Burn-out im Journalismus

Der Flächenbrand

11.10.2023

Viele Journalist*innen sind ausgebrannt, Studien warnen vor einem Massen-Burn-out. Neue Initiativen wollen die Gesundheitskrise eindämmen. Doch was müsste geschehen, damit sich wirklich etwas ändert? Text: Sonja Peteranderl

Massen-Burn-out: Studien belegen alarmierenden Trend. Foto: Adobe Stock/Nithya

Hunderte von Glückwünschen fluten das Telefon und den Twitter-Account von Mar Cabra, als 2017 bekannt wird, dass sie und ihr Team den Pulitzer-Preis für ihre Panama-Papers-Recherchen erhalten. Die spanische Datenjournalistin ist aufgeregt, später geht sie aus, um zu feiern. Aber sie ist zu erschöpft, die Freude hält nicht lange an. „Nach der kurzen Euphorie fühlte ich mich innerlich leer, müde, sehr losgelöst von dem, was ich tat”, erinnert sie sich. „Da wurde mir klar: Wow, wenn das Erfolg ist, dann fühlt sich das gar nicht gut an.” Der prestigeträchtige US-Preis gilt als Höhepunkt einer journalistischen Karriere – für Cabra bedeutet er das Ende. „Mir wurde bewusst, dass ich mich in diesem ganzen Chaos erst mal selbst wiederfinden muss”, sagt sie.

Als Datenchefin beim Investigativrecherchenetzwerk International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) hatte sie sich zuvor monatelang durch Daten in unterschiedlichen Sprachen und Formaten gewühlt, Journalist*innen aus der ganzen Welt koordiniert, die in den Millionen geleakter Dokumente der dubiosen Kanzlei Mossack-Fonseca aus Panama die prominenten Kund*innen von Briefkastenfirmen, Geldwäsche und Korruption weltweit aufspürten. Zuvor hatte Cabra an Leaks wie Offshore Leaks, Lux Leaks oder Swiss Leaks gearbeitet – eine Dauerschleife aus Arbeit, Zeitdruck, Stress.

„Nach der kurzen Euphorie fühlte ich mich innerlich leer, müde, sehr losgelöst von dem, was ich tat. Da wurde mir klar: Wow, wenn das Erfolg ist, dann fühlt sich das gar nicht gut an.” Mar Cabra, Datenjournalistin, nach der Auszeichnung mit dem Pulitzer Preis für ihre Arbeit an den Panama Papers

Ihr Therapeut hatte ihr seit langem geraten, weniger zu arbeiten. „Ich erzählte ihm und den Leuten um mich herum, dass wir an etwas Wichtigem dran sind, ich nicht aufhören kann und ich nichts ändern kann”, sagt Mar Cabra – „Blabla”. Heute lacht sie über sich. Und redet offen über ihren Burn-out. Bis sie tatsächlich kündigt, dauert es auch nach dem Pulitzer-Aha-Moment noch Monate: „Ich hatte keine Energie, war frustriert und fühlte mich schuldig”, sagt sie. „Ich habe mich gefragt: Was ist falsch mit mir? Warum kann ich nicht so weitermachen wie die anderen?”

Doch Cabra ist nicht allein. Ständig am Limit sein oder längst darüber hinaus, von einer bis zur nächsten Deadline hetzen, mit Kopfschmerzen arbeiten, kaum Zeit für Familie, Freund*innen, Freizeit haben, sich zu fragen, wie andere das Arbeitspensum spielend zu schaffen scheinen – und trotzdem immer weiter im Hamsterrad rennen: Solche Zustände kennen viele Journalist*innen, nicht nur Investigativreporter*innen oder Korrespondent*innen in Krisen- und Konfliktregionen. Die Krise ist heute überall, befördert auch durch Sparmaßnahmen, schnellere Arbeits- und Newsrhythmen durch Digitalisierung, steigenden digitalen Hass und physische Angriffe auf Journalist*innen sowie die Folgen der Pandemie, die wie ein Brennglas wirkt. Burn-out, das Syndrom des Ausgebranntseins, die absolute psychische und körperliche Erschöpfung, ist mitterweile im Journalismus ein Flächenbrand – weltweit.

