Essay

Lehren aus Chemnitz

01.10.2018

Die Rechercheergebnisse sind eindeutig: Es gab in Chemnitz rassistische und rechtsextreme Gewalt, NS-Parolen sowie einen Schulterschluss von AfD, Neonazis und Mitläufern. Die Macht über die Straße wurde phasenweise einem rechten Mob überlassen. Reporter haben einerseits mutig und präzise berichtet, andererseits haben sich viele Medien aber auch an der Scheindebatte um „Hetzjagden“ beteiligt. Künftig braucht es nicht nur die mutigen Faktenlieferanten vor Ort, sondern auch bessere redaktionelle Analyse, größere Vorsicht bei politischer Meinungsmache – und einen wirksamen Polizeischutz für Journalisten. Von Michael Kraske

Und dann ging es nur noch um den Begriff Hetzjagd. „Der fatale Effekt der Debatte war, dass sich fortan alles um Worte drehte, nicht mehr um Rassismus und rechte Gewalttaten“, schreibt journalist-Autor Michael Kraske (PA/DPA/Jan Woitas)


Im Englischen gibt es eine Redewendung: The elephant in the room. Damit ist eine Offensichtlichkeit gemeint, die jeder sieht, aber keiner anspricht. Ein Elefant im Raum eben. Genau dazu wurde, was in Chemnitz nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. geschah. Obwohl es eindeutige Bilder und Berichte gab, ging es irgendwann nicht mehr um rassistische Gewalt und rechtsextreme Mobilisierung, sondern nur noch um die Frage: Gab es Hetzjagden? Chemnitz steht nicht nur für staatlichen Kontrollverlust, sondern auch für einen publizistischen.

Der begann, als der oberste Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen zur Affäre wurde. Deren politsche Erschütterungen drohen vergessen zu machen, was in Chemnitz geschah. Der Mopo-Ableger Tag 24 hatte fälschlicherweise berichtet, dem Tod von Daniel H. sei die Belästigung einer Frau vorausgegangen. Obwohl die Polizei das früh richtigstellte, hatte die Ultra- Gruppierung „Kaotic Chemnitz“ am 26. August mobilisiert: Um zu zeigen, „wer in der Stadt das Sagen hat“. Mehrere Hundert Menschen zogen an diesem Sonntag durch die Straßen, darunter laut Polizei auch etwa 50 Gewaltbereite, die den Ton angaben. Man rief Parolen wie „Raus aus unserer Stadt“. Eine Polizeikette wurde durchbrochen, Menschen wurden aufgrund ihres Aussehens beleidigt, geschlagen, getreten. Der freie Journalist Johannes Grunert schrieb auf Zeit Online: „Teilnehmer des rechten Aufmarsches traten auf mehrere Personen ein.“ Und: „Währenddessen liefen andere Protestierende auf einem gegenüberliegenden Parkplatz weiteren Menschen hinterher.“ Was er beschreibt, ist eine rassistisch motivierte Menschenjagd.

Vom gleichen Tag ist das mittlerweile berühmte „Hase“-Video: Ein Mann jagt kurz einem Flüchtenden hinterher und versucht, diesen zu treten. Stimmen auf dem Video belegen aggressiven Rassismus: „Was ist denn, ihr Kanaken?“ Und: „Da könnt ihr rennen, ihr Fotzen!“ Und: „Ihr seid nicht willkommen!“ Eine Frauenstimme, offenbar an ihren Begleiter gerichtet: „Hase, du bleibst hier.“ Einen Tag später, am 27. August, demonstrieren mit dem rechten Bündnis „Pro Chemnitz“ auch etliche radikalisierte Bürger mit Neonazis und Hooligans aus ganz Deutschland. Demonstranten zeigen den sogenannten Hitler-Gruß oder skandieren rechtsextreme Parolen: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“, „Frei, sozial und national“ und „Widerstand“. Eine syrische Flüchtlingsfamilie filmt aus dem Fenster ihrer Wohnung, wie Männer rufen: „Wir sind die Fans. Adolf Hitler. Hooligans.“ Ein Demonstrant deutet mit der Hand einen Schnitt durch den Hals an. Später wird der sächsische Ministerpräsident sagen: „Es gab keinen Mob.“ Vermummte Neonazis greifen Gegendemonstranten sowie ein jüdisches Restaurant (Schalom) mit Steinen an und beleidigen den Inhaber als „Judensau“. Ein schwerer Stein verletzt den Gastronom an der Schulter. Die Polizei bestätigt später allein für die ersten beiden Tage rechtsextremer Mobilisierung fast 140 Ermittlungsverfahren. Über den Angriff auf das Schalom informiert sie die Öffentlichkeit jedoch nicht.

