Transformation

Abschied von Print auf die harte Tour

07.11.2023

Weil Produktion und Vertrieb der gedruckten Tageszeitung immer teurer werden, beenden Funke und Madsack in ersten Gebieten die frühmorgendliche Zustellung. Einzelne Verlage planen auch, die Zahl der Erscheinungstage zu verringern. Dabei zeigt sich: Der schrittweise Abschied von Print gelingt denen am besten, die früh und konsequent auf Digitalisierung gesetzt haben. Text: Henning Kornfeld, Illustration: Francesco Ciccolella

Unter einem Strömungsabriss versteht man das plötzliche Schwinden des Auftriebs an der Tragfläche eines Flugzeugs, das zu seinem unkontrollierten Absinken und im Extremfall zum Absturz führen kann. Christoph Mayer, Partner bei der auf Medien spezialisierten Unternehmensberatung Schickler, verwendet den Begriff, um ein düsteres Szenario zu beschreiben, das den deutschen Zeitungsverlagen blühen dürfte: Weil fast 40 Prozent ihrer Abonnentinnen und Abonnenten älter als 75 Jahre sind, drohe ihnen in den nächsten fünf bis zehn Jahren ein „dramatischer“ Rückgang der Print-Auflagen. Anzeichen für einen Strömungsabriss in diesem Sinne sind erkennbar: Seit Ende 2022 verzeichnen die Tageszeitungen im Jahresvergleich deutlich höhere Auflagenverluste als zuvor, im ersten Quartal 2023 waren es sogar mehr als zehn Prozent.

Die purzelnden Auflagen gehen einher mit steigenden Kosten für Produktion und Vertrieb. Beide Trends verstärken sich gegenseitig: Die Abo-Kündigungswelle verringert die Zustelldichte in einem Bezirk und treibt die Kosten pro Zeitungsexemplar in die Höhe. „Dies wird zur Abschaltung von Print-Gebieten führen, da man Print nicht mehr wirtschaftlich betreiben kann“, prognostiziert Mayer. „Das verstärkt die Kündigungswelle und treibt die Spirale an.“

In einer Studie, beauftragt vom Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), kam Schickler schon vor drei Jahren zu dem Ergebnis, dass sich die Frühzustellung von Tageszeitungen bis 2025 in 40 Prozent aller Gemeinden für die Verlage nicht mehr rechnen werde. Wegen der Mindestlohnerhöhung sei dieser Zustand wohl schon 2023 erreicht worden, vermutet Christian Eggert, Leiter Verlagswirtschaft beim BDZV.

„Obwohl ihr Altersdurchschnitt hoch ist, halten die meisten unserer Leser ihrer Lokalzeitung die Treue und sind bereit, mit uns einen Schritt in die digitale Zukunft zu gehen.“ Henry Lohmar, Chefredakteur Märkische Allgemeine

Die Verlage fordern schon länger, der Bund möge die Zustellung für eine gewisse Zeit subventionieren oder die Mehrwertsteuer auf Zeitungen abschaffen. Ihr Wunsch blieb bisher unerhört. Doch was tun sie selbst, auf welche Produkte setzen sie, um sich schrittweise aus der Papierwelt zurückzuziehen und stattdessen Lokaljournalismus in digitaler Form flächendeckend anbieten zu können?

Was die Nöte bei der Zustellung angeht, beobachtet BDZV-Mann Eggert zwei kurzfristige Anpassungsstrategien von Verlagen, die am flächendeckenden Print-Vertrieb festhalten, aber Kosten sparen wollen: Häuser mit einem eigenen Briefunternehmen verteilten auch die Zeitung darüber. „Dadurch hat ein Teil der Leser die Zeitung erst später im Briefkasten“, sagt er. „Marktforschungen deuten aber darauf hin, dass viele bereit sind, das hinzunehmen.“ Andere Verlage hätten ihren Andruck nach vorne verlegt und begännen schon in den frühen Abendstunden mit der Zustellung. „Für diese Zeit finden sie leichter Zusteller.“

E-Paper als Alternative

Für eine radikalere Variante haben sich Funke und Madsack entschieden. Beide Mediengruppen lassen die gedruckte Zeitung in besonders dünn besiedelten Teilen des Erscheinungsgebiets ostdeutscher Titel nicht mehr frühmorgens von eigenen Zustellern in die Briefkästen werfen, sondern bieten den bisherigen Print-Abonnenten alternativ eine digitale Ausgabe an, ein E-Paper also. Funke und Madsack haben diese Umstellung auf die harte Tour früh angekündigt, in Veranstaltungen darüber informiert und sogar Geräte-Schulungen für ihre Leser angeboten. Ihre Projekte unterscheiden sich allerdings in Größenordnung und Design – und auch die Ergebnisse fallen sehr unterschiedlich aus.

