Wenn Gewissheiten flüchtig werden

Wenn der Rechtsstaat angegriffen wird, können Journalisten nicht neutral sein, sagt Stephan Karkowsky. Foto: Henrik Jordan
Radiojournalist Stephan Karkowsky geht in unserer Serie „Mein Blick auf den Journalismus“ der Frage nach, wie wir mit Trumps Lügen-Dauerberieselung umgehen können. Er sagt, wir müssen uns auf unsere Qualitäten besinnen: Faktencheck, Zwei-Quellen-Prinzip, Fehlertransparenz.
Text: Stephan Karkowsky
07.05.2025
Damit Menschen sich verstehen, müssen sie bestimmte Werte und ein bestimmtes Verständnis von der Welt teilen. Sind viele vom Gleichen überzeugt, entstehen aus diesem Verständnis Gewissheiten. Bestehen Gewissheiten schon lange und werden sie immer wieder bestätigt mit Methoden, die von vielen anerkannt werden, dann nimmt in der Regel auch der Streit über diese Gewissheiten ab.
Doch so einfach war das noch nie mit den Gewissheiten. Obwohl Platon und Aristoteles bereits vor zweieinhalb tausend Jahren durch logische Schlüsse zur Erkenntnis gekommen sind, dass die Erde eine Kugel ist, wurde danach jahrhundertelang darüber gestritten. Logische Schlüsse und theoretische Überlegungen allein überzeugen offenbar nicht jeden. Uns modernen Menschen hat der Fotobeweis – die ersten Bilder der blauen Kugel aus dem All in den 1960er Jahren – nicht mehr überrascht (nur noch verzaubert). Dennoch finden bis heute Menschen Interesse an Verschwörungslügen, die etwa die Mondlandungen – einige der am besten dokumentierten Ereignisse der Weltgeschichte – für erfunden halten.
Wir „wissen“, dass Feuer gefährlich ist
Die Erkenntnistheorie nach Kant spricht von apriorischem Wissen, wenn Wissen von eigener Erfahrung unabhängig ist. Oder es stammt aus kollektiven Erfahrungen: Manche Gewissheiten können auch als a posteriori gelten, weil sie über Generationen erlernt sind, bevor wir die Erfahrung selbst machen müssen.
Wir „wissen“, dass Feuer gefährlich sein kann und dass wir in Wasser ertrinken können. Aber immer weniger Menschen wissen offenbar noch, dass die Demokratie die beste aller Staatsformen ist, solange die Bürger sich mehrheitlich ein Leben im Rechtsstaat unter demokratischen Werten wünschen, wie es das deutsche Grundgesetz garantiert.
Das Problem mit gewachsenen Gewissheiten ist, dass sich mit ihrer Anerkennung das Wissen auflöst, das die Menschen zur Erkenntnis geführt hat. Die Hinleitung geht verloren. Niemand muss mehr einen Beweis führen dafür, dass die Erde rund ist, dass die Demokratie allen Bürgern das höchste Maß an Freiheit garantiert und dass ein seriöser Journalismus Garant für wahrheitsgemäße Berichterstattung ist. Die Wissensbildung ist abgeschlossen.
„Flooding the zone with shit“
In diese Schwachstelle stoßen nun Demagogen, überwiegend aus dem rechten politischen Spektrum, um Gewissheiten und Begrifflichkeiten anzugreifen und umzudrehen. Steve Bannons Parole flooding the zone with shit ist zum Lieblingsinstrument von Rechtsextremisten geworden. Gewissheiten werden dabei solange in Frage gestellt und angegriffen, bis behauptet werden kann, etwas sei zumindest umstritten. Dabei stellen rechte Disruptoren das freie, gesellschaftlich anerkannte Wissen als ideologie- und machtgetriebene Lügen einer Herrscherelite aus Medien und Politik dar.
Die Debatte um den menschengemachten Klimawandel verdeutlicht, wie erfolgreich diese Strategie ist. Alle anerkannten Klimaforscher der Welt können belegen, dass der Mensch den Klimawandel maßgeblich beeinflusst hat. Den Disruptoren reicht es aber, wenn auch nur ein Wissenschaftler von tausenden – möglichst mit Professorentitel versehen – diesem „Mainstreamwissen“ widerspricht, um zu behaupten, die These sei umstritten oder sogar unwahr. Den Medien wird vorgeworfen, abweichende Haltungen zu verschweigen, um die eigene Lüge zu kaschieren.
Zugleich eignen sich die neuen Propagandisten Begriffe, Symbole und Sprachbilder ihrer politischen Gegner an und verkehren deren Bedeutung. Während die Montagsdemos der DDR 1988/89 mit ihrem Slogan „Wir sind das Volk“ für die eigene Freiheit noch Mauern einreißen wollten, forderte die rassistische Bewegung Pegida mit dem gleichen Slogan eine Abschottung Europas.