Alarmzeichen

Journalist*innen und Medien richten den Blick häufig viel zu spät auf die Missstände in der eigenen Branche, doch die Alarmzeichen sind kaum länger zu ignorieren. Während einige mentale Gesundheit immer noch nicht als zentrales Problem wahrnehmen, stellen andere Medien sich langsam auf die massive Herausforderung ein – wenn auch in eher kleinen Schritten. Einige Verlage und Sender setzen auf Angebote, die die Belastung der Mitarbeiter*innen lindern soll. Neue, teils von Burn-out-Betroffenen gegründete Initiativen versuchen, sich der Krise entgegenzustemmen – und Studien generieren Daten zu dem lange vernachlässigten Phänomen. Dabei wird offensichtlich: Es ist längst Alarmstufe Rot, auch in privilegierten, westlichen, sicheren Ländern wie Deutschland, Spanien oder den USA.

Einer kürzlich veröffentlichten Studie zu Burn-out im US-Lokaljournalismus des Center for Innovation and Sustainability in Local Media der UNC Hussman School of Journalism and Media in North Carolina zufolge haben rund 70 Prozent der 500 befragten Journalist*innen bereits einen Burn-out erlebt; jüngere Medienschaffende unter 45 Jahren sowie Frauen und nicht-binäre Menschen sind demnach besonders häufig ausgebrannt. „Burn-out ist die psychologische Antwort auf chronische Arbeitsbedingungen, die sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit beeinträchtigen”, schreiben die Forscherinnen Elizabeth Thompson und Katelyn Chedraoui. Die Studie offenbart die Folgen von einem Jahrzehnt voller Entlassungen und Veränderungen im US-amerikanischen Lokaljournalismus: „In diesen turbulenten Jahren mussten Journalist*innen oft eine höhere Arbeitsbelastung mit längeren, unregelmäßigen Arbeitszeiten bewältigen, während gleichzeitig ihr Einkommen gesunken ist”, so das Fazit. Fast drei von vier der Befragten hätten schon darüber nachgedacht, ihre Arbeit aufzugeben. Was sie dazu motivieren könnte zu bleiben? Eine bessere Bezahlung (39 Prozent).

≈ 70 % von 500 befragten US-Journalist*innen haben bereits einen Burn-out erlebt. – Studie des Center for Innovation and Sustainability in Local Media der UNC Hussman School of Journalism and Media

Auch der deutschen Medienbranche droht ein Burn-out-Drain: Die 2022 von der Otto-Brenner-Stiftung veröffentlichte Studie Arbeitsdruck – Anpassung – Ausstieg warnt vor Massen-Burn-out und einer damit einhergehenden Personalkrise. Es gebe „deutliche Hinweise auf psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz mit erhöhtem Risiko für Erkrankungen wie Burnout”, heißt es dort. Zwei Drittel der online Befragten fühlen sich demnach „schon vor der Arbeit müde” und geben an, dass die Arbeitsbelastungen „nicht zu ertragen” seien, 40 Prozent beschreiben sich als häufiger „emotional ausgelaugt“ – und viele Journalist*innen haben keine ausreichende Unterstützung durch ihre Arbeitgeber. Fast 60 Prozent aller Befragten, insbesondere jüngere Journalist*innen, haben zudem in den zwölf Monaten vor der Befragung wiederholt daran gedacht, ihren Beruf aufzugeben – zehn Prozent der Befragten sogar mehrmals pro Woche.

