Kriegssommer 2025–Gedanken aus Kyjiw

Vassili Golod berichtet seit drei Jahren aus der Ukraine: „Bis zum Jahr 2022 konnte ich mir nur über Geschichtsbücher, Filme und durch Zeitzeugenberichte erschließen, was Krieg bedeutet. Heute bin ich selbst ein Chronist des Krieges.“ Foto: Annika Fußwinkel/WDR

Seit 2022 berichtet ARD-Korrespondent Vassili Golod aus der Ukraine, lebt mit Kolleginnen und Kollegen in Kyjiw. Er warnt: Die Berichterstattung über den Abnutzungskrieg darf nicht zu einer Abnutzung der journalistischen Qualität führen.

Text: Vassili Golod

22.07.2025

Keine Stadt in der Ukraine ist so gut geschützt wie Kyjiw. Und doch ist der Krieg in diesem Sommer in der ukrainischen Hauptstadt so nah wie lange nicht mehr.

Im vergangenen Jahr vertrauten die Menschen bei Luftalarmen und Explosionen auf den Schutz der Luftverteidigung, doch das Gefühl hat sich verändert. Die vielen Drohnen über ihren Häusern brummen wie fahrende Mopeds, Ziel unbekannt. Alle fragen sich: Könnte die nächste Drohne meine Wohnung treffen? Die brutale Antwort lautet: Ja. Auch mehr als 1.200 Tage nach Beginn des russischen Vernichtungskriegs gibt es in der Ukraine keinen sicheren Ort.

Russland kann die Ukraine in nur einer Nacht mit Hunderten Drohnen, Dutzenden Raketen und Marschflugkörpern angreifen. Die schiere Masse an Flugobjekten überlastet die Luftverteidigung.  Sie kann nicht alle abwehren. Die Flugkörper fliegen in Wohnhäuser, verletzen und töten viele Menschen – lassen Millionen Familien verzweifeln.

Und wir, die Journalistinnen und Journalisten? Deutschsprachige Nachrichtenmedien sind gut darin, diese Fakten abzubilden, die Zerstörung zu zeigen, die Emotionen einzufangen. Und doch nutzt sich all das in einer Nachrichtenflut voller hastig zusammengetragener Agenturmeldungen und Liveblog-Einträge ab.

Die bedrohlichen Drohnenschwärme bleiben für viele Menschen in Deutschland abstrakt, brennende Wohnhäuser sind weit weg, die Schicksale Zehntausender getöteter Soldatinnen und Zivilisten – ihrer Frauen, Männer und Kinder – werden zu trockenen Zahlen. Das ist keine Kritik, sondern Realität. Die eigentliche Kritik lautet: Wir Medien lassen diese Entwicklung zu. Indem wir in Nachrichtenroutinen verfallen. Indem wir austauschbare Beiträge produzieren. Indem wir wiederkäuen, statt einzuordnen.

 

Ein Krieg gegen Europa

Die Berichterstattung über den Abnutzungskrieg darf nicht zu einer Abnutzung der journalistischen Qualität führen. Was können wir besser machen? Erst zu den Fakten. Seit elfeinhalb Jahren herrscht Krieg in Europa. Ein Krieg, der vielen in unserer Gesellschaft erst vor dreieinhalb Jahren bewusst geworden ist. Russland hat im Februar 2014 die ukrainische Halbinsel Krim erst besetzt und dann völkerrechtswidrig annektiert. Russland hat im Osten der Ukraine einen Krieg entfacht. Mit eigenen Soldaten und Waffengewalt. Sie haben gelogen, getötet und weitere Gebiete besetzt.

Um das Nachbarland zu schwächen, zu spalten und dann zu kontrollieren. Russland will Europas Grenzen verschieben. Warum hatte das 2014 keine spürbaren Konsequenzen für Russland? Weil diese Frage nicht ausreichend diskutiert und analysiert wurde. Und deswegen besetzt Russland jetzt weitere Teile des ukrainischen Staatsgebiets und greift in diesen Minuten ukrainische Städte an.
 

