Ukraine

Depesche aus dem Krieg

05.03.2023

Fast ein Jahr lang habe ich den Ukraine-Krieg aus der Ferne verfolgt. Dann stand ich vor den qualmenden Trümmern eines Wohnblocks. Unter Schutt begraben lagen 47 Menschen, die nur wenige Stunden zuvor bei einem Raketenangriff getötet wurden. Das war der Moment, der mir endgültig klarmachte, dass ich am richtigen Ort war. Text: Carsten Stormer

"Fast ein Jahr lang habe ich in meiner Wahlheimat Manila nach Gründen gesucht, nicht in die Ukraine zu reisen und von dort über den Krieg zu berichten", schreibt Carsten Stormer. Anfang 2023 ist er doch hingefahren.

Fast ein Jahr lang habe ich in meiner Wahlheimat Manila nach Gründen gesucht, nicht in die Ukraine zu reisen und von dort über den Krieg zu berichten. Zu weit weg! Als freier Journalist könne ich nicht mit großen nationalen und internationalen Medienhäusern konkurrieren! Zu wenig Hintergrundwissen! Zu gefährlich! Zu viele andere weltbewegende Themen auf dem Schreibtisch!

Alles gute Gründe, wohlüberlegte Kopfgeburten. Aber der Bauch war anderer Meinung.

Denn seit der Invasion verging kein Tag, an dem ich nicht den Kriegsverlauf verfolgte, Drohnenvideos ukrainischer Angriffe auf russische Stellungen schaute, Analysen von Militärexperten las. Ich besorgte mir Übersetzungen von Putins Reden und tat mir Talkshows im russischen Staatsfernsehen an, in denen Propagandisten zum Kampf gegen das „schwule jüdische Naziregime“ in Kiew aufriefen.

„Nach zehn Monaten halte ich es nicht länger aus, entstaubte meine schusssichere Weste, buche einen Flug nach Warschau und fahre von dort mit dem Nachtzug nach Kiew.“

Während also in der Ukraine Weltgeschichte geschrieben wurde, berichtete ich über den Drogenkrieg in den Philippinen, drehte eine Dokumentation über Goldsucher und einen Film über einen Priester, der sich mit dem philippinischen Präsidenten anlegt. Relevante Themen, die mir am Herzen lagen, aber im Schatten der Ereignisse in der Ukraine seltsam bedeutungslos erschienen. Nach zehn Monaten hielt ich es nicht länger aus, entstaubte meine schusssichere Weste, buchte einen Flug nach Warschau und fuhr von dort mit dem Nachtzug nach Kiew.

Jetzt also doch.

Ich habe den Auftrag eines deutschen Fernsehsenders, eine Reportage über Menschen zu drehen, die in der Ukraine Kriegsverbrechen aufklären – ein Thema, das mir wichtig ist. Berichte über Kriegsverbrechen der russischen Armee sorgen seit Beginn der Invasion für Entsetzen. Irpin, Butscha, Dnipro – Ortsnamen, die zu Symbolen der Unmenschlichkeit geworden sind. Ukrainische Behörden untersuchen derzeit etwa 58.000 mögliche russische Kriegsverbrechen. Zwei Wochen werde ich vor Ort 3.300 Kilometer mit einem verbeulten Kia von Kiew nach Charkiw fahren, von dort weiter ins zerstörte Isjum, wo ich mit einem 71-jährigen Korbmacher sprach, der zehn Tage lang von russischen Soldaten gefoltert wurde. Am Ende dieser Reise stehe ich vor einem Wohnblock, unter dessen Trümmern 47 Menschen liegen.

Wir sind in der Region von Cherson unterwegs, begleiten ukrainische Ermittler, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren. Wir sprechen mit einer Frau, deren Tochter von russischen Soldaten mitgenommen wurde und seitdem verschwunden ist, und mit einem alten Dorfvorsteher, den russische Soldaten verhaftet hatten, 23 Tage lang lang gefangen hielten und der in dieser Zeit geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert wurde. Als am Nachmittag der Raketen- und Artilleriebeschuss von der anderen Seite des Dnipro-Flusses heftiger wird, beschließen wir, zurück in unser Hotel in Krywyj Rih zu fahren, der Geburtsstadt von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Gerade als wir in die Stadt fahren, explodiert wenige hundert Meter neben uns eine russische Rakete und ein Feuerball erleuchtet den Nachthimmel. An einem Checkpoint halten wir an und parken das Auto hinter ein Betonbarrikade.

