen mit einem Mofa angefahren, um mit kichernden Mädchen auf dem Sozius weiterzudüsen. Ich hingegen kaufte mir den Spiegel und trug ihn bedeutungsschwanger mit mir herum. Hin und wieder schaute ich auch rein, manchmal las ich sogar die gesamte Ausgabe. Dieses feuerrote Magazin, das halb zusammengerollt aus meinem Schulranzen ragte, verwandelte mich von einem jugendlichen Außenseiter in einen jugendlichen Intellektuellen. Zumindest glaubte ich das.

Eigentlich wollte ich immer so sein wie die wissbegierigen Schüler Jean-Paul Sartres. Uneigentlich träumte ich davon, gemeinsam mit Henry Miller die stillen Tage in Clichy zu erkunden. Wegen der Frauen, wegen der Drogen, wegen allem. Film noir im Paris der 20er statt Reihenhaus-Idyll im Wuppertal der 90er.

Zuhause blieb zumindest der Blick in die Unterwäscheseiten des Quelle-Katalogs und natürlich der Spiegel. Der bot in jeder 17. Ausgabe irgendwas mit Sex („Die Neu-Entdeckung des weiblichen Körpers“) und dreimal im Jahr irgendwas mit Hitler („Stasi-Spione aus dem Nazi-Lebensborn“). Dazwischen „Volksleiden Rückenschmerz“ und Artikel über Theo Waigel und seine buschigen Augenbrauen. Der Spiegel und ich hatten einiges gemeinsam. Wir waren beide uncool, altbacken und umstandskrämerisch. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich ihn langsam aber sicher lieben lernte.

Helmut Markwort hingegen liebte den Spiegel ganz und gar nicht, weshalb er sich aufmachte und den Focus gründete. Eine Illustrierte, die vollkommen anders sein sollte als alle anderen Illustrierten, Pardon: Nachrichtenmagazine. Diese fundamentale Andersheit manifestierte sich in dem Credo „Fakten, Fakten, Fakten“, das in der Werbepause regelmäßig durch mich hindurch schallte. Man sieht dabei Helmut Markwort in einer Redaktionskonferenz sitzen, umringt von zahlreichen Männern und einer Frau, die Protokoll führt. Markwort berichtet von der Titelgeschichte zur neuesten Ausgabe: „Amerikanische Neurologen haben das genau nachgewiesen: Frauen denken anders!“

Ich blieb beim Spiegel.

Während meiner Zeit als Student erweiterte ich meinen Nachrichtenkonsum auf die Zeit. Die war zwar in ihrer gedruckten Form furchtbar unpraktisch, weil riesengroß, hatte aber, ähnlich wie der Spiegel, ihren Artikelbestand nahezu vollständig in das Internet gehoben und entwickelte sich so zu meiner zweiten Heimat in Sachen News. Man sprach Englisch.

Als ich irgendwann neben meinem Studium anfing, als Werkstudent zu arbeiten, durchforstete ich in jeder freien Minute sowohl Spiegel Online als auch Zeit Online und druckte mir die interessantesten Artikel aus, um sie später zu lesen. Dabei musste ich mich immer furchtbar beeilen, weil den Werkstudent*innen nur 15 Minuten Internetzeit am Tag genehmigt wurden. Jedenfalls wurde mir irgendwann die manuelle Sucherei zu anstrengend und ich schrieb ein kleines Script, das die frei zugänglichen Titelgeschichten auf Spiegel Online und die Dossiers auf Zeit Online automatisch absuchte und ausdruckte. Auf der Busfahrt nach Hause las ich den dicken Stapel DIN-A4-Blätter. Mein Problembewusstsein in Sachen Kostenloskultur und Ressourcenverschwendung war damals noch nicht besonders ausgeprägt, dafür aber wuchs mein Respekt für all die Journalistinnen und Journalisten, die die Geschehnisse in unserer Welt derart präzise und scharfsinnig zu beschreiben vermochten.