Russland investiert Milliarden in Lügen. Wer an die Macht von Fakten glaubt, muss in Korrespondentinnen und Korrespondenten, in ihre Arbeit, investieren.“
 

Russland investiert Milliarden in Lügen

Wir müssen uns kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wer von der Sowjetunion spricht, denkt bis heute meistens an Russland. Aber wer denkt an Georgien, Belarus, Kasachstan oder die Ukraine? Das ist ein Erfolg russischer Propaganda. Denn wer in Deutschland die Sowjetunion nur mit Russland gleichsetzt, empfindet keine historische Verantwortung gegenüber dem heutigen ukrainischen Staat.

Ein besseres Verständnis von osteuropäischer Geschichte ist zentral für die Zukunft Europas. Aber Russland investiert Milliarden in Lügen. Wer an die Macht von Fakten glaubt, muss in Korrespondentinnen und Korrespondenten und ihre Arbeit investieren. Um unsere Gesellschaft und unsere Demokratie vor Lügen-Narrativen zu schützen. In seiner Annexionsrede 2014 hat Russlands Machthaber Wladimir Putin den klaren Völkerrechtsbruch auf Grundlage von Lügen und Falschinformationen legitimiert. Das russische Narrativ konnte sich auch deshalb durchsetzen, weil viele Medien diese Rede ohne Einordnung zusammenfassten.
 

„Bis zum Jahr 2022 konnte ich mir nur über Geschichtsbücher, Filme und durch Zeitzeugenberichte erschließen, was Krieg bedeutet. Heute bin ich selbst ein Chronist des Krieges.“

Sollten wir Putin einen Diktator nennen?

Putin sieht auch unsere Köpfe als Schlachtfeld, indem er mit Fälschungen und Lügen Stimmung für Russlands Narrative macht. Damit hat er oftmals Erfolg.Das liegt auch daran, dass wir die Wirklichkeit in unserer Sprache nicht präzise abbilden. Wir müssen Putins Narrativen recherchierte Fakten entgegensetzen. Ein Beispiel: Viele Medien nennen Russlands Machthaber Putin bis heute „Präsident”. Das ist ein Problem.

Die Faktenlage: Wladimir Putin ist Staatschef der Russischen Föderation. Unter seiner Führung werden Kritiker des Kreml-Regimes diskreditiert, Oppositionelle von Wahlen ausgeschlossen, verhaftet, vergiftet, ermordet. Der lange Arm des Kreml reicht bis ins Exil.

Putins Regime schlägt im eigenen Land Proteste mit Gewalt nieder, finanziert Terroristen im Ausland, führt Eroberungskriege, arbeitet eng mit anderen autokratischen Regimen zusammen. Außerdem hat Putin für seinen Machterhalt immer wieder gegen die Verfassung des Staates verstoßen. Spätestens seit der sogenannten Verfassungsreform 2020 und der sogenannten Präsidentschaftswahl 2024 kann von einer demokratisch legitimierten Präsidentschaft keine Rede mehr sein. „Der politische Kontext ist diktatorisch”, schreibt die Politikwissenschaftlerin und Russland-Expertin Sabine Fischer in einer Analyse für die Stiftung Wissenschaft und Politik. „Deutschland und Europa sollten klarstellen, dass diese Wahl nicht demokratisch ist und keine Legitimität besitzt.”
 

Sprache formt unser Verständnis von Realität

Wenn Medien „Präsident Putin” schreiben, setzen sie ihn sprachlich in eine Reihe mit Frankreichs Präsident Macron, Deutschlands Präsident Steinmeier, Österreichs Präsident Van der Bellen oder mit Mexikos Präsidentin Sheinbaum. Doch Putin gehört nicht in diese Aufzählung.

Sprache formt unser Verständnis von Realität. Und in der Realität steht Putin dem Machthaber in Belarus, Lukaschenko, und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un näher als demokratischen Staatschefs. Guter Journalismus lebt von präzisen Einordnungen durch die Verwendung korrekter Begriffe.

