Fußball-WM in Katar

Das umstrittenste Sportereignis der Geschichte

11.10.2022

Am 20. November beginnt die Fußballweltmeisterschaft in Katar. In den vergangenen Jahren wurden in Doha mehrfach Journalisten verhaftet, weil sie bei ihren Recherchen angeblich katarische Gesetzte missachteten. Aber es gibt auch ein paar Lichtblicke. Text: Ronny Blaschke.

Was erwartet Journalist*innen bei der Fußball-WM in Katar? (Illustration: Frank Höhne)

Stoßstangenobservation. Mit diesem Begriff musste sich Benjamin Best im Dezember 2021 in Katar vertraut machen. Zum wiederholten Mal recherchierte der WDR-Journalist am Persischen Golf zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen der Gastarbeitenden. Sobald Best und seine Kollegen in Doha das Hotel verließen, wurden sie von zwei Fahrzeugen verfolgt. "Bis in den Abend hinein hatten wir ständige Begleitung. Man wollte uns das Gefühl vermitteln, dass wir unter Beobachtung stehen", sagt Best. "Bei einigen Kollegen unseres Kamerateams habe ich gemerkt, dass diese Einschüchterung funktioniert hat."

Am 20. November beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, das wohl umstrittenste Sportereignis der Geschichte. Die katarische Erbmonarchie will die WM als politische und ökonomische Plattform nutzen. Im Zeitalter erneuerbarer Energien muss sich Katar langfristig von seinen Gasexporten unabhängig machen und neue Wirtschaftszweige erschließen. Doha wirbt mit der glitzernden Fußballfassade um Investitionen, Touristen und Fachkräfte. Wer hinter diese Fassade blicken möchte, muss mit Konsequenzen rechnen. Kaum ein Land bewegt so viel Geld, Energie und Technik in die eigene PR.

"Bis in den Abend hinein hatten wir ständige Begleitung. Man wollte uns das Gefühl vermitteln, dass wir unter Beobachtung stehen." 

Benjamin Best, Journalist und Filmemacher
 

Zu der überschaubaren Zahl kritischer Journalist*innen, die schon früh hinter die Fassade geblickt haben, gehört Benjamin Best. 2019 reiste er ohne Akkreditierung nach Katar und recherchierte verdeckt in Arbeiterunterkünften. Seine Berichte von verweigerten Lohnzahlungen und seine Bilder von engen, dreckigen Unterkünften wurden von etlichen Medien aufgegriffen. Best baute ein Netzwerk von Informant*innen auf. Immer wieder schickten ihm Gastarbeitende Videos aus Katar und berichteten von Lohnraub und Übergriffen der Vorgesetzten. "Wir mussten dieses Material genau prüfen", sagt Best. "Nicht alle Quellen ließen sich genau verifizieren."

Katar möchte keine Kontroversen nach außen dringen lassen, die dem Regime als Schwäche ausgelegt werden können. Das Emirat duldet keine freien Wahlen. Gewerkschaftliche Strukturen unterliegen strengen Kontrollen. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen und Frauen benötigen für etliche Anliegen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Katar von 180 bewerteten Staaten Platz 119.

In den vergangenen Jahren wurden in Doha mehrfach Journalisten verhaftet, weil sie bei ihren Recherchen angeblich katarische Gesetzte missachteten. Zuletzt wurden im November 2021 der norwegische Reporter Halvor Ekeland und der Kameramann Lokman Ghorbani mehr als dreißig Stunden festgehalten. Ekeland berichtete im norwegischen Fernsehen, dass ihre Ausrüstung beschlagnahmt wurde. Und dass sie sich eine Zelle mit zwölf anderen Personen teilen mussten: "Der Raum war winzig. Wenn man sich hinlegte, stieß man gegen eine Wand oder gegen den Kopf eines anderen."

"Die Gesetze sind oft so vage formuliert, dass die Regierung sie zu ihren Gunsten auslegen kann."