„Ich sah Menschen, die so aussahen wie ich“

Inmitten all der vielen klugen Beiträge fanden sich allerdings auch immer wieder Artikel, die mich stark irritierten. Unter anderem eine Spiegel-Titelgeschichte aus dem Jahr 2007, die mit „Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung“ überschrieben war. Zu sehen ist ein vollständig schwarzer Hintergrund, das Brandenburger Tor und oben links ein Halbmond mit Stern. Das Bild spricht für sich. Wofür genau es spricht, zeigte sich einige Jahre später sehr eindrücklich, als der islamfeindliche und inzwischen verstorbene Udo Ulfkotte ein Buch mit dem Titel Mekka Deutschland schrieb und dieses im ebenso islamfeindlichen Kopp-Verlag publizierte. Und was das Wort „Islamisierung“ angeht: Das gebrauchen mittlerweile die Herrschaften von der AfD, die ebenjener Islamisierung durch die Entsorgung von Menschen entgegentreten wollen.

Das Titelbild war kein Einzelfall.

Auffällig war, dass der Islam und die Muslim*innen immer nur dann zum Titelthema wurden, wenn es um Terror oder gescheiterte Integration ging. Wenn das christliche Abendland in Gefahr geriet. Wenn „die“ „uns“ bedrohten. Neben „Mekka Deutschland“ titelte der Spiegel auch „Blutiger Islam“, „Das Netz des Terrors“, „Der terroristische Weltkrieg“, „Terror gegen Touristen“, „Allahs blutiges Land“, „Das Prinzip Kopftuch – Muslime in Deutschland“, „Allahs rechtlose Töchter – Muslimische Frauen in Deutschland“, „Der heilige Hass“, „Der Dschihad-Kult“, „Allein gegen den Terror“, „Allahs gottlose Armee“, „Das neue Gesicht des Terrors“, „Der Terror der Verlierer“ und „Der Terrorist“. Jenseits des Themenfelds „Islam und Terror“ sahen die Titelbilder des Spiegels immer dann besonders gefährlich und angsteinflößend aus, wenn von Ausländern und Zuwanderern die Rede war. So hießen die Spiegel-Titelgeschichten beispielsweise: „Asyl in Deutschland? Die Zigeuner“, „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“, „Elends-Kontinent Afrika – Rettung durch die Weißen?“, „Ansturm vom Balkan – Wer nimmt die Flüchtlinge?“, „Asyl – die Politiker versagen“, „Gefährlich fremd – Ausländer und Deutsche: Das Scheitern der multi-kulturellen Gesellschaft“, „Zu viele Ausländer?“ und „Ansturm der Armen – Die neue Völkerwanderung“.

Man könnte meinen, Islam sei einfach nur ein anderes Wort für Terrorismus und Ausländer ein anderes Wort für kriminell. Das irritierte und irritiert mich immer noch sehr.

Zum einen, weil es offensichtlich nicht stimmte. Millionen Muslim*innen, die seit Generationen in Deutschland lebten, waren – offensichtlicher ging es ja kaum – eben nicht extremistisch oder islamistisch oder hingen gar irgendwelchen Terrorfantasien an. Dass der Islam eine genauso chaotische, irrationale, vielfältige und zuweilen langweilige Religion war wie das Christentum, wusste ich von zahlreichen Freundinnen und Freunden, die muslimisch waren. Diese Menschen kamen in der Berichterstattung aber genauso wenig vor wie der türkische Gemüsehändler, der albanische Bauarbeiter, die marokkanische Sozialarbeiterin und mein pakistanischer Kinderarzt, die allesamt eine muslimisch-deutsche Selbstverständlichkeit repräsentierten, für die sich der Journalismus nicht interessierte.

Der andere Grund, warum ich angesichts all dieser Titelbilder so angefasst war, hing mit meiner eigenen Identität und meiner eigenen Herkunft zusammen. Meine Eltern waren in den 1980er Jahren aus einem Bürgerkriegsland nach Deutschland geflohen. Sie waren ebenjene Menschen, die in solchen Titelbildern als „gefährlich“ oder als „fremd“ bezeichnet und deren Ankunft in diesem Land als „Ansturm“ tituliert wurde. Wenn ich die Menschen auf den Titelbildern sah, die hoffnungslos, verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte versuchten, nach Europa zu gelangen, sah ich Menschen, die so aussahen wie ich. Bis heute kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass ich es sein könnte, der auf einem solchen Titelbild zu sehen wäre, wenn sich meine Eltern damals nur anders oder zu spät entschieden hätten. 