Jagdszene oder Menschenjagd?

Am folgenden Samstag vollziehen AfD, Pegida, gewalttätige Neonazis und Hooligans den Schulterschluss bei einem sogenannten „Trauermarsch“. Wieder schließen sich etliche Bürger an. Wieder werden abends Gegendemonstranten und auch Journalisten angegriffen, darunter eine Reporterin von Stern TV und ein Team des ARD-Magazins Monitor. Journalisten berichten in Chemnitz von Beginn an – und werden dafür bedroht, gejagt und angegriffen. Regionale und überregionale Reporter berichten, wie AfD-Politiker mit Pegida und bundesweit bekannten Neonazis demonstrieren. Wie rechtsextreme Hooligans zuschlagen. „Wenn Rechte nach der Macht greifen“, titelt der Spiegel.

Reporter berichten, wie gereizt die Stimmung in der Stadt ist. Wie aufgewühlt viele Bürger vom gewaltsamen Tod ihres Mitbürgers sind – und wie sie sich von den Medien pauschal angeprangert fühlen. Immer wieder bekommen Reporter aber auch abstruse Fakenews über angebliche Greueltaten von Migranten zu hören. Und die Schmähung: „Lügenpresse“. Und dann geht es plötzlich nur noch um ein Wort: „Hetzjagd“. Der Chefredakteur der Chemnitzer Freien Presse, Thomas Kleditzsch, hatte begründet, warum sein Blatt den Begriff nicht verwendet. Zwar habe es tatsächlich Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten gegeben. Den Opfern sei jedoch nur „über kurze Distanz nachgestellt“ worden. Das rechtfertige allenfalls den Begriff „Jagdszene“. Was als Versuch größerer Genauigkeit gemeint war, eröffnete eine groteske Diskussion darüber, wie viele Meter und Minuten ein Opfer eigentlich verfolgt werden muss, damit es eine „Hetzjagd“ ist. Die von Kleditzsch vorgeschlagene „Jagdszene“ klingt mehr nach feudaler Zerstreuung als nach gewalttätigem Angriff. Treffend wäre: Menschenjagd. Wichtiger wäre gewesen, Ursachen, Mechanismen und Akteure der rechten Eskalation genauer zu analysieren.

Der fatale Effekt der Debatte war jedenfalls, dass sich fortan alles um Worte drehte, nicht mehr um Rassismus und rechte Gewalttaten. Wie seinerzeit in Mügeln. Als Angreifer versuchten, gewaltsam in die Pizzeria einzudringen, in die sich verletzte Inder verschanzt hatten. Die Richterin sprach seinerzeit davon, dem Einsatz eines einzigen mutigen Polizisten sei es zu verdanken, dass Mügeln kein Pogrom erlebt habe. Damals sagte der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt, CDU, es habe in Mügeln keine Hetzjagd, sondern eine Hetzjagd auf Mügeln und die Mügelner gegeben. Verdrängte Geschichte kann sich leicht wiederholen. Diesmal also Chemnitz.

Mehr als eine Woche nach den Ausschreitungen löste der inzwischen abberufene oberste Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen mit seinen Aussagen in der Bild-Zeitung erst eine Kontroverse, dann eine Regierungskrise aus. Er hatte nicht nur ohne jeden Beleg angedeutet, ein nicht näher benanntes Video könnte eine Fälschung sein. Er behauptete auch, es sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“. Das ähnelte in Inhalt und Ton einer rechten Verschwörungstheorie. Gezielte Falschinformation? Um abzulenken? Von einem Mord? Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Totschlags.