Madsack hat zum 30. September den Prignitz Kurier, eine Lokalausgabe der Märkischen Allgemeinen (MAZ) aus Potsdam, als gedruckte Zeitung eingestellt. Davon waren rund 2.450 Abonnenten im Landkreis Prignitz in Brandenburg betroffen, dem am dünnsten besiedelten Gebiet Deutschlands. Bis Ende September haben sich fast zwei Drittel (63 Prozent) davon alternativ für ein E-Paper-Abo entschieden, die Übrigen gehen als Kunden verloren. „Die Zahlen sind ermutigend, kaum ein Beobachter hätte mit einer so guten Wandlungsquote gerechnet“, sagt Chefredakteur Henry Lohmar. „Obwohl ihr Altersdurchschnitt hoch ist, halten die meisten unserer Leser ihrer Lokalzeitung die Treue und sind bereit, mit uns einen Schritt in die digitale Zukunft zu gehen.“

Funke fährt anderes Konzept

Lohmar betont, dass sich seine Redaktion keineswegs aus der Prignitz zurückgezogen, sondern lediglich den „Ausspielkanal“ ihres Lokaljournalismus geändert habe. Die MAZ hat zudem neue digitale Formate jenseits des E-Papers gestartet, um jüngere Menschen besser zu erreichen. Auch damit ist die Zeitung laut Chefredakteur erfolgreich: Die Zahl der Plus-Abos habe sich in der Prignitz um mehr als 300 erhöht, und man habe 1.450 Abonnenten für (vorerst noch kostenlose) neue wöchentliche und einen täglichen Newsletter gewonnen.

Funke hat anders als Madsack keine ganze Ausgabe eingestellt, beliefert aber seit Anfang Mai rund 300 Abonnenten in Gemeinden des Landkreises Greiz in Thüringen nicht mehr frühmorgens mit der Ostthüringer Zeitung. Das Ergebnis: Die Mediengruppe hat fast die Hälfte davon als Kunden verloren, nur 25 Prozent haben das E-Paper gewählt, 28 Prozent lassen sich von der Deutschen Post mit der gedruckten Zeitung beliefern. Die Post-Variante war zunächst nicht vorgesehen, Funke hat sie den Abonnenten erst nachträglich angeboten, und zwar selbst denjenigen, die sich schon für ein Digital-Abo entschieden hatten.

Bei Funke erklärt man die niedrige Wandlungsquote mit dem hohen Durchschnittsalter der Leser in Greiz sowie mit dem vergleichsweise geringen Digitalisierungsgrad Thüringens und wertet sie als Beleg für die Dringlichkeit der Zustellförderung. Der „Vertriebstest“ in Thüringen sei aber in dem Sinne erfolgreich gewesen, „dass wir viel über unsere Abonnenten gelernt haben“, beteuert Michael Tallai, Funke-Geschäftsführer in Thüringen.

Funke hat zum Beispiel gelernt, wie wichtig es ist, auch eingefleischte Print-Abonnenten früh dazu zu bewegen, parallel das E-Paper oder ein anderes Digital-Angebot zu nutzen. Abonnenten, die das getan hatten, entschieden sich bei der Umstellung in Greiz dreimal so häufig für ein reines Digital-Abo wie die Übrigen. „Wir intensivieren die Bemühungen, unsere Print-Abonnenten zu einer zusätzlichen Registrierung für unsere digitalen Produkte zu bewegen, indem wir sie auf die vielen Vorteile hinweisen“, kündigt daher Kevin Tarun an, Vertriebsleiter der drei Thüringer Funke-Titel. Im Unterschied zu vielen anderen Verlagen verlangt Funke von Print-Abonnenten keinen Aufpreis, wenn sie zusätzlich auch das E-Paper oder Plus-Artikel auf der Website lesen wollen.