Es geht bei alledem nicht um den Spiegel. Es geht darum, dass nicht nur dieses liberale Nachrichtenmagazin in dieser Form und in diesem Tenor berichtet hat, sondern es geht darum, dass die gesammelte Medienlandschaft zu wesentlichen Teilen und über eine sehr lange Zeit hinweg einseitig, unvollständig und falsch berichtete, wann immer es Muslim*innen oder Zuwanderer*innen betraf.

Und das wiederum ist, gelinde gesagt, ein Wahnsinn.

Dem Journalismus kommt in unserer Demokratie aus guten Gründen eine überragende Bedeutung zu. Doch was ist, wenn dieser Journalismus falsch berichtet? Wenn er kontinuierlich Ausländer*innen kriminalisiert? Wenn er ausgrenzt und entmenschlicht? Wenn er Muslim*innen, Ausländer*innen, Zuwanderer*innen und Geflüchtete geradezu hanebüchen falsch und einseitig darstellt?

"Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle erzählen, dass heute alles ganz anders sei. Dass wir heute allesamt aufgeklärter seien, liberaler, weltoffener und achtsamer. Nun ja."

Nun, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein großes.

Als Helmut Markwort anlässlich des zweiten Geburtstags vom Focus in der Sendung Willemsens Woche mit Roger Willemsen ins Plaudern gerät, fragt Willemsen urplötzlich, warum der Focus zum Thema „Ausländerkriminalität“ eine Titelgeschichte gemacht habe, in der es heißt, die Ausländerkriminalität sei angestiegen, die Inländerkriminalität aber wäre gleichgeblieben. Dies sei nämlich, gemäß der Zahlen des BKA, eindeutig falsch. Willemsens Redaktion habe dies geprüft, es seien ganz eindeutig beide Kriminalitätsformen angestiegen. Markwort versucht sich in seiner Antwort damit herauszureden, dass das Zahlenwerk kompliziert wäre und man die einzelnen Kriminalitätsformen aufschlüsseln müsse. Zum Schluss sagt er aber etwas erfrischend Ehrliches: „Ich finde einfach, es ist notwendig, dass man über das Thema Ausländerkriminalität mal schreibt. Das muss doch auch mal sein.“

Die Sendung ist aus dem Jahr 1995. Drei Jahre nach der sogenannten „Asyldebatte“ um Asylrecht und Ausländerkriminalität, die von Historikern als schärfste und folgenreichste Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgeschichte bewertet wird. Drei Jahre nachdem im gesamten Bundesgebiet Flüchtlingsunterkünfte brannten. Drei Jahre nachdem Bild und Welt in einer jahrelangen Kampagne Tag für Tag und Woche für Woche das Thema Kriminalität von „Asylanten“ und „Scheinasylanten“ behandelten. Inmitten all dessen sitzt also der Chefredakteur des Focus im Fernsehen und meint, dass man auch mal endlich über Ausländerkriminalität schreiben können müsse.

Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle erzählen, dass heute alles ganz anders sei. Dass so etwas heute nicht mehr möglich wäre. Dass wir heute allesamt aufgeklärter seien, liberaler, weltoffener und achtsamer. Nun ja.

Im Jahr 2019, also fast ein Vierteljahrhundert nach diesem Interview, heißt es in einer Studie der Hochschule Macromedia zur aktuellen Berichterstattung über die Gewaltkriminalität in Deutschland: „Der gewalttätige Ausländer ist eine zentrale Angstfigur im deutschen Journalismus.“ Und weiter: „Insbesondere bei Gewalttaten, die mit Messern begangen werden, entsteht der Eindruck, als würden nahezu ausschließlich Eingewanderte und Geflüchtete zum Messer greifen. Nach einem Lagebild der saarländischen Polizei sind die meisten Stichwaffen- und Messervorfälle Deutschen anzulasten. Die häufigsten Vornamen der deutschen Tatverdächtigen lauten Michael, Daniel und Andreas. Im deutschen Fernsehen dagegen heißen die Messerstecher Sayed, Alaa oder Ahmad.“

Was bedeutet es für unsere Demokratie, wenn der Journalismus derart falsch berichtet? Wenn die Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung auf grundfalschen Annahmen beruht? Wenn ein Großteil der freien und pluralen Presselandschaft in unserem Land die Bevölkerung in die Irre führt?

