Die Jagd nach dem neuesten KI-Gadget hilft uns nicht weiter

,,Nicht jede Innovation ist auch tatsächlich ein Fortschritt", sagt Medienexperte Johannes Klingebiel. Foto: Media Lab Bayern
Welche Tools werden sich durchsetzen? In unserer Serie „Mein Blick“ erklärt Medienexperte Johannes Klingebiel, warum technischer Fortschritt nicht immer einem vorgegebenen Muster folgt und Journalismus kein passiver Mitläufer sein sollte.
Text: Johannes Klingebiel
29.07.2025
Kaum ein Zukunftsbericht über Medien kommt heute ohne Schlagworte wie „Künstliche Intelligenz“, „personalisierte Inhalte“ oder „neue Benutzeroberflächen“ aus. Diese Fixierung folgt einem Denkfehler: Dass Technologie die treibende Kraft hinter gesellschaftlichen Phänomenen ist und dass sie unausweichliche Entwicklungen mit sich bringt. Unabhängig davon, wie Menschen sie einsetzen oder mit welchen Interessen. Das nennt man Technikdeterminismus. Die Realität sieht jedoch anders aus, denn Menschen eignen sich Technologie auf eigenwillige Weise an: widersprüchlich, kreativ und selektiv. Sie nutzen Werkzeuge anders als vorgesehen, ignorieren Funktionen oder unterlaufen die Logik von Benutzeroberflächen.
Das ist kein mechanischer Vorgang, sondern ein sozialer Aushandlungsprozess. Einige prominente Speaker sprechen von der weiten Verbreitung von KI-Werkzeugen. Und verschweigen dabei, dass diese oft unregelmäßig und punktuell zum Einsatz kommen und die tatsächliche Nutzung im Arbeitsalltag eher gering ist. Außerdem ist Technologie nicht neutral. Sie kann bestehende Machtverhältnisse festigen oder Ungleichheiten verstärken – vor allem, wenn niemand sie kritisch hinterfragt. Wenn die Medienindustrie das nicht tut, läuft sie Gefahr, mit dem Einsatz von KI am Ende nur das Spiel der Tech-Industrie mitzuspielen.
Technik ist Software, aber auch Erzählung
Denn Technologie besteht nicht nur aus Codes und Servern. Es gibt immer zwei Seiten: das reale System aus Programmierung, Hardware und menschlichem Know-how und das Bild, das wir uns davon machen. Letzteres wird oft von Werbung, Wunschdenken oder den Interessen der Investoren beeinflusst. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert häufig diese zweite Ebene, die Fantasie von Technologie. Demos werden zu Beweisen und Produktversprechen zu Prognosen. Was wie eine nüchterne Zukunftsanalyse aussieht, ist oft verpackte PR.
Besonders deutlich wird dieses Problem bei der aktuellen Begeisterung für KI: Sie wird zur singulären Technologie, zur ultimativen Lösung. Dabei ist der Begriff im besten Fall bloßes Branding für ein ganzes Genre sehr unterschiedlicher Systeme und algorithmischer Methoden. Hürden wie Halluzinationen oder Bias finden im Diskurs zwar statt, werden aber im schlimmsten Fall als „Kinderkrankheiten“ betrachtet, statt als strukturelle Herausforderungen oder gar als harte Limitierung. Demokratische Prinzipien wie Transparenz und Rechenschaft geraten dabei ins Hintertreffen zugunsten des (unvermeidlichen) Fortschritts. Angebliche Effizienzgewinne überprüft kaum jemand, sie werden aber umso lauter betont.
Viel Beschwörung, zu wenig kritischer Blick
Schon in den 1990er Jahren schrieb der Historiker David Noble erstaunt, dass viele Unternehmen ihre Prozesse nicht automatisieren, weil es tatsächlich sinnvoll ist, sondern aus Angst, den Anschluss zu verlieren. Diese Dynamik gilt heute wieder – laut einer IBM-Studie geben 64 Prozent der Führungskräfte an, dass sie in KI vor allem aus FOMO (Fear of Missing Out) investierten, nicht wegen konkreter Vorteile.
Kurz gesagt: Viele verstehen KI weniger als konkrete Technologie, sondern als Symbol für Fortschritt. Als etwas, mit dem man sich beschäftigen muss. Wobei sie die Antwort auf das „Warum?” auf eine nicht näher definierte Zukunft verschieben. Warum wird KI für die Medienbranche so stark zur Projektionsfläche? Ein Grund dafür mag in einem tief verankerten Selbstbild liegen, einem Mythos, die letzten großen Innovationen „verpasst” zu haben. Allerdings hält dieses Narrativ einer genaueren Betrachtung kaum stand. Der Journalismus war nie technikfeindlich, höchstens strategisch konservativ. Ob Drucktechnik, Radio, Fernsehen oder Internet – er hat sich immer wieder angepasst, transformiert und neu erfunden. Zeitungen waren online und haben mit Paywalls und digitalen Anzeigensystemen experimentiert, bevor Google eine einzige Zeile Code geschrieben hat. Journalist:innen waren mit großer Reichweite auf sozialen Medien aktiv, lange bevor jemand den Begriff „Influencer” in den Mund nahm.