In seinem Buch „Wenn Russland gewinnt” schreibt Carlo Masala, Professor für Internationale Politik: „Viel zu lange und teilweise immer noch wurde und wird Putin nicht als das gesehen, was er ist: ein Diktator, für den Gewaltanwendung ein legitimes Instrument zur Durchsetzung dessen ist, was er für russische Interessen hält.”

Sollten wir Wladimir Putin also einen Diktator nennen? Etymologisch wäre das in seinem Fall sicherlich präziser als Präsident. Weitere Alternativen: Machthaber, Herrscher oder Kreml-Chef. Journalismus sollte keine Scheu vor Grundsatzdebatten haben, nicht stoisch am Gewohnten festhalten. Wir sollten die entscheidenden Fragen stellen.

„Wer bis heute nicht wahrhaben will, dass Russland nur die Sprache der Stärke versteht, ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen.“
 

Wieso kann Russland 2025 noch Krieg führen?

Und wir sollten die Grausamkeit aussprechen. Es lässt sich zwar nicht in Worte fassen, wie zermürbend der russische Angriffskrieg für die Menschen in der Ukraine ist. Aber es ist notwendig, auszusprechen, dass Russland einen brutalen und rücksichtslosen Krieg gegen all diese Menschen führt.

Im vierten Jahr des Großangriffs auf die Ukraine lautet eine dieser Fragen: Wie ist es möglich, dass Russland diesen Krieg im Jahr 2025 überhaupt noch führen kann? Putins Regime finanziert seinen Angriffskrieg vor allem durch den Export fossiler Brennstoffe. Die BBC hat eine umfangreiche Analyse erstellt, die unter anderem auf Daten des Kiel Institut für Weltwirtschaft basiert.

Ergebnis: Die westlichen Verbündeten der Ukraine haben Russland zwischen Februar 2022 und Februar 2025 für Öl und Gas mehr Geld überwiesen, als sie der Ukraine an Hilfe zukommen ließen. Solche Analysen sind weiterhin essenziell, damit wir die Zusammenhänge verstehen und entsprechend handeln können.
 

Ukraine schützt Frieden und Freiheit in Europa

Die Kosten des Krieges gegen die Ukraine sind für das Kreml- Regime offensichtlich nicht zu hoch. Doch das ließe sich ändern. Bestehende Sanktionen müssten entschieden durchgesetzt werden. Neue Sanktionen müssten den russischen Banken- und Energiesektor hart treffen. Die Ukraine müsste mit den im Westen eingefrorenen russischen Milliarden unterstützt werden. All das hätte längst passieren können.

Nicht aus Mitleid oder im Sinne der Wohltätigkeit. Sondern, weil der ukrainische Staat und seine Menschen Frieden und Freiheit in Europa schützen.

Dagegen sind realitätsferne Manifeste und leere Ultimaten ein Katalysator für den aggressiven russischen Imperialismus. Wer bis heute nicht wahrhaben will, dass Russland nur die Sprache der Stärke versteht, ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen.

„Russland investiert Milliarden in Lügen. Wer an die Macht von Fakten glaubt, muss in Korrespondentinnen und Korrespondenten, in ihre Arbeit, investieren.“
 

Luftangriffe reißen ukrainische Familien auseinander

Seit 2022 berichte ich aus der Ukraine, lebe gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Kyjiw. Bis ich hierhin zog, konnte ich mir nur über Geschichtsbücher, Filme und durch Zeitzeugenberichte erschließen, was Krieg bedeutet. Heute bin ich selbst ein Chronist des Krieges. Schicksale, wie das der Familie Basylewytsch aus Lwiw gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.

Am 4. September 2024 schlägt eine russische Hyperschallrakete in das Wohnhaus der Familie in Lwiw ein. Mutter Jewhenija und die drei Töchter Jaryna, Darija und Emilija befinden sich zu diesem Zeitpunkt unten im Treppenhaus – der vermeintlich sicherste Ort im Haus. Als Vater Jaroslaw ihnen aus der Wohnung im oberen Stockwerk nach unten folgen will, hält ihn die heftige Explosion davon ab.