„Obwohl Platon und Aristoteles bereits vor 2.500 Jahren zu der Erkenntnis gekommen sind, dass die Erde eine Kugel ist, wurde danach jahrhundertelang darüber gestritten.“
Der Historiker Volker Weiß hat unlängst die lange Tradition dieser Disruptionsstrategie beschrieben. Demnach hat bereits 1923 Arthur Moeller van den Bruck in seinem Hauptwerk Das Dritte Reich „systematisch vorexerziert, wie diese erfolgreiche Aneignung von Begriffen unter gleichzeitiger Verschiebung ihrer Bedeutung vonstatten geht.“ Der neurechte Antaios-Verlag von Götz Kubitschek verlegt Bücher wie dieses als „Quellentext zur Konservativen Revolution“. Nicht mal der „linke“ Revolutionsbegriff wird von der Verkehrungsstrategie der Rechten verschont. Revolution als Befreiungskampf wird für Machtergreifungsfantasien missbraucht.
Und so wird derzeit die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, komplett in ihr Gegenteil verkehrt. Plötzlich ist Hitler ein Kommunist (Weidel) und die Nazis waren vor allem Sozialisten. Präsident Selenskyj hätte den Ukrainekrieg nie starten sollen (Trump) und verteidigen müsse Europa sich weniger gegen Russland, als vielmehr gegen die Feinde der Meinungsfreiheit von innen, die den Wählerwillen ignorieren (Vance).
Während die USA mit einem verurteilten Straftäter im Oval Office gerade die eigene Demokratie durch eine Autokratie mächtiger Milliardäre ersetzen, werfen sie den Europäern vor, was sie selbst für alle Welt sichtbar tun, nämlich sich von den gemeinsamen Werten zu entfernen und damit die Demokratie zu gefährden. Während Trump und seine Leute die vielfach widerlegte Behauptung verbreiten, sie seien die wahren Wahlsieger 2020 gewesen, kritisieren sie Rumänien dafür, dass es nach einer belegten russischen Wahlmanipulation ihre Wahl wiederholt hat, als undemokratisch.
Verharmlosungen und Fake News
Während Beamten in den USA gekündigt wird, weil sie sich auftragsgemäß für Diversität einsetzen, kritisiert US-Vizepräsident J.D. Vance, dass in Deutschland die Polizei verbotene Hasskommentare im Internet verfolgt. Während die Nachrichtenagentur AP aus dem Weißen Haus ausgesperrt wird, weil sie den Golf von Mexiko weiterhin so nennt, wie er überall auf der Welt heißt (außer in der US-Regierung), nennt Vance Fehlinformationen und Desinformationen auf offener Bühne die alternative Sichtweise von Menschen mit anderer Meinung. Und er verharmlost die destruktive Macht von Elon Musk, der mit omnipotenten Befugnissen den US-amerikanischen Staatsapparat umbaut, indem er sie mit der Macht von Greta Thunberg vergleicht, einem Schulmädchen, das die Welt auf die apokalyptische Bedrohung der Klimakatastrophe aufmerksam gemacht hat. Die Gewaltenteilung wird offen in Frage gestellt, Richter und Staatsanwälte werden delegitimiert oder mit Entlassung bedroht – wenn sie sich nicht bekennen zu den neuen Machthabern und ihren Wahrheiten.
Diese Aufzählung könnte seitenlang weitergehen, dabei ist die neue US-Regierung erst seit ein paar Monaten im Amt. Die womöglich tragischen Folgen der neuen Achse Washington-Moskau für die Ukraine sind noch nicht absehbar. Die entfesselnde Wirkung für andere Autokraten wie Erdogˇan in der Türkei, Netanjahu in Israel und Orbán in Ungarn dagegen schon. Das rechtsstaatsfeindliche und teils korrupte Auftreten des Trump-Teams, der Stimmenkauf von Musk, die Richterbedrohungen – all das lässt auch andere Demokratiefeinde dreister werden.
„Das Problem mit gewachsenen Gewissheiten ist, dass sich mit ihrer Anerkennung das Wissen auflöst, das die Menschen zur Erkenntnis geführt hat. Die Hinleitung geht verloren.“
Zu den aufklärerischen Pflichten von Nutznießern der Pressefreiheit kann es gehören, dass wir Journalisten Neusprech – wann immer möglich – auch als solchen benennen. Und dass wir propagandistische Inhalte von Zitaten deutlich machen. Etwa, wenn Putin die Legitimität des ukrainischen Präsidenten in Frage stellt, wenn Erdogˇan die türkische Opposition zur Terrorbewegung erklärt oder wenn Stimmen regierungsamtlicher Zeitungen aus China oder Russland gleichberechtigt neben Spiegel und Süddeutscher Zeitung in Presseschauen im Radio zitiert werden.