Justin Shilad, Committee to Protect Journalists (CPJ)

Katar und seine Nachbarn auf der Arabischen Halbinsel gehören zu jenen Staaten, in denen unabhängiger Journalismus fast unmöglich ist. Das Pressegesetz von 1979 ermöglicht eine Vorzensur von Publikationen. Das Gesetz gegen Cyberkriminalität von 2014 stellt die Verbreitung von "Fake News" unter Strafe. "Die Gesetze sind oft so vage formuliert, dass die Regierung sie zu ihren Gunsten auslegen kann", sagt Justin Shilad vom Committee to Protect Journalists (CPJ).

Zu spüren bekam das der kenianische Blogger Malcolm Bidali. Er hatte in Katar als Sicherheitskraft gearbeitet und sich mit sechs Personen eine enge Unterkunft teilen müssen. Mehrere Monate berichtete er unter falschem Namen über Ausbeutung und Diskriminierung. Bidali wurde im Mai 2021 festgenommen und über mehrere Tage verhört. Später sagte er, dass er ein vorformuliertes Geständnis auf Arabisch unterschrieben musste. Ein Anwalt sei ihm verweigert worden. Nach einem Monat wurde Bidali freigelassen. Zuvor musste er, wie er sagt, eine Vereinbarung zur Geheimhaltung unterzeichnen.

Fälle wie jene von Malcolm Bidali erschweren die Arbeit der Medienschaffenden in Katar, erläutert Justin Shilad vom Committee to Protect Journalists. Zum einen fühlen sich Behörden noch mehr motiviert, um die neueste Ausspähsoftware gegen Kritiker*innen zu verankern. "Und außerdem ist in diesem Klima der Angst die Selbstzensur unter heimischen Journalisten weit verbreitet", sagt Shilad. "Auch Informanten ziehen sich zurück und wollen kaum noch mit Klarnamen zitiert werden."

Der katarische Staat möchte mit Repression die Deutungshoheit behalten, in diesem Zusammenhang zeigen sich Parallelen zu anderen autoritären Regimen wie in Russland, China oder Ägypten. Doch darüber hinaus setzt Katar wie kaum ein anderer Staat auf "Soft Power", auf milliardenschwere Investitionen in Technik, Kultur, Sport und Medien. Prominente Beispiele: die Fluglinie Qatar Airways, das Museum für Islamische Kunst in Doha, die Übernahme des Fußballklubs Paris Saint-Germain oder der Nachrichtensender Al Jazeera. Vier Institutionen, die Katar mit positiver Konnotation international im Gespräch halten sollen. Al Jazeera gilt als journalistisches Vorzeigemodell in der arabischen Welt, doch mit Kritik am katarischen Regime hält sich der Sender zurück.

"Die Netzwerke mit dem Westen sind für Katar eine Art Lebensversicherung." 

Danyel Reiche, Politikwissenschaftler, Georgetown-Universität Doha 

Die Herrscherfamilie hat früh eingesehen, dass sie Kritik aus dem Westen nicht verhindern, aber mit eigenen Netzwerken medial abmildern kann. Doha ist seit Jahrzehnten für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, gründete aber 2002 ein "Nationales Komitee für Menschenrechte". Katar verzeichnet pro Kopf den höchsten CO2-Ausstoß der Welt, veranstaltete aber 2012 die UN-Klimakonferenz. Das Regime unterbindet Streiks und Demonstrationen, trat aber 2018 dem "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte" der Vereinten Nationen bei. Rechtzeitig vor dem Trubel rund um die WM.

Ein Ort der Zweideutigkeiten

Katar ist ein Ort der Zweideutigkeiten, das wird auch in der "Education City" deutlich. Auf dem Campus im Westen von Doha haben sich seit Anfang des Jahrtausends ein Dutzend Außenstellen renommierter Universitäten angesiedelt. Sie stammen aus den USA, Großbritannien und Frankreich, drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. "Die Netzwerke mit dem Westen sind für Katar eine Art Lebensversicherung", sagt der deutsche Politikwissenschaftler Danyel Reiche, der an der Georgetown-Universität in Doha lehrt. "Ohne diese Netzwerke wäre Katar vielleicht schon angegriffen worden."