Neue Initiativen versuchen sich als Feuerlöscher. Netzwerk Recherche hat eine Helpline aufgebaut, eine kostenlose, vertrauliche Peer-to-Peer-Telefonberatung, die im November freigeschaltet werden soll. Rund ein Dutzend Journalist*innen, die eine gemeinsam mit dem Dart Centre Europe konzipierte Fortbildung absolviert haben und teils Vorerfahrungen wie eine Coachingausbildung oder ein Psychologiestudium besitzen, stehen als Ersthelfer*innen für mentale Gesundheit bereit. Das Angebot bietet dem Projektleiter Malte Werner zufolge „eine Art Kolleg*innengespräch”. „Wir wollen vor allem ein Ventil für den Druck sein, der sich angestaut hat”, sagt Werner. Bei akuten Notfällen, die professionelle Therapeut*innen erfordern, müsse das Team die Anrufer*innen aber weitervermitteln, schränkt er ein. Die Finanzierung ist für ein halbes Jahr gesichert, Werner hofft, dass weitere Geldgeber*innen einsteigen.

Am Abend – Smartphone aus

Auch Mar Cabra versucht die Erkenntnisse, die sie während ihrer Auszeit hatte, an Kolleg*innen weiterzugeben: „Ich möchte dazu beitragen, das Stigma zu reduzieren, deutlich zu machen, dass wir einfach Menschen sind und auch psychische Probleme haben können – genauso wie körperliche Probleme.” Um ihren Burn-out zu erforschen und zu verarbeiten, zog sie damals in einen spanischen Strandort, schaltete ab, änderte ihre Routinen. Ihr wurde bewusst: Bei den meisten Burn-out-Betroffenen treffen strukturelle Faktoren wie berufliche Stressfaktoren mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zusammen – sie sind leistungsorientiert, engagiert, ehrgeizig und oft perfektionistisch. „Ich habe einen Hang zum Workaholic, wenn ich meinen Job liebe, bin ich mit vollem Herzen dabei”, sagt Mar Cabra. „Aber ich weiß jetzt, dass ich erst mal gesund sein muss, um meine Mission zu erfüllen. Es fängt alles bei einem selbst an.” Beim Telefoninterview mit dem journalist rennt Mar Cabra zur Tür hinaus: Sie joggt während ihres „Walking Meeting” an der Küste entlang, im Hintergrund Mofageräusche und Meeresrauschen. Am Abend wird sie ihr Smartphone abschalten – kleine Hacks für eine bessere Balance.

Zu Beginn der Pandemie habe sich auf einmal eine Flut internationaler Journalist*innen an sie gewandt und um Rat gebeten – alle fühlten sich „gestresster als je zuvor”. Cabra wusste, dass das Problem nicht mit der Pandemie verschwinden würde und baute The Self-Investigation auf, eine NGO, die Workshops und eine Online-Akademie zu Themen wie mentale Gesundheit, Stressmanagement oder emotionaler Regulierung anbietet. „Psychische Gesundheit ist aktuell für Journalist*innen die größte Herausforderung, wir sehen hohe Raten von Angstzuständen, Depressionen, Burn-out, auch posttraumatische Belastungsstörungen, egal ob in stabilen Ländern wie Kanada bis hin zu Ländern wie Venezuela”, sagt sie. „Wenn wir die Zukunft des Journalismus sichern wollen, müssen wir uns um die Gesundheit von Journalist*innen kümmern.” Sie will verhindern, dass die Branche noch mehr Talente verliert. „Es ist sehr wichtig, offen damit umzugehen, weil viele ähnliche Storys haben”, sagt sie. „Ich habe das Privileg, dass ich auch mit dem Pulitzer-Preis eine gewisse Position erreicht habe, das Privileg hatte, aufzuhören, um mich zu erholen, was sich viele nicht leisten können.”

Cabras Team schult Medienhäuser mit Workshops, auch in Deutschland und Großbritannien. Denn Selfcare-Konzepte können vielleicht im Kleinen helfen, doch damit der Druck nachhaltig sinkt, muss sich das System strukturell verändern. Führungskräfte müssten Cabra zufolge Signale für psychische Belastung deuten können – und Präventions- und Unterstützungsstrategien einführen. „Wir müssen Wohlbefinden und mentale Gesundheit in Redaktionen systematisieren und operationalisieren”, fordert sie. „Manager*innen solllten eine Checkliste im Kopf haben, sodass bei Recherchen auch mentale Gesundheit berücksichtigt wird – das ist der nächste Schritt und fängt langsam an.” Vor allem Großbritannien, Kanada und teils die USA sieht sie derzeit als Pioniere dieser Veränderung.