Später ziehen Rettungskräfte die leblosen Körper der vier Frauen aus den Trümmern des Altbaus. In wenigen Minuten verliert Jaroslaw seine Liebsten. „Meine Familie war der Sinn meines Lebens”, erzählt er mir wenige Monate später auf dem Friedhof. „Jetzt ist davon nichts mehr übrig.” Auch Hunderte Kilometer von der Front entfernt löschen russische Luftangriffe ukrainische Familien aus. Wir müssen ihre Geschichten erzählen, damit sie nicht in einer Flut von Zahlen untergehen.
 

Der Vernichtungskrieg wird nicht einfach aufhören

Niemand wünscht sich sehnlicher Frieden als die Menschen in der Ukraine. Doch der Vernichtungskrieg wird nicht einfach aufhören. Denn anders als die meisten anderen Länder, die sich Frieden wünschen, will Russland Krieg.

Es gab vor dem großen Überfall diplomatische Bemühungen, es gab sie nach Beginn des Angriffskriegs und es gibt sie heute. Doch Russland hat kein Interesse an Diplomatie, es eskaliert immer weiter. Bei den jüngsten Verhandlungen in Istanbul hat die russische Delegation das zum wiederholten Mal deutlich gemacht: Verhandeln bedeutet nicht automatisch, verhandlungsbereit zu sein.

Denn wer Maximalforderungen als Grundlage für eine bedingungslose Waffenruhe aufstellt und als Alternative mit ewigem Krieg droht, der ist nicht an Frieden interessiert. Trotzdem bleibt es wichtig, dass sich die Ukraine gemeinsam mit vielen Staaten, auch Deutschland, weiter um Diplomatie bemüht. Das unterscheidet einen friedliebenden Staat von einer revisionistischen Diktatur.
 

Weniger Meinung, mehr Expertise

Frieden fällt leider nicht vom Himmel. Erst recht nicht, wenn man den Täter zum Opfer macht und das Opfer zum Täter. Und damit sind wir bei der Frage der Verantwortung. Die politische Verantwortung besteht darin, den angegriffenen Staat so zu unterstützen, dass er sich adäquat wehren kann. Wenn uns in Europa Menschenrechte und das Völkerrecht etwas wert sind, dann müssen wir auch dafür einstehen, wenn es darauf ankommt. Welche Bedeutung haben diese Werte sonst?

Für den Journalismus bedeutet das in erster Linie, dem eigenen Handwerk treu zu bleiben:

1. Ruhe statt hastiges Kopieren und Einfügen aus Agenturmeldungen.

2. Sorgfältige Prüfung und präzise Einordnung von Informationen vor der Veröffentlichung – am besten von vor Ort.

3. False Balance vermeiden. Weniger uninformierte Meinungen, mehr faktenbasierte Expertise.

Es ist wichtig, dass wir als gut informierte Gesellschaft weiter um die besten Argumente streiten. Respektvoll, verantwortungsvoll, leidenschaftlich, auf Grundlage von Fakten. Guter Journalismus kann Frieden, Freiheit und Sicherheit nicht garantieren. Doch wenn wir gut berichten, können Menschen mitdiskutieren. Wenn wir einordnen, werden Zusammenhänge verständlich. Wenn wir zeigen, was ist, werden die Opfer des Krieges gehört.


Vassili Golod (32) ist Crossmedialer Leiter im ARDStudio Kyjiw. Er wurde in Charkiw (Ukraine) geboren, studierte in Göttingen und Aberystwyth (Wales) und berichtete unter anderem für den NDR und die Rheinische Post. Nach seinem Volontariat beim WDR hat er als ARD-Korrespondent, Reporter, Redakteur und Chef vom Dienst gearbeitet.
Er berichtete aus London, Moskau und Berlin. Seit 2022 berichtet er als Korrespondent aus der Ukraine und wohnt in Kyjiw.