Im ganzen Land war es an diesem Winternachmittag zu Raketenangriffen gekommen, unter anderem in Kiew, Cherson, Charkiw, Lwiw. Es sind die heftigsten Angriffe seit Neujahr. Gleich darauf kamen die ersten Schreckensmeldungen, dass ein neunstöckiger Wohnblock in der Großstadt Dnipro zerstört worden sei. Im Internet Videos von rauchenden Trümmern, Helfern, die verzweifelt nach Überlebenden suchen. Von fünf Toten und Dutzenden Verletzten ist die Rede. Auf Videos, die unmittelbar nach dem Angriff gepostet werden, hört man unter Trümmern eingeschlossene Menschen rufen und Schreie der Schwerverletzten.

„Am Ende dieser Reise stehe ich vor einem Wohnblock, unter dessen Trümmern 47 Menschen liegen.“

Auch 15 Stunden nach dem Angriff quillt noch Rauch aus den Trümmern des Hauses an der Uferstraße des Sieges 118. Die Rakete, vermutlich eine Langstreckenrakete vom Typ KH-22, die mit einem 1.000 Kilo Sprengkopf bestückt ist, hat den Plattenbau in der Mitte durchtrennt. Ein riesiges Loch klafft dort, wo nur Stunden zuvor Familien den Samstagabend in ihren Wohnungen verbrachten, vor der Kälte Schutz suchten, den Krieg ertrugen.

Die Todeszahlen steigen

Als wir eintreffen, führen Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, Soldaten, Polizisten und freiwillige Helfer einen Wettlauf gegen die Zeit. Hinter einem Absperrband stehen geschockte Bewohner in Eiseskälte und sehen zu, wie Kräne und Bagger die Trümmer beiseiteräumen, Schicht um Schicht. Freiwillige verteilen Essen und warme Decken, schenken Tee aus. Polizisten nehmen Personalien und Zeugenaussagen auf, ein anderer hilft einer Mutter, ihren Bollerwagen mit ein paar geretteten Habseligkeiten über die Bordsteinkante zu tragen, während ihr kleiner Sohn, warm eingepackt in Winteroverall und Pudelmütze, geschockt und verwirrt vor dem Absperrband auf die qualmende Ruine starrt, bis ihn ein Sanitäter sanft zu seiner Mutter schiebt. Seit unserer Ankunft ist die Todeszahl auf 17 gestiegen. Männer des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes fragen freundlich, aber bestimmt nach den Akkreditierungen der anwesenden Journalisten. Die Sorge ist groß, dass sich russische Agenten, als Journalisten getarnt, unter die Zuschauer gemischt haben könnten, um zu dokumentieren, was ihre Angriffe angerichtet haben. Sie sind misstrauisch.

Vor einem blauen Zelt stehen Dutzende Menschen Schlange, junge Paare, Frauen in Pelzmänteln, alte Menschen, Kinder, die sich an ihre Mütter klammern. Es sind die Bewohner des Hauses an der Uferstraße des Sieges 118. Sie wirken erstaunlich ruhig. Kaum jemand spricht, viele tippen auf ihren Telefonen. Eine Frau beginnt zu weinen, als sie das Zelt betritt, um Formulare der Stadtverwaltung auszufüllen. In der Schlange stehen auch Katharina und ihr Mann Andrej, ein Paar Anfang dreißig. Katharina zeigt auf den Trümmerhaufen „Da oben hatten wir unsere Wohnung“, sagt sie. Das Paar will erfahren, wie es weitergeht, ob es Hilfe von der Regierung gibt, eine Entschädigung, eine Ersatzunterkunft für ihre Mieter. Sie hatten ihre Wohnung im vierten Stock an eine Flüchtlingsfamilie aus Donezk vermietet, Eltern, zwei Kinder im Grundschulalter und deren Großmutter. „Die Familie hat wundersamerweise überlebt“, erzählt Katharina. Eigentlich gingen sie immer sonntags zum Gottesdienst. Doch gestern hätten sie beschlossen, ausnahmsweise samstags die Kirche zu besuchen. Das hat ihnen das Leben gerettet. Nur die Großmutter sei zu Hause geblieben. „Wir wissen nichts über ihr Schicksal. Sie liegt unter den Trümmern begraben.“ Katharina kann sich nicht vorstellen, dass sie bei Minustemperaturen die Nacht überlebt hat. Jetzt stehen sie hier mit vielen Fragen und wenigen Antworten. „Wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen“, sagt ihr Mann Andrej leise.