„Psychische Gesundheit ist nie nur eine Frage des Einzelnen, sondern untrennbar verknüpft mit dem Unternehmen, den Führungskräften, der Kultur.“ Barbara Hans, die ehemalige Spiegel-Chef­redakteurin ist heute Professorin für Medienmanagement

Der Spiegel hat etwa während der Pandemie eine externe psychologische Telefonberatung engagiert – einige Mitarbeiter*innen haben von dem Angebot profitiert, doch es erreichte längst nicht alle, die es gebraucht hätten. „Ich habe mich zu schwach gefühlt, um dort anzurufen”, sagt ein Spiegel-Journalist. Irgendwie schaffte er es zwar zu funktionieren, sein Arbeitspensum abzuleisten, doch zeitweise habe er sich im Homeoffice zwischendurch ins Bett gelegt und „depressiv an die Decke gestarrt“. Neben dem hohen Stresslevel unter Pandemiebedingungen habe ihn die fehlende Empathie von Vorgesetzten stark belastet. Doch er glaubt auch: „Anderen ging es noch schlechter.” Zudem habe er Bedenken gehabt, ob die Beratung tatsächlich anonymisiert werde – oder am Ende nicht doch etwas zu seiner Ressortleitung durchdringen könne.

Im Arbeitsschutz verankert

In Deutschland ist psychische Gesundheit im Arbeitsschutzgesetz verankert. Aber: „Viele Unternehmen wissen nicht, dass sie seit Ende 2013 als Arbeitgeber*innen dazu verpflichtet sind, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen“, kritisierte Benthe Untiedt von Shitshow – Agentur für psychische Gesundheit in einem Interview mit dem Magazin Neue Narrative. Mit der Gefährdungsbeurteilung sollen Risikofaktoren wie Führungsstil, Krankheitstage oder Überstunden analysiert und Maßnahmen zum Schutz von Mitarbeiter*innen entworfen werden.

Das Dart Centre Europe, das Workshops für Medien zum journalistischen Umgang mit Trauma und traumatisierten Gesprächspartner*innen anbietet, organisiert derzeit Hintergrundgespräche mit Führungskräften deutscher Medien. „Wir versuchen herauszufinden, wo die konkreten Bedürfnisse liegen, denn allgemeine Gespräche über mentale Gesundheit und Trauma bringen uns nicht weiter”, sagt Juliana Ruhfus, Leiterin des Dart Centre Europe. „Führungskräfte haben aber oft Bedenken, offen und öffentlich über psychische Probleme zu sprechen, das heißt, wir brauchen unbedingt mehr Forschung und Studien.”

Barbara Hans, Professorin für Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und frühere Spiegel-Chefredakteurin, hat das Projekt gemeinsam mit dem Dart Centre initiiert. Sie forscht und lehrt unter anderem zu resilienter Führung. „Psychische Gesundheit ist nie nur eine Frage des Einzelnen, sondern untrennbar verknüpft mit dem Unternehmen, den Führungskräften, der Kultur“, sagt sie. Hans beobachtet, dass deutsche Medien sich zunehmend intensiv mit mentaler Gesundheit beschäftigen. Sie arbeitet als Coach mit Medienunternehmen, aber auch mit einzelnen Personen zusammen. „Führungskräfte ganz unterschiedlicher Medienorganisationen sind schon auf mich zugekommen“, sagt Hans. Dabei sieht sie eine Entwicklung: „Gestartet sind viele Unternehmen mit einer Art Gießkannenprinzip.“ Sie hätten allgemeine Beratungsangebote eingeführt – täten sich aber schwer damit, auch die Strukturen zu verändern. „Wenn man es nicht schafft, eine vertrauensvolle Führungskultur aufzubauen, bringen allgemeine Angebote wie anonyme Hotlines wenig”, warnt Hans. „Sie werden dann kaum wahrgenommen.“