In einer Studie der Ruhr-Universität Bochum zum Sicherheitsempfinden der Bevölkerung kommen die Forscher zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Menschen in Deutschland überschätzen die Ausländerkriminalität systematisch. Das subjektive Sicherheitsgefühl und die objektive Kriminalitätsbelastung klaffen weit auseinander.

Ich bin müde.

"Der Spiegel und ich hatten einiges gemeinsam. Wir waren beide uncool, altbacken und umstandskrämerisch. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich ihn langsam aber sicher lieben lernte."

„Kriminelle Ausländer raus“, schrie die NPD damals. „Messermigranten abschieben“, krakeelt die AfD heute. Mittendrin: deutsche Journalistinnen und Journalisten, die nicht ganz unschuldig daran sind, dass derartige Parolen auch in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig geworden sind. Journalist*innen, die auch im Jahr 2020 noch auf eine Art und Weise über Muslim*innen, Ausländer*innen und Zuwanderer*innen berichten, dass selbst der wohlwollendste Mensch auf den Gedanken kommen muss, dass „die“ nicht so recht zu „uns“ passen. Manchmal frage mich, wie es sich wohl anfühlt, wenn man Sayed, Alaa oder Ahmad heißt. Und dann frage ich mich, wie es sich wohl anfühlt, wenn man Michael, Daniel oder Andreas heißt. Und dann frage ich mich, wie es sich wohl anfühlt, wenn man als Chefredakteur einer Lokalzeitung in Sekundenbruchteilen darüber entscheiden muss, ob man die Tötung einer Ehefrau als „Ehrenmord“ oder als „Eifersuchtsdrama“ aufmacht. Und ob man überhaupt über die Straftat berichtet oder es nicht einfach sein lässt, weil der Täter kein Ausländer war.

Welchen Stellenwert der verantwortungsvolle Gebrauch der Sprache einnimmt, wenn es darum geht, ein Ereignis präzise und angemessen zu beschreiben, zeigt sich an dem Wort Döner-Morde. Ein Wort, das jahrelang dazu diente, die rechtsextreme terroristische Mordserie an Ausländern und Deutschen zu beschreiben. Das Wortpaar Döner-Morde wurde im Jahr 2011 zum „Unwort des Jahres“ gewählt, genauso wie die Worte freiwillige Ausreise, national befreite Zone, Überfremdung und ausländerfrei in den Jahren davor. Worte, die Bestandteil der politischen Auseinandersetzung waren. Die von Politikern ausgesprochen und von Journalist*innen aufgeschrieben wurden. Die nicht immer hinterfragt und nur selten zurückgehalten wurden.

Und auch hier gilt: Besonders viel hat sich nicht verändert. Als im Februar 2020 ein rassistischer Täter neun Menschen vor und in zwei Bars in Hanau erschoss, war sich Bild in einer Live-Sendung erstaunlich sicher, dass die Taten einem „kriminellen Milieu“ zuzuordnen wären. Der Focus titelte: „Erste Bilder nach den Shisha-Morden“. Zahlreiche Medien schrieben über einen fremdenfeindlichen Anschlag, obwohl keines der Opfer fremd, sondern allesamt Hanauer waren. „Shisha-Mord“, „kriminelles Milieu“, „fremdenfeindlicher Anschlag“. Im Jahr 2020, neun Jahre nach dem Totalversagen in Sachen NSU.

Als im Juli 2020 in einer Imbissbude ein Feuer ausbrach und zwei Menschen schwer verletzt wurden, titelte die BZ: „Flambierter Döner? Schnellimbiss in der Sonnenallee explodiert“.Ich könnte unzählige weitere Beispiele anführen. Dabei wäre es wahrlich einfach, die Berichterstattung zu diesem Themenkomplex besser zu machen. Man müsste sich auf einige journalistische Kernkompetenzen berufen und dafür sorgen, dass das eigene berufliche Ethos (wieder) in den Vordergrund rückt. Das ist machbar. Vielleicht nur ein bisschen ungewohnt.