Der Umgang mit der Causa Maaßen ist vorbildlicher Journalismus. Einerseits. Andererseits ist es die Geschichte medialer Orientierungslosigkeit. Denn diverse Redaktionen entlarvten zwar mit akribischer Recherche Maaßens Anspielungen als sachlich abwegig. Aber sie ließen sich ablenken: Maaßen schaffte es als oberster Verfassungsschützer, dass rassistische Mobilisierung und rechtsextreme Straftaten aus dem Blick gerieten. Die meisten Redaktionen konzentrierten sich stattdessen auf das „Hase“-Video und auf Maaßen. Nur wenige kritisierten, dass dieser zu seiner Rechtfertigung angesichts eines rechtsextremen Fanals ausgerechnet vor linker Desinformation warnte. Der stellvertretende ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen wurde bei aller geäußerten Kritik nicht müde, Maaßens Verdienste zu loben.

„Wie die rennen, die Zecken“

Auf der Suche nach einem Motiv für dessen krude Aussagen zitiert der Spiegel aus dessen Doktorarbeit zur „Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht“: „Das, was Asylrecht in Europa heute kennzeichnet, ist sein Missbrauch“. Der Behördenchef sei beim Ausländerrecht schon immer ein Hardliner gewesen. Der Tagesspiegel entdeckte im eigenen Archiv einen Artikel, der Rückschlüsse auf Maaßens Weltbild zulässt: In einem Aufsatz hatte er eingebürgerte Menschen vor Jahren als „nominell deutsche Staatsangehörige“ bezeichnet. Dass der deutsche Pass nicht reiche, um deutsch zu sein, ist ein Glaubenssatz der radikalen Rechten bis hin zur NPD.

Solche Bezüge aufzuzeigen scheuten indes viele Kommentatoren von Süddeutscher Zeitung bis ZDF. Die deutlichsten Worte fand denn auch kein Journalist, sondern der ehemalige Bundesrichter und Kolumnist Thomas Fischer auf Spiegel Online. Er wies darauf hin, dass Garderobe und Examensnote des Spitzenbeamten in dieser Affäre egal seien: „Wichtig ist allein, dass er objektiv das Geschäft der Verfassungs- und Menschenfeinde betreibt.“ Auffällig ist, dass Journalisten in der Affäre das eigene Langzeitgedächtnis ausblendeten. So blieb außen vor, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) unter Maaßen nichts dazu beigetragen hatte, die eigene Rolle im NSU-Komplex vollständig aufzuklären. Gleiches gilt für die Vernichtung von NSU-Akten in der Behörde.

Nach den umstrittenen Bild- Aussagen liefen Journalisten gleichwohl innerhalb von Stunden zur Bestform auf. Allen voran räumten Lars Wienand, Recherchechef bei T-Online News, und Patrick Gensing im Tagesschau Faktenfinder überzeugend die gesäten Zweifel an der Echtheit des sogenannten „Hase-Videos“ aus. Andere zogen nach, verglichen Schattenstände jenes Tages und wiesen nach, dass sich der Angriff tatsächlich an der Chemnitzer Bahnhofstraße ereignet hatte. Reporter fanden und interviewten auch das Opfer: Alihassan S. Maaßen bestritt später, überhaupt angedeutet zu haben, das Video sei eine Fälschung.