„Wir intensivieren die Bemühungen, unsere Print-Abonnenten zu einer zusätzlichen Registrierung für unsere digitalen Produkte zu bewegen.“ Kevin Tarun, Funke-Vertriebsleiter in Thüringen

Eine zweite Erkenntnis teilen Funke und Madsack: Bei beiden Projekten entschied sich die Mehrheit der neuen E-Paper-Abonnenten für eine Abo-Variante, die bei langer Vertragsbindung ein subventioniertes Tablet einschließt. Ansonsten wäre die Umwandlungsquote noch geringer gewesen, sagt Tarun. „Wir hatten gehofft, dass die meisten bereits ein solches Gerät haben, doch bei unserer schon älteren Leserschaft war das oft nicht der Fall.“

Madsack wird zu Dezember zwei weitere Ausgaben im Landkreis Ostprignitz-Ruppin nordwestlich von Berlin auf Digital umstellen. Sie haben derzeit zusammen rund 4.600 Abonnenten. Darüber hinaus mag sich das Unternehmen öffentlich noch nicht festlegen. „Die Ergebnisse des Pilotprojekts werden innerhalb der Mediengruppe ausgewertet, es gibt aber nichts Spruchreifes“, beteuert Lohmar. „In großen Teilen unseres Verbreitungsgebiets wird die Zustellung der gedruckten Zeitung noch auf lange Sicht stabil funktionieren.“ Ähnlich äußert sich Michael Tallai für Funke.

Das Zustellungs-Aus in Teilen des Verbreitungsgebiets à la Funke und Madsack ist die von den Zeitungsverlagen favorisierte Variante, um Kosten zu sparen. In einer Umfrage von BDZV und Schickler gaben zu Jahresanfang fast zwei Drittel von ihnen an, diesen Schritt in den nächsten drei Jahren zu planen. Nur 17 Prozent kündigten indes an, die Zahl der Erscheinungstage zu reduzieren. Diese Strategie spielt in Deutschland zwar bei Anzeigenblättern eine große Rolle, nicht aber bei Tageszeitungen. Lediglich die überregionale taz und das Boulevardblatt Hamburger Morgenpost wollen sich erklärtermaßen 2025 beziehungsweise 2024 auf eine gedruckte Ausgabe am Wochenende beschränken und an den übrigen Tagen nur noch digital in Erscheinung treten.

Reduzierung der Frequenz

International ergibt sich ein etwas anderes Bild: In den USA und Skandinavien beschreiten große Verlage beherzt den Weg der reduzierten Erscheinungsfrequenz. So hat es der norwegische Medienkonzern Amedia bereits bei gut 30 seiner knapp 80 Titel gemacht. In der Regel geht er von sechs auf drei Wochentage, ohne den Abo-Preis zu senken. Gegenüber dem Fachdienst pv-digest zog Amedia ein positives Fazit dieser Strategie: Der Wegfall einzelner Print-Tage führe zwar zu leicht erhöhten Kündigungsquoten, befördere aber zugleich den Wechsel vom Print- zum Digital-Abo. Es sei auch kein beschleunigter Rückgang der Print-Anzeigenerlöse festzustellen, und das digitale Werbegeschäft werde sogar gestärkt.

Bevor der norwegische Medienkonzern bei einem Titel die Zahl der Print-Tage reduziert, muss allerdings stets eine Voraussetzung erfüllt sein, die bei den meisten deutschen Verlagen nicht gegeben sein dürfte: Amedia geht diesen Schritt nur, wenn mindestens die Hälfte der Abonnenten schon ein Digital-only-Abo hat.

Knapp 15 Prozent der Abo-Auflage der deutschen Tageszeitungen entfällt derzeit auf das E-Paper, die Verlage haben damit laut BDZV im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 414 Millionen Euro gemacht. Häuser wie die Zeitungsgruppe Ostfriesland (Ostfriesen-Zeitung) haben einen noch deutlich höheren E-Paper-Anteil, weil sie ihren Print-Abonnenten offensiv den freiwilligen Wechsel zur digitalen Zeitung ans Herz legen.