In der konfliktreichen Region am Persischen Golf liegt Katar auf einer kleinen Halbinsel, umgeben von den Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran, die eine erbitterte Feindschaft verbindet. Katar ist mit seinen 2,6 Millionen Einwohner*innen seinen Nachbarn militärisch klar unterlegen. Vor allem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate blicken misstrauisch auf den wachsenden Einfluss Dohas. Eine Allianz unter Führung Saudi-Arabiens belegte Katar zwischen 2017 und 2021 mit einer wirtschaftlichen Blockade und setzte die diplomatischen Beziehungen zum Land aus. Doha musste neue Importwege für Lebensmittel und neue Routen für seine Fluglinie organisieren. Viele Katarer hatten Angst vor einem Einmarsch Saudi-Arabiens.

In diesem Klima will sich das Herrscherhaus sicherheitspolitisch und kulturell an den Westen binden. Auch die Öffentlichkeit in Medien und Forschung soll diese Annäherung transportieren. Danyel Reiche etwa forschte lange an der Amerikanischen Universität Beirut. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft nahm er eine Einladung aus Doha an. An der Georgetown-Universität kuratiert er ein mediales Angebot von Podcasts, Blogs und Gesprächsrunden. Zudem verlegt er wissenschaftliche Bücher und verfasst Aufsätze. Reiche legt den Fokus auf strittige Themen wie Frauen- und Arbeitsrechte in Katar, aber auch auf selten diskutierte Fragen im Breitensport und in der Fußballfankultur. Häufig wird er aus Deutschland als Katar-Experte für Interviews und digitale Podien angefragt.

Hunderte Wissenschaftler*innen, die aus westlichen Demokratien stammen, forschen und lehren in Doha. Legitimieren sie damit das autoritäre Herrscherhaus und verbreiten staatliche Narrative? "In meinem Vertrag steht, dass wir Wissenschaft so frei gestalten können wie an unserem Hauptstandort in Washington", sagt Danyel Reiche. "Wir können in Katar zu einem sozialen Wandel beitragen. In China oder Russland wäre das viel schwerer möglich."

"Es gibt realpolitische Gründe, warum Deutschland mit autokratischen Staaten zusammenarbeiten sollte." 

Sebastian Sons, Forscher im Nahost-Netzwerk Carpo in Bonn

Wer sich in der Wissenschaft in Doha umgehört, stößt auch auf Frust, zum Beispiel an der Kommunikations-Hochschule Northwestern, die ihren Hauptsitz in Illinois hat. Mehr als 350 Studierende sind an der Außenstelle in Doha eingeschrieben, die Hälfte stammt aus Katar. Frauen und Männer lernen gemeinsam, das ist in der patriarchalen Gesellschaft nicht selbstverständlich. "In vielen westlichen Medien besteht eine Voreingenommenheit gegenüber der Golfregion", sagt Susan Dun, die dienstälteste Wissenschaftlerin der Northwestern. "Komplexe Themen werden stark vereinfacht." Susan Dun hat viele Artikel gelesen, die mit Kamelen und "Ölscheichs bebildert wurden. Sie erwähnt Porträts von Sportlerinnen, die auf den Hijab reduziert wurden. "Es gibt in Katar noch immer Probleme, aber auch Fortschritte sollten beschrieben werden."

Etliche Studierende, die sich an der Northwestern mit Journalismus beschäftigen, arbeiten später in den Pressestellen der Ministerien. Denn sie wissen: Der Markt für kritischen Journalismus ist klein. Eine der wenigen Stationen, in denen sie unterkommen können, ist BeIN Sports in Doha. Der Sender war 2003 als Ableger von Al Jazeera gegründet worden, ist seit 2012 eigenständig und hält eines der größten Sportrechteportfolios weltweit.

Als ein medialer Leuchtturm Katars wurde BeIN Sports in den politischen Konflikt hineingezogen. Kurz nach Beginn der wirtschaftlichen Blockade Katars durch seine Nachbarn 2017 ging ein neuer Sender an den Start: BeoutQ strahlte den gleichen Inhalt wie BeIN Sports aus, die gleichen Spiele, Kommentare, Analysen, allerdings mit eigenen Logos, Grafiken und Werbeblöcken. Mit diesem Piratensender wollte Saudi-Arabien seinen Nachbarn schwächen. In den Regionen, wo BeoutQ zu empfangen war, gingen die Abozahlen von BeIN Sports zurück. Mit dem Ende der Blockade ging auch BeoutQ wieder vom Netz.