Quälend lange drehte sich medial alles um den Begriff „Hetzjagd“ und Maaßens verstörende Besessenheit vom Video des Nutzers „Antifa Zeckenbiss“. Dass letztlich überhaupt nicht wichtig war, wer das Video eingestellt hatte, sondern dass es nur ein authentischer Beleg unter vielen war, geriet außer Acht. Auch, dass der Ausschnitt genau das zeigte, was Maaßen bestritt: eine Menschenjagd nämlich. Darüber hinaus gibt es diverse weitere Belege dafür, dass in Chemnitz Menschen gejagt wurden. In einem anderen Video, das den Protestzug an jenem Augustsonntag zeigt, ruft plötzlich eine Männerstimme: „Zecken!“ Daraufhin rennen mehrere Personen los. Eine Frauenstimme kommentiert: „Wie die rennen, die Zecken. Das gibt‘s ja nicht.“ „Zecken“ ist unter Rechten eine gängige Schmähung für Linke. Antonie Rietzschel hat diese Video-Sequenz auf sueddeutsche.de beschrieben.

Deutungsschlacht

André Löscher ist Sozialarbeiter des Vereins RAA Sachsen und berät Opfer rechter Gewalt. Er bestätigt, dass an jenem Sonntag beispielsweise am Stadthallenpark Migranten verfolgt wurden. Eine Person habe es nicht geschafft, zu entkommen und sei dort geschlagen worden: „Menschen wurden geschlagen und getreten. Letztlich ist völlig egal, ob und wie lange sie vorher weglaufen mussten.“ Die Opferberater registrierten allein für diesen Sonntag sechs rassistisch motivierte Angriffe, darunter fünf Körperverletzungen - wobei sich viele Opfer oft erst später oder gar nicht melden. Am folgenden Tag bestätigte die Polizeipräsidentin bereits drei Strafanzeigen. Alle Fakten waren da: Augenzeugen, Anzeigen, Opfer-Aussagen, Videos. Doch statt den gewalttätigen Rassismus klar zu benennen und die verängstigten Opfer zu zeigen wie das MDR-Format Exakt, verzettelte sich die Tagespresse in diskursivem Kleinklein. Die akribische Recherche der Reporter vor Ort zerfaserte redaktionell zur Wortklauberei. Auch Leitmedien gaben das Narrativ eines gewalttätigen Rechtsextremismus aus der Hand.

So hat zwar die Zeit treffenderweise von einer „Deutungsschlacht“ um Chemnitz gesprochen – gleichzeitig aber selbst gefragt: Gab es eine Hetzjagd? Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) nannte Rechtsextremismus zwar die größte Gefahr für die Demokratie. Rechtsradikalen Pressefeinden, die bestreiten, dass es in Chemnitz überhaupt zu rechten Straftaten kam, lieferte er aber mit seiner Regierungserklärung selbst den passenden Slogan: „Es gab keinen Mob. Es gab keine Hetzjagd. Es gab keine Pogrome in Chemnitz.“ Auch im journalist-Interview nimmt er diese Aussagen nicht zurück. Und bleibt auch dabei, dass in Chemnitz zwar hier und da mehr Polizei sinnvoll gewesen wäre, Sicherheit und Ordnung seien aber gewährleistet, das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt worden.

Der journalist hat mit vielen Reportern gesprochen, die in jenen Tagen vor Ort waren. Ihre Aussagen widersprechen eklatant denen des Ministerpräsidenten. Vielmehr sprechen die Darstellungen der Reporter dafür, dass die Polizei rechten Gewaltstraftätern phasenweise die Macht auf der Straße überließ und das staatliche Gewaltmonopol partiell preisgab. Ihre Erlebnisse zeigen zudem, dass es rechtsextremen Pressefeinden möglich war, immer wieder freie Berichterstattung gewaltsam zu verhindern.

Platzwunden

Der freie Journalist Henrik Merker, der neben Zeit-Störungsmelder auch für den MDR arbeitet, berichtet regelmäßig von rechten Kundgebungen. Immer wieder wird er dabei angefeindet. In Chemnitz sei es aber gefährlicher gewesen als üblich: „Ich habe eine Flasche gegen den Kopf abbekommen, als Rechte losstürmten und versuchten, die Polizeikette zu durchbrechen.“ Das war bei der Demo am Montag, den 27. August. Merker widerspricht dem sächsischen Ministerpräsidenten, wonach dieser Einsatz Sicherheit garantiert habe: „Man hätte am Vortag bei Facebook und Twitter nachlesen können, wie Rechtsextremisten bundesweit mobilisieren. Die Aussage, man habe die Lage unter Kontrolle gehabt, entspricht überhaupt nicht meiner Wahrnehmung.“