„Laut einer IBM-Studie geben _ Prozent der Führungskräfte an, dass sie in KI vor allem aus FOMO (Fear of Missing Out) investierten, nicht wegen konkreter Vorteile.“
Journalismus geht sich selbst in die Falle
Es lag nicht am Unwillen zur Innovation, dass der Journalismus keinen größeren Einfluss auf die Entwicklung des Internets hatte. Das lag vielmehr an wirtschaftlichen Zwängen, dem Wunsch nach Schutz der eigenen Geschäftsmodelle und begrenzten Ressourcen. Und an der Tatsache, dass Tech-Firmen Märkte dominieren und zu ihren Gunsten verzerren können. Entscheidend sind nicht brillante Ideen oder cutting edge Technologien, sondern Kapital – und das wurde in Medienunternehmen oft falsch oder zu zögerlich eingesetzt.
Was sich in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt hat, ist ein Machtgefälle zwischen der Medienindustrie und Tech-Konzernen, welche zunehmend nicht nur die Distribution, sondern auch die Produktionsmittel des Journalismus kontrollieren. Nicht erst seit dem Pivot to Video ist klar: wenn Plattformen wie Google oder Facebook an ihren Algorithmen schrauben, fallen journalistische Inhalte hinten runter. Aus Desinteresse oder immer öfter aus offenem Antagonismus.
Was also fehlt, ist nicht die Bereitschaft zur Innovation. Es fehlt die Kontrolle über ihre Bedingungen. Zu oft bedeutet Innovation im Journalismus nur das Anpassen an fremde Vorgaben.
Die Realität schlägt zurück
Doch die Realität technischer Systeme lässt sich nicht dauerhaftignorieren. Sie meldet sich früher oder später zurück. Netzwerke müssen gewartet werden und Falschinformationen haben echte Folgen; Lizenzen und Serverkosten steigen. Was sich heute als effizient verkauft, kann morgen zur Last werden – technisch, wirtschaftlich und redaktionell. Die gesamte Industrie steht zudem in Verdacht, zutiefst unprofitabel zu sein, was Investoren abschreckt und das eigene Interesse fördert, möglichst tief in die Infrastruktur bestehender Tech-Lösungen eingebettet zu sein – im Zweifel auch mit falschen Versprechen und irreführendem Marketing.
Aber die Realität schlägt zurück. Technologien sind eingebettet in Netzwerke aus Menschen, Ressourcen und Interessen. Wer diese Realität ignoriert, wird von ihr früher oder später unangenehm überrascht. Eine technologische Revolution ist nur dann eine Revolution, wenn sie bestehende Machtstrukturen auf den Kopf stellt. Der Umgang mit KI wird aber stattdessen dazu führen, dass Google & Co. noch fester im Sattel sitzen als zuvor – da hilft auch kein Chat-Interface auf der eigenen Website.
Technologie im Dienst des Journalismus
Die Gefahr besteht darin, dass sich die Medienbranche aus Zukunftsangst und Gruppendenken erneut in Abhängigkeiten begibt. Das führt zu Investitionen aus Angst statt aus Überzeugung und zu einer Aufgabe redaktioneller Autonomie.
Deswegen müssen Redaktionen Technologien nicht nur einfach anwenden, sondern tatsächlich verstehen – technisch, ökonomisch und politisch. Nur so lässt sich einschätzen, was Werkzeug und was Trojanisches Pferd ist. Statt „coole neue Tools“ auszuprobieren, braucht es mehr Berichterstattung über Systeme, Macht und Infrastruktur. Es braucht mehr kritische Köpfe auf Bühnen, in Podcasts und Fachpublikationen – nicht immer die gleichen Experten, die allzu oft Vertreter der Tech-Branche selbst sind oder gut finanzierte Early Adopter, abseits des Redaktionsalltags. Es braucht kritische Distanz zum Marketing der Tech-Konzerne.
Die entscheidende Frage sollte nicht lauten: „Wo kann ich KI anwenden?”, sondern „Welche Probleme habe ich, für die spezifische Technologien eine mögliche Lösung bieten könnten?” Nicht: „Macht es mich effizienter?“, sondern: „Macht es besseren Journalismus möglich?“
Johannes Klingebiel ist Medienexperte beim Media Lab Bayern. Davor war er fünf Jahre als Designer und Researcher im Innovationsteam der Süddeutschen Zeitung tätig. Der 31-Jährige befasst sich mit den möglichen Zukünften von Nachrichtenmedien und ist Co-Host des Podcasts Hype Institut.
In unserer Serie „Mein Blick auf den Journalismus“ fragen wir kluge Köpfe der Branche, wie wir den Journalismus besser machen.
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