Es sind Entwicklungen wie diese, die katarische Offizielle in Interviews häufig betonen. Katar als Opfer von Intrigen seiner Nachbarn. Und nicht, wie im Westen oft beschrieben, als Urheber von Menschenrechtsverletzungen. Tatsächlich bestehen auch in demokratischen Ländern wie Deutschland Abhängigkeiten: Katar hält Anteile an Volkswagen, der Deutschen Bank oder Hapag-Lloyd. Deutsche Konzerne wie Siemens, die Deutsche Bahn oder SAP haben die Infrastruktur in Doha mitentwickelt.

"Die Reproduktion von immer gleichen Bildern zu Katar und die teilweise ungenaue Berichterstattung führen dazu, dass die katarische Regierung berechtigte Kritik beiseite wischen kann." 

Robert Chatterjee, stellvertretender Chefredakteur des Nahost-Magazins Zenith 
  

"Wer ein differenziertes Bild zeichnet, wird schnell als Autokraten-Flüsterer in eine Schublade gesteckt", sagt Sebastian Sons, Forscher im Nahost-Netzwerk Carpo in Bonn. "Es gibt realpolitische Gründe, warum Deutschland mit autokratischen Staaten zusammenarbeiten sollte." Nach der Machtübernahme der Taliban half Katar bei der Evakuierung Zehntausender Menschen aus Afghanistan. Und bald könnte die Bundesrepublik auf katarisches Flüssiggas angewiesen sein. Sebastian Sons nennt in seinem neuen Buch Menschenrechte sind nicht käuflich auch andere Felder, auf denen Deutschland und Katar kooperieren könnten: bei erneuerbaren Energien, im Breitensport oder im Kulturbereich. Sons sagt: "Medien sollten über die Hintergründe gemeinsamer Interessen noch mehr aufklären." Das gilt auch für die Fußball-Weltmeisterschaft. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF zahlen wohl mehr als 200 Millionen Euro, um Bilder aus den Stadien in Katar senden zu dürfen. Auch Zeitungen und Onlineportale hoffen auf höhere Auflagen und Klickzahlen, sollte die deutsche Mannschaft erfolgreich spielen. ARD und ZDF haben seit der WM-Vergabe nach Katar im Jahr 2010 immer wieder kritische Dokus gesendet. Private Organisationen wie Sky, Magenta TV oder meinsportpodcast.de, die sich sonst eher auf das Sportliche konzentrieren, zogen mit aufwendigen Rechercheformaten nach.

Immer gleiche Bilder

Kann die WM dafür sorgen, dass Sportredaktionen hierzulande politische Fragen mehr in den Blick nehmen? Oder führt sie zu orientalistischen Klischees und einem Überlegenheitsdenken gegenüber dem Nahen Osten? "Wir beobachten, dass Sportredaktionen und Nahostkorrespondent*innen teils sehr unterschiedliche Blickwinkel auf die WM haben", sagt Robert Chatterjee, stellvertretender Chefredakteur des Nahost-Magazins Zenith. "Die Reproduktion von immer gleichen Bildern zu Katar und die teilweise ungenaue Berichterstattung führen am Ende dazu, dass die katarische Regierung berechtigte Kritik beiseite wischen kann." Chatterjee und sein Zenith-Kollege Leo Wigger haben ein Buch über die WM geschrieben.

In Katar sind Diskussionen, die Kritik am Herrscherhaus oder am Islam äußern, nicht möglich. Doch in den vergangenen Monaten erschienen hin und wieder Artikel über Missstände in Unternehmen und über Korruption in der Verwaltung. Das Onlineportal Doha News griff die Recherchen des WDR-Reporters Benjamin Best über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen auf. Es kann sein, dass sich Katar kurz vor der WM als liberaler präsentieren möchte, als es tatsächlich ist. Doch es gab andere Zeiten, etwa 2016. Damals wurde Doha News vorübergehend von der Regierung blockiert.

Der Journalist Ronny Blaschke ist auf politische Themen in der Sportindustrie spezialisiert. Sein Buch: Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution. Frank Höhne ist Illustrator in Berlin.  

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