Rechtsextremisten, Autokraten und ihre Medien wollen uns mit ihren Aussagen nicht informieren. Sie wollen uns unter dem Schutz von Artikel 5 des Grundgesetzes indoktrinieren. Die Funktion dieser Machttechnik hat Sylvia Sasse en detail in ihrem Buch Verkehrungen ins Gegenteil beschrieben: „Propaganda und Desinformation gehen auf diese Weise als Meinung durch und werden aufgewertet, Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse werden im gleichen Zuge als Meinung abgewertet.“
Vertrauen zurückgewinnen
Wir Journalisten können nicht so tun, als ginge uns das nichts an und als hätten wir die Pflicht, alle Aussagen gleich zu gewichten. Als seien wir speziell in den Nachrichten zu blinder Neutralität verpflichtet. Als wären nicht auch Zitate das Ergebnis redaktioneller Auswahl. Schon die Schwierigkeit, Interviews mit Rechtsextremisten zu führen, in denen in hoher Taktzahl Falschbehauptungen aufgestellt werden (flooding the zone), die live selten zeitnah widerlegt werden können, zeigt die Größe der Herausforderung.
Kants philosophische Grundfrage Was kann ich wissen? wird so zur entscheidenden Frage über die künftige Relevanz des Journalismus. Wollen wir unsere Gatekeeper-Funktion vollständig aufgeben (manche sagen, das hätten wir bereits) oder treten wir dafür ein, dass auch künftige Generationen weiter mit einer freien Presse Zugang zu überprüfbaren Wahrheiten bekommen?
Letztlich beruhen gesellschaftliche Gewissheiten immer auf dem Vertrauen in diejenigen, die Wissen bewahren und weitergeben. Und das waren über viele Jahrzehnte hinweg auch wir Journalisten. Professionelle Medienschaffende lernen in der Ausbildung, wie eintreffende Meldungen verifiziert oder falsifiziert werden können. Sie lernen das Zwei-Quellen-Prinzip. Sie wissen, wie man Tatsachenbehauptungen überprüft und weisen darauf hin, falls dies nicht möglich ist – wie etwa bei Informationen von Kriegsparteien.Und sie korrigieren öffentlich ihre Fehler. Aber offenbar schätzen viele Leser, Hörer und Zuschauer die Qualitätsmerkmale des Journalismus in immer geringerem Maße. Oder sie wissen schlicht nichts davon. Es gilt, dieses Wissen neu zu aktivieren und das Vertrauen des Publikums zurück zu gewinnen. Aber nicht, indem man zunehmend obskure „Experten“ einlädt wie den Kölner Hotelier Dr. Werner Peters, der unlängst in einer Radiosendung behauptete, wir würden in Deutschland nicht in einer Demokratie leben, sondern „in einer durch Wahlen legitimierten Aristokratie“.
Wie lange müsste die Gegenrede sein, die unbedarften Hörern erklärt, inwiefern unsere repräsentative Demokratie alle Merkmale einer Demokratie erfüllt, und dass es in sich selbst undemokratisch ist, wenn der promovierte Philosoph Peters sein Verständnis radikaler, direkter Demokratie für alleingültig hält? Nicht alle Sendeformen sind für alle Auseinandersetzungen gleichermaßen geeignet.
Unsere Demokratie ist sogar so demokratisch, dass sie ihre eigene Abschaffung auf demokratischem Wege zuließe. Die neuen Propagandisten würden sagen: Es wäre undemokratisch, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Diesen Mindfuck sollten wir Journalisten nicht zulassen.
Wir kontrollieren die Einhaltung der Gewaltenteilung als Dienstleister der Öffentlichkeit, um Machtmissbrauch zu verhindern. Deshalb können wir als Journalisten nicht neutral sein, wenn Rechtsstaat und Demokratie angegriffen werden. Zu unserer öffentlichen Aufgabe, Meinungsbildung zu ermöglichen, sollte immer auch gehören, vor Meinungsmanipulationen deutlich zu warnen. Nicht ohne Grund ist die Pressefreiheit oft das erste, das Autokraten nach ihrer Machtübernahme abschaffen.
Möglicherweise haben wir die Gatekeeper-Funktion durch die Einführung sozialer Medien verloren. Unsere Funktion als die Vierte Gewalt im demokratischen System aber dürfen wir nicht aufgeben, egal, wie sehr interessierte Kreise uns dafür als Zensurorgane delegitimieren wollen.
Stephan Karkowsky ist Radiomoderator, Journalist und Moderatorencoach.