Zur journalistischen Verantwortung gehören die journalistische Sorgfalt und der Anspruch, die Welt, in der wir leben, möglichst genau darzustellen. Wer über die Ausländerkriminalität, den Schutz der europäischen Außengrenzen, die Risiken der Einwanderung oder die Gefahren des islamistischen Terrors berichten möchte, soll dies unbedingt tun. Nur gilt es dann auch, all dies journalistisch einzuordnen, mit Quellen, Studien, Zahlen und eigenen Beobachtungen zu unterfüttern, die eigene kognitive Dissonanz aufzulösen und präzise und ehrlich alles Geschriebene in die realen Verhältnisse einzubetten. Wer als Redaktionsleiter*in und Chefredakteur*in immer nur dann über den Islam zu berichten weiß, wenn Terrorismus und Islamismus im Raum stehen, sollte seinen eigenen Blick zu diesem Thema dringend schärfer stellen. Dasselbe gilt für das Themenfeld „Ausländer und Integration“. Wer in seiner Publikation kontinuierlich nur Negativerzählungen veröffentlicht, berichtet nicht journalistisch ausgewogen und befeuert – häufig genug bei vollem Bewusstsein – Ressentiments in der Gesellschaft. Das wiederum ist kein Journalismus, sondern Kampagne.

In einem Punkt hat Markwort recht

Ein weiteres Wesenselement guter Berichterstattung innerhalb dieses Themenkomplexes ist die journalistische Distanz, insbesondere wenn Sicherheitsbehörden, Innenministerien oder gar Polizeigewerkschaften betroffen sind. „Polizeireporter“, die eine besondere „Nähe“ zu Dienststellen und Polizeibeamten aufgebaut haben und die den Mehrwert ihrer Arbeit dadurch definieren, dass sie auf Informationen zurückgreifen können, die ihnen aus „Polizeikreisen“ durchgestochen werden, sollten anfangen umzuschulen. Polizeiliche Meldungen, ob intern oder öffentlich, können selten als belastbare und verlässliche Information gelten, solange das Beschriebene nur aus der Perspektive der Polizei artikuliert wird. Besser wäre es, zusätzlich die Einschätzung von Wissenschaftler*innen und Forscher*innen einzuholen und möglichst viele unterschiedliche Perspektiven in die Berichterstattung einzubeziehen. Die Befragung eines Polizeigewerkschafters, um kriminologische Phänomene zu erklären, lässt sich am besten mit dem journalistischen Fachterminus Super-GAU beschreiben.

Wie wichtig diese journalistische Distanz ist, lässt sich leicht erahnen, wenn man an die jahrelange Beteuerung eines früheren sächsischen Ministerpräsidenten denkt, dass gerade die Sachsen immun seien gegen jede Form des Rechtsextremismus. Nun aber stellt sich heraus, dass in Sachsen während der Nachwendezeit, wie in vielen anderen Gegenden Ostdeutschlands auch, die „Baseballschlägerjahre“ herrschten. Dass Neonazis Landstriche kontrollierten und terrorisierten. Öffentlich wurde dies erst durch die Erzählungen zahlreicher Betroffener und durch Journalist*innen, die all diese Geschichten, mit Redigat und Einordnung versehen, publizierten und in einen sinnvollen Zusammenhang zur Nachwendezeit setzten.

Zu guter Letzt bedarf es einer spürbaren journalistischen Vielfalt, um die eigene redaktionelle Arbeit kritisch zu reflektieren und andere Meinungen, Schwerpunkte und Perspektiven in der Redaktion zu etablieren. Noch immer hat nur schätzungsweise jeder 20. Journalist eine Zuwanderungsgeschichte. Noch immer sind arme Menschen in den Redaktionen unterrepräsentiert. Um vernünftig, sinnvoll und klug über Muslim*innen und Zuwanderer*innen zu schreiben, bedarf es auch Journalisten, die das Leben dieser Menschen aus der Binnenperspektive kennen. Die mit einem Blick auf die Titelgeschichten der vergangenen Jahre feststellen, wo Unschärfen und Schieflagen bestehen. 