Etliche Journalisten hätten sogar ihre Arbeit abbrechen müssen, weil sie eben nicht mehr sicher waren: „Aus dem Zug heraus wurden mehrfach Kamerateams angegriffen. Die hatten zwar Security dabei, aber auch die wurden attackiert. An vielen Straßenecken lauerten rechte Gruppen potenziellen Opfern auf. Ich habe einige Kollegen mit Platzwunden gesehen.“ Es seien in gefährlicher Weise viel zu wenig Polizeikräfte vor Ort gewesen. Überall habe es zwischen den Demo-Zügen große Lücken gegeben. Die Lage habe er als „durchweg unkontrolliert und gefährlich“ erlebt, so Merker. Diesen Eindruck bestätigt auch Süddeutsche- Mitarbeiterin Antonie Rietzschel. Die Polizei sei eben nicht jederzeit Herr der Lage gewesen: „Als Journalistin konnte ich mich nicht darauf verlassen, dass meine Arbeit jederzeit zuverlässig abgesichert wird.“

Auch Raphael Thelen von der Agentur Zeitenspiegel, der unter anderem für Spiegel Online arbeitet, übt scharfe Kritik: „Die Polizei hat die gewalttätigen Nazis gewähren lassen. Die konnten machen, was sie wollten.“ Thelen beobachtete, wie eine rechte Kampfgruppe plötzlich eine Treppe hochrannte. Oben hätte ein Täter dann einen Gegendemonstranten von der Ballustrade gezerrt und geschlagen: „Dann kamen vier Polizisten und drängten die Schläger wieder die Treppe runter. Es erfolgte aber kein Zugriff. Die Täter durften sich einfach wieder in die Demo einreihen.“ Auch Thelen geriet nach eigenen Aussagen in Gefahr: Einmal habe er hinter einer Polizeikette gestanden und mehrfach seinen Presseausweis gezeigt. Dennoch habe ihn ein Beamter schließlich in die Gruppe der gewaltbereiten Rechtsextremisten geschoben. „Ich bin nur noch gerannt, bis ich mich hinter die nächste Polizeikette retten konnte“, so Thelen.

So waren an diesem Tag die Arbeitsbedingungen für Journalisten Freie Berichterstattung? Unmöglich. Die Berichte der Reporter sprechen dafür, dass das staatliche Gewaltmonopol in Chemnitz preisgegeben wurde. Rechtsextreme Straftäter hatten mancherorts zeitweilig die Kontrolle über die Straße. 600 Polizisten gegen mehr als 6.000 rechte Demonstranten, darunter viele gewaltbereite Hooligans. Das war in etwa das Kräfteverhältnis, obwohl diverse Beobachter am Montag vor der bundesweiten rechtsextremen Mobilisierung gewarnt hatten. Laut niedersächsischem Innenministerium hatte Sachsen sogar die angebotene Polizeihilfe abgelehnt.

Hooligans jagten Journalisten

Eine Woche später, am Samstag, den 1. September, hatte die Polizei dann deutlich mehr Kräfte aufgeboten. An diesem Tag kam es auf dem sogenannten Trauermarsch zum Schulterschluss von AfD, Pegida, Neonazis und Hooligans. Als sich die Demos von „Pro Chemnitz“ und AfD vereinigten, waren neben vielen jungen Männern in szenetypischer Kleidung auch wieder etliche unauffällige Bürger zu sehen, die sich hinter Deutschlandfahnen und „Lügenpresse“-Rufen versammelten. Am Abend kam es erneut zu massiver rechter Gewalt. Arndt Ginzel, der auch für Frontal 21 arbeitet, hatte erneut den Eindruck, dass die Polizei angesichts der gewalterfahrenen Rechtsextremisten überfordert ist: „Zwar wurden immer wieder auch gewalttätige Personen rausgezogen, aber unter Kollegen war schnell klar: Es ist wieder genauso gefährlich.“ Auch sein Team habe mehrmals flüchten müssen: „Vorne lief die AfD. Weiter hinten in den Seitenstraßen jagten organisierte Hooligans alle möglichen Leute, darunter viele Journalisten.“