„Ich habe immer mehr gemerkt, wie sehr mich die Branche als junge Journalistin fordert, wie oft ich mich schlecht gefühlt habe, wenn ich in den Vergleichsstrudel mit anderen Journalist*innen geraten bin.“ Larena Klöckner, die Journalistin machte 2022 ihre Depression öffentlich

Das schlechte Gefühl, sich schwach zu fühlen, oder Angst vor möglichen Konsequenzen hält viele davon ab, sich Hilfe zu suchen. Die, die auch öffentlich über ihren Burn-out reden und versuchen, etwas dagegen zu tun, sind meist Frauen. Das beobachtet auch Mar Cabra bei ihren Kursen von The Self-Investigation: Rund 70 Prozent der Teilnehmer*innen sind ihr zufolge weiblich. „Dass Frauen eher Hilfe suchen, bedeutet nicht, dass Männer es nicht fühlen”, so Cabra. „Frauen reden eher über psychische Probleme, Männer öffnen sich seltener, und wenn sie es tun, könnte es zu spät sein – Männer begehen in den meisten Ländern häufiger Suizid.” Andererseits lässt sich ein höheres Burn-out-Risiko für Frauen auch aus mehr Stressfaktoren ableiten: wie schlechtere Arbeitsbedingungen und Gehälter plus Sorgearbeit wie Haushalt, Kinder oder Pflege – Belastungen, die sich weltweit während der Pandemie nochmals vergrößert haben.

„Man kämpft sich so durch“

„Ich habe kein bisschen auf mich geachtet, immer nur funktioniert, mich auf die Arbeit konzentriert, um meine Kinder und mich durchzubringen”, sagt eine alleinerziehende Journalistin. „Man kämpft sich so durch.” Sie galt als „High Potential”, war als Führungskraft für einen öffentlich-rechtlichen Sender viel unterwegs, ernährte sich tagsüber fast nur von Schokoriegeln. Jahrelang hatte sie sich von einem befristeten Vertrag zum anderen gehangelt, wie viele Mitarbeiter*innen im ÖRR. Auf Kolleg*innen wirkte sie immer genervt, weil sie so laut schnaufte. Dabei bekam sie vor lauter Stress keine Luft mehr. Sie habe versucht, sich irgendwie arbeitsfähig zu halten – bis sie nicht mehr aufstehen konnte.

„Mein Körper hat mir oft die dunkelgelbe Karte gezeigt und ich habe es ignoriert”, sagt sie. „Aber in einem Moment bin ich in eine Intrige hineingelaufen und dachte, ich verliere meinen Job.” Am nächsten Morgen konnte sie nicht mehr aufstehen, hatte drei Wochen lang Migräne, Panikattacken, schlief nicht mehr. Ihre Hausärztin schickte sie in eine Klinik. Ihre Vorgesetzte hatte Verständnis, besuchte sie, doch ein offizielles Gesprächsangebot im Sender gab es nie. „Es war irgendwie meine Privatsache und wurde als Einzelfall betrachtet, nicht als Strukturproblem”, sagt die Journalistin. Auch sie findet, sie habe sich selbst überfordert, sei überambitioniert gewesen. „Die Leute ticken schon so, und dann wird das von den Medien gefördert oder ausgenutzt”, glaubt sie. In der Klinik hätte sie zehn Wochen bleiben sollen, nach acht Wochen kam sie zurück – wegen ihrer kleinen Kinder.