Helmut Markwort warb für den Focus seinerzeit nicht nur mit „Fakten, Fakten, Fakten“, sondern beendete seinen Werbespruch auch mit den Worten „und an die Leser denken!“. Bei aller Meinungsverschiedenheit: Mindestens in diesem Punkt hat er recht. Wer in der Lage ist, seine Leserschaft divers zu denken und sich vorzustellen, dass auch 16-jährige pubertäre Teenager mit Zuwanderungsgeschichte aus Wuppertal die eigene Publikation lesen, hat zumindest eine Vorstellung davon, warum es wichtig ist, ausgewogen, differenziert, sorgfältig und verantwortungsvoll zu berichten. Der mag begreifen, warum es zur journalistischen Verantwortung und zum demokratischen Auftrag gehört, auch diese Menschen zu erreichen.

Der Spiegel hat in seiner jüngsten Ausgabe übrigens zwei Gastarbeiterkinder auf die Titelseite gehoben. Zwei muslimische Deutsche, die den Corona-Impfstoff entwickelt und damit möglicherweise Geschichte geschrieben haben. Es ist ein wunderbares Bild, das Hoffnung und Zuversicht ausstrahlt. Ich habe an diesem Tag dieses feuerrote Magazin mit besonderem Stolz mit mir herumgetragen.

Stephan Anpalagan ist Diplom-Theologe, Journalist, Unter­nehmensberater und Geschäftsführer der gemeinnützigen Beratungsorganisation „Demokratie in Arbeit“.  

Bisher erschienen:

Teil 1: Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed Deutschland

Teil 2: Carline Mohr, Social-Media-Expertin

Teil 3: Georg Mascolo, Leiter des WDR/NDR/SZ-Rechercheverbunds

Teil 4: Hannah Suppa, Chefredakteurin Märkische Allgemeine

Teil 5: Florian Harms, Chefredakteur von t-online.de

Teil 6: Georg Löwisch, taz-Chefredakteur

Teil 7: Stephan Weichert, Medienwissenschaftler

Teil 8: Julia Bönisch, Chefredakteurin von sz.de

Teil 9: Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin

Teil 10: Barbara Hans, Spiegel-Chefredakteurin

Teil 11: Sascha Borowski, Digitalleiter Augsburger Allgemeine

Teil 12: Richard Gutjahr, freier Journalist, Start-up-Gründer und -Berater

Teil 13: Benjamin Piel, Chefredakteur Mindener Tageblatt

Teil 14: Josef Zens, Deutsches GeoForschungsZentrum

Teil 15: Christian Lindner, Berater "für Medien und öffentliches Wirken"

Teil 16: Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtjournalistin

Teil 17: Carsten Fiedler, Chefredakteur Kölner Stadt-Anzeiger

Teil 18: Stella Männer, freie Journalistin

Teil 19: Ingrid Brodnig, Journalistin und Buchautorin

Teil 20: Sophie Burkhardt, Funk-Programmgeschäftsführerin

Teil 21: Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin, Filmemacherin, Journalistin

Teil 22: Tanja Krämer, Wissenschaftsjournalistin

Teil 23: Marianna Deinyan, freie Journalistin und Radiomoderatorin

Teil 24: Alexandra Borchardt, Journalistin und Dozentin

Teil 25: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 26: Jamila (KI) und Jakob Vicari (Journalist)

Teil 27: Peter Turi: Verleger und Clubchef

Teil 28: Verena Lammert, Erfinderin von @maedelsabende

Teil 29: Anna Paarmann, Digital-Koordinatorin bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide

Teil 30: Wolfgang Blau, Reuters Institute for the Study of Journalism der Universitäte Oxford

Teil 31: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 32: Simone Jost-Westendorf, Leiterin Journalismus Lab/Landesanstalt für Medien NRW

Teil 33: Sebastian Dalkowski, freier Journalist in Mönchengladbach

Teil 34: Justus von Daniels und Olaya Argüeso, Correctiv-Chefredaktion

Teil 35: Benjamin Piel, Mindener Tageblatt

Teil 36: Joachim Braun, Ostfriesen-Zeitung

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