Ginzel und Frontal 21 haben enthüllt, dass die Polizei über das Ausmaß der rechtsextremen Ausschreitungen früh im Bild war: Das ZDF-Magazin zitiert aus einem sogenannten internen Lagefilm: Da ist von vermummten Rechten die Rede, die sich mit Steinen bewaffnen, Ausländer suchen und ein jüdisches Restaurant überfallen. Die investigative Recherche zeigt, dass der sächsische Ministerpräsident verharmlost, was wirklich geschah. Offiziell griff der Rechtssaat in Chemnitz durch. Tatsächlich ließ man Neonazis offenbar vielfach gewähren. Die Videosequenz eines Journalisten zeigt, wie ein aggressiver rechter Demonstrant mit erhobenen Armen die Beamten einer Polizeikette provozieret und immer wieder zurückgeschubst wird. Auch als ein Mann einem Polizisten mit der Faust aufs Visier schlägt, erfolgt kein Zugriff. Redaktionen müssen dieses gefährliche Zurückweichen des Rechtsstaates als das bezeichnen, was es ist: ein Skandal.

Dafür braucht es Reporter wie Arndt Ginzel, die nah ran gehen, auch wenn es gefährlich wird. Ginzel war es auch, der vor Chemnitz die Behinderung seines Frontal-21-Drehteams in Dresden öffentlich gemacht hatte. Der Fall des pöbelnden Pegida-Anhängers, der sich als LKA-Mitarbeiter herausstellte, und die Reaktionen der Polizeibeamten lösten eine bundesweite Debatte über bedrohte Pressefreiheit aus. Ginzel kritisiert, dass offiziell weiter an einer falschen Darstellung der Ereignisse in Dresden festgehalten werde. Nicht er, sondern die Polizei habe zu verantworten, dass sein Team fast 45 Minuten nicht arbeiten konnte. Auch nach einem klärenden Gespräch des Dresdner Polizeipräsidenten mit dem ZDF gibt es keinen Konsens. Im journalist- Interview hat Ministerpräsident Kretschmer seine via Twitter erhobene Andeutung, Ginzel sei unseriös aufgetreten, nicht zurückgenommen.

Rechter Schulterschluss

Der Fall steht beispielhaft für ein ungelöstes Problem. Rechte Demonstranten, Ordner und Anwälte versuchen systematisch, freie Berichterstattung zu behindern. Und fühlen sich ermutigt, weil es immer wieder Polizisten gibt, die das nicht unterbinden oder sich gar „zu Gehilfen der Demonstranten von Pegida und AfD machen“, wie Ginzel im journalist-Interview kritisiert. Der sächsische Ministerpräsident bekennt sich zwar allgemein zur Pressefreiheit und kündigt „Nulltoleranz“ bei Gewalt gegen Journalisten an. Wo es aber wie im Fall Dresden konkret wird, bezieht er nicht eindeutig Stellung und bestärkt sogar noch pressefeindliche Ressentiments. Er wird sich an seinem Versprechen der „Nulltoleranz“ messen lassen müssen.

Auf Chemnitz folgte Köthen. Ein 22-jähriger Deutscher war nach einem Streit mit zwei Afghanen an Herzversagen gestorben. Wieder mobilisierte die rechtsextreme Szene. Taz-Reporter Martin Kaul konnte zeigen, dass bei einer vermeintlichen Trauerveranstaltung rechtsextreme Hetze verbreitet wurde. Thügida-Chef David Köckert sprach vom „Rassenkrieg gegen das deutsche Volk“. Kaul zeigt, wie wichtig authentische, vor Ort gewonnene Informationen sind. Er selbst wurde bei seiner Arbeit in Köthen massiv bedrängt. Bei Live-Schalten des ZDF und anderen Medien war hingegen nur davon die Rede, in Köthen sei es weitgehend ruhig geblieben.