Vor Katharina und Andrej warten Pjotr Wassilowitsch und dessen Enkelin Elena. Die junge Frau versucht, ihren in der Kälte zitternden Großvater zu wärmen, reibt seine Hände und umarmt ihn immer wieder. „Ich bin so froh, dass er noch am Leben ist“, sagt sie und blickt in das Gesicht des alten Mannes, das von blutigen Schrammen und Schnitten übersät ist. Sie lacht verlegen, dann schießen ihr Tränen in die Augen und sie entschuldigt sich für den Gefühlsausbruch. „Aber ich bin immer noch ganz durcheinander.“

„Eigentlich gingen sie immer sonntags zum Gottesdienst. Doch gestern hätten sie beschlossen, ausnahmsweise samstags die Kirche zu besuchen. Das hat ihnen das Leben gerettet.“

Pjotr Wassilowitsch befand in seiner Wohnung im siebten Stock, als die Rakete einschlug. „Schau, da war ich drin“, sagt der alte Mann und zeigt auf das Loch in der Hausfassade. „Die Explosion hat mich unter mein Bett geschleudert“, erzählt er. „Die Druckwelle war so heftig, dass es sich anfühlte, als ob mein Fleisch von den Knochen gesaugt wird.“ Er war zu schwach, um sich selbst zu befreien. Die Wohnungstür hatte sich verklemmt. „Ich hatte nur ein Feuerzeug“, damit hat er versucht, in der Dunkelheit auf sich aufmerksam zu machen. Aber die Retter am Boden hätten ihn nicht bemerkt.

„Ich habe gleich bei ihm angerufen, als ich erfahren habe, dass die Rakete das Wohnhaus getroffen hat. Er ging ran, aber sofort brach die Verbindung zusammen“, erzählt Elena. Aber immerhin weiß sie jetzt, dass er am Leben ist. Glücklicherweise kennt sie jemanden vom Rettungsdienst. Elena ruft ihren Bekannten an und erzählt ihm, dass ihr Großvater den Angriff überlebt hat und in welchem Stock sich dessen Wohnung befindet. Kurz darauf befreien ihn Helfer aus seinem völlig zerstörten Wohnzimmer. „Die ganze Zeit habe ich nur gedacht, wie froh ich bin, dass Elena mich gestern nicht besuchen kam“, sagt der alte Mann, und die Enkelin umarmt ihn lange.

„Angst und Wut“

Der Angriff hat die Bewohner Dnipros schockiert. Viele Menschen sind gekommen, um ihre Anteilnahme zu bezeugen, stehen Arm in Arm in der Parkanlage vor dem Wohnkomplex, machen Fotos, manche weinen. Auf den Schalensitz einer Bushaltestelle, die von der Druckwelle zerstört wurde, hat jemand eine rote Rose gelegt. Neben dem Schock überwiegt bei den Einwohnern von Dnipro vor allem Fassungslosigkeit und Wut. In der Zuschauermenge steht Wladislaw, 18 Jahre alt. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen, wie fast alle hier. In Dnipro seien Zivilisten bislang kein Ziel gewesen, meint er. „Wir haben von Mariupol und Saporischschja gehört. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es auch uns treffen könnte.“ Nach diesem Angriff sei jetzt alles anders. Nun wisse er, dass es jeden treffen könnte. Angst? Ja. „Angst und Wut“, sagt der junge Mann. Jetzt will Wladislaw vor allem eines: Rache. „Ich möchte jeden Russen töten“, sagt er, blickt erschrocken in die Kamera und fragt schüchtern, ob er so etwas überhaupt sagen dürfe. Dann legt er einen Arm um seine Freundin, die mit ihrem Smartphone Fotos von der rauchenden Ruine macht, und blickt kopfschüttelnd auf seine Schuhspitzen.

Ein paar Schritte weiter steht Wadim, ein freiwilliger Helfer, Mitte Zwanzig, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. „Ich wohne nicht in dieser Gegend. Aber ich konnte nicht tatenlos zu Hause rumsitzen.“ Jetzt ist er hier, um zu helfen. Das helfe gegen den Schock, die Fassungslosigkeit, die Angst. „Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was in mir vorgeht. Vor diesem Angriff habe ich mich einigermaßen sicher gefühlt. Jetzt habe ich Angst.“

Gegen Mittag geschieht ein weiteres Wunder. Nach zwanzig Stunden und einer eiskalten Nacht unter Trümmern, finden Rettungsmannschaften im zerstörten dritten Stock des Wohnkomplexes eine Überlebende. Es dauert fast eine Stunde, bis die Frau geborgen ist und mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren wird. Damit steigt die Zahl der Geretteten auf 39, darunter sechs Kinder. 40 Menschen werden noch immer vermisst. Als wir Dnipro verlassen, ist die Zahl der Todesopfer auf 25 gestiegen.

In einem Krieg, in dem so viel auf dem Spiel steht, ist es als Berichterstatter kaum möglich, neutral zu bleiben. Als Journalist bin ich aber nicht unbedingt der Neutralität verpflichtet, sondern der Wahrhaftigkeit. Zeigen, was ist – selten war mir dies so bewusst wie vor diesem rauchenden Trümmerhaufen in Dnipro. Als die Aufräumarbeiten beendet sind, beträgt die Opferzahl 47 Menschen.

Carsten Stormer ist einer der erfahrensten Kriegsreporter in Deutschland. Seit Jahren berichtet er über Kriege und Krisen, er war in Syrien, Irak, Somalia, Afghanistan.

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