Übergangstechnologie

E-Paper-Abonnenten rekrutieren sich überwiegend aus dem Kreis ehemaliger Print-Leser und wünschen sich ein Abbild der gedruckten Zeitung. Sie sind bereit, dafür einen für ein digitales Produkt relativ hohen Preis zu bezahlen. In der Digitalisierungsstrategie der Verlage spielt das E-Paper daher eine zentrale Rolle, doch es gilt zugleich als Übergangstechnologie. Die meisten Häuser konzentrieren sich auf den Aufbau ihres Geschäfts mit Plus-Abos, die den Zugang zu kostenpflichtigen Artikeln auf ihren Websites verschaffen. Der Preis dafür ist zumeist deutlich niedriger als der für ein E-Paper-Abo, Zielgruppe ist eine jüngere Klientel, die nicht mehr mit der gedruckten Zeitung sozialisiert wurde.

Um ihr Geschäft mit Plus-Abos voranzubringen, haben sich 21 regionale Zeitungsverlage aus Deutschland und Österreich der von Schickler und der Nachrichtenagentur dpa ins Leben gerufenen Dateninitiative Drive angeschlossen. Sie orientieren sich an der Faustformel, wonach sie 16 Prozent der deutschsprachigen Haushalte in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet für ein Plus- oder ein E-Paper-Abo gewinnen müssen, um ihre Redaktionen eines Tages allein durch Digital-Vertriebserlöse finanzieren zu können. Das wäre zumindest ein Etappensieg. Die erfolgreichsten der Verlage haben gut die Hälfte der 16 Prozent geschafft.

„Verlage, die der Transformation hinterherhängen, werden ihre finanziellen Reserven aufbrauchen müssen. Verlage, die keine Reserven haben, werden es nicht schaffen.“ Christoph Mayer, Partner bei Unternehmensberatung Schickler

Auch sie müssen aber noch einige Hürden nehmen: Das Wachstum der Plus-Abos ist vielerorts ins Stocken geraten, weil zu viele neue Abonnenten zu schnell wieder abspringen. Rund 60 Prozent aller Plus-Abos werden laut einer Drive-Statistik schon im Verlauf des ersten Monats gekündigt. Nachrichten-Websites werden zudem viel seltener und kürzer besucht, als die gedruckte Tageszeitung gelesen wird. Etwa 80 Prozent der veröffentlichten Beiträge sind in der Drive-Terminologie „Geisterartikel“, die kaum beachtet werden, und 90 Prozent aller Artikel hinter der Paywall generieren kein einziges Abo. Die Drive-Verlage wollen das ändern. Schickler-Berater Mayer nennt drei Hebel dafür: eine Orientierung der Redaktionen an sogenannten User Needs, die Personalisierung ihrer Websites sowie technische Modifikationen an der Paywall.

Mit dem Konzept der User Needs ist gemeint, dass Redaktionen sich auf solche Inhalte konzentrieren sollen, die nachweisbar Digital-Abos bringen. Eine teilweise Personalisierung kann nach Mayers Überzeugung dabei helfen, Leser häufiger auf eine Website zu locken und länger dort zu halten. „Wir sehen, dass durch personalisierte Artikelvorschläge die Nutzungsintensität stark steigt“, sagt er. Für haltbarere Abos soll schließlich eine stärkere Vor-Selektion an der Paywall sorgen, die vereinfacht so funktioniert: Wer als Gelegenheitsnutzer identifiziert wird, kann mehr Artikel frei lesen als ein loyaler Nutzer, der reif fürs Abo ist und schnell an die Bezahlschranke geleitet wird. Dadurch verbessere sich die Qualität der Abos.

Mayer meint, dass die Zeitungsbranche die gegenwärtigen Herausforderungen meistern wird, prognostiziert ihr aber einen „harten Ritt“: „Verlage, die der digitalen Transformation hinterherhängen, werden ihre finanziellen Reserven aufbrauchen müssen“, sagt er. „Verlage, die keine finanziellen Reserven haben und hinterherhängen, werden es nicht schaffen.“

Henning Kornfeld arbeitet als Medienjournalist in Heidelberg.

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