Oft fehlt zudem eine korrekte redaktionelle Einordnung. In etlichen Berichten über Chemnitz und Köthen wurde vermittelt, es ginge um rechts gegen links. Wenn Rechtsextremisten in Köthen versuchen, Gegendemonstranten anzugreifen, ist das kein „Zusammenstoß“, wie die Mitteldeutsche Zeitung twitterte. Auch ist nicht automatisch links, wer gegen Rechtsextremismus demonstriert.

Wichtig ist zu verstehen, dass die rechtsextreme Szene offenkundig Gewaltstraftaten von Flüchtlingen und Migranten bewusst instrumentalisiert, um zu mobilisieren. Das ist nicht neu. Auch die NPD hat das immer wieder versucht. Neu ist, dass es in Chemnitz gelungen ist, rassistische Gewalt gegen Minderheiten als verständliche Wut in der Bevölkerung erscheinen zu lassen. Also das klassische Sündenbock-Motiv wiederzubeleben. Und ein zweites Tabu fiel in Chemnitz: Es ist offenbar nicht mehr verpönt, Seite an Seite mit Neonazis mitzulaufen. Dieser Schulterschluss von Bürgern mit Rechtsextremisten, der bei sächsischen Anti-Asylkundgebungen und Pegida eingeübt wurde, hat sich in Chemnitz verfestigt. Solche Bündnisse sichtbar zu machen, ist die Aufgabe von Journalisten.

Die sind mehr denn je gefragt, diese gefährlichen Entwicklungen differenziert, aber auch schonungslos darzustellen. Wer sich Neonazis anschließt, ist ein Mitläufer. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Trotz grandioser Rechercheleistungen ist es in Bezug auf Chemnitz nur bedingt gelungen, politischen Schönfärbungen und interessengeleiteter Meinungsmache ein stimmiges Gesamtbild entgegenzusetzen. Rassismus muss so genannt werden, auch wenn das Rassisten empört. Natürlich gehört zu einem umfassenden Bild auch die Empörung vieler Bürger über Gewaltstraftaten von Migranten. Aber eben auch, wie im Internet mit Fake News gezielt Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht wird. Arndt Ginzel hat in Chemnitz recherchiert, wie das gesellschaftliche Klima mit gezielten Falschmeldungen vergiftet wurde.

Nicht hinnehmen

Redaktionen müssen sich trauen, Gewalt gegen Journalisten als Angriffe auf die Demokratie darzustellen. Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, hat die Polizeibehörden ermahnt, Reporter besser zu schützen. Anfeindungen und Gewalt gegen Journalisten nehmen drastisch zu. Lange hat man der Enthemmung tatenlos zugesehen. Es ist zu befürchten, dass Chemnitz und Köthen nur der Anfang einer rechtsextremen Mobilisierung ist mit dem Ziel, das Land zu destabilisieren.

Bei allem Bemühen, die Motive von Mitläufern zu verstehen, dürfen Journalisten nicht vergessen, die Geschichten von Flüchtlingsfamilien und Austauschstudenten zu erzählen, die sich nicht mehr auf die Straße trauen. Als alle längst über Regierungskrise und Maaßens Strafbeförderung diskutierten, gab es Meldungen über neue Gewalt in Chemnitz. Eine selbsternannte Bürgerwehr hatte demnach auf der Schlossteichinsel eine Gruppe von Deutschen und Ausländern zunächst rassistisch beleidigt. Ein Iraner wurde von einem der Angreifer verletzt. Einige Tage zuvor hatten Zeugen gemeldet, wie vier Unbekannte auf einen am Boden liegenden Tunesier einprügelt hatten. Journalisten dürfen das nicht als neue deutsche Normalität hinnehmen.


Michael Kraske ist freier Journalist und Buchautor in Leipzig.

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