Sie glaubt, dass sich die Narrative im Journalismus dringend ändern müssen: „Ein Journalist alter Schule ist ja quasi übermenschlich: Er ist männlich, total objektiv und neutral, schwebt über den Dingen, hat keine eigenen Ansichten – und er hat auch keine Probleme”, sagt sie. „Aber das kollidiert total mit der Arbeitswirklichkeit.” Ob sich mittlerweile in ihrem Sender etwas geändert habe? Sie glaubt das nicht: „Diese Kultur wird immer noch gepflegt, die Menschen werden ausgeblendet.” Sie hat heute eine neue Position, in der sie „nicht mehr im Haifischbecken schwimmen muss”. Ihr Burn-out sei aber nie vorbei: Arbeitet sie ein paar Tage zu viel, bekommt sie wieder Migräne. Im Sender hätten viele Kolleg*innen sie informell auf ihren Burn-out angesprochen, sich Tipps geholt. Auch vor ihr habe es Fälle gegeben, die aber nicht offen über ihre Erfahrungen sprachen. – „Die waren dann teils einfach weg vom Fenster.”

≈ 60 % aller Befragten, insbesondere jüngere Journalist*innen, haben in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt daran gedacht, ihren Beruf aufzugeben. – Studie des Center for Innovation and Sustainability in Local Media der UNC Hussman School of Journalism and Media

Es sei „noch immer ein Tabu, im Arbeitskontext über psychische Probleme zu sprechen”, glaubt auch die freie Journalistin Larena Klöckner. Es würden zwar langsam mehr Menschen über ihre Erfahrungen reden – aber „solange die Menschen, die über die Themen sprechen, damit rechnen müssen, negativ von Arbeitgeber*innen eingeschätzt zu werden, sind wir noch lange von einer Enttabuisierung entfernt”, findet sie. Sie warnt davor, dass Maßnahmen für psychische Gesundheit „als Aushängeschild benutzt” werden, ohne dass Redaktionen sich wirklich mit dem Thema befassen. „Ich glaube, die Realität sieht oft immer noch so aus: Wenn es etwa um eine Festanstellung geht, wird die große Mehrheit der Führungspersonen eine vermeintlich gesunde Person bevorzugen”, kritisiert sie.

Ende 2022 gründete Klöckner das Mediennetzwerk Mentale Gesundheit, in dem sich Journalist*innen über alltägliche und berufsspezifische Belastungen und Herausforderungen austauschen sollen. Auch Expert*innen werden in dem Netzwerk ihre Expertise rund um mentale Gesundheit mit Journalist*innen teilen. Mit ihrer Initiative will die Gründerin auch die mediale Berichterstattung über mentale und psychische Gesundheit verbessern. Auf Twitter @menthealthmedia empfiehlt das Netzwerk ausgewählte Artikel rund um das komplexe Themenfeld.

Larena Klöckner weiß, wie es sich anfühlt, unter dem Druck der Medienbranche zu stehen – lange dachte sie aber, das läge nur an ihr. „Ich habe immer mehr gemerkt, wie sehr mich die Branche als junge Journalistin fordert, wie oft ich mich schlecht gefühlt habe, wenn ich in den Vergleichsstrudel mit anderen Journalist*innen geraten bin”, sagt sie. „Mich hat dauerhaft der Gedanke begleitet, nicht genug zu tun und dadurch irgendwie zu versagen.” Zur Arbeitsbelastung komme gerade bei jungen, noch nicht etablierten Journalist*innen der Zwang zur Selbstvermarktung hinzu: „Eine Präsenz auf Twitter, Instagram und auch Linkedin ist für viele Arbeitgeber*innen potenziell wichtiger geworden”, beobachtet Klöckner. „Das führt natürlich dazu, dass gerade jungen Journalist*innen vermittelt wird, stets online präsent sein zu müssen, um etwa ihre Arbeiten zu teilen oder eine Meinung zu einem bestimmten Thema zu posten.”

Nur wenige junge Journalist*innen schaffen es, sich dem Social-Media-Performance-Druck zu entziehen. Die freie Investigativjournalistin Sarah Ulrich war genervt von der digitalen Selbstvermarktung vieler Journalist*innen, die auf Twitter zum Jahresbeginn 2022 neue Jobs und Erfolge ankündigten – Ulrich konterte mit Ironie und Ehrlichkeit. „In eigener Sache: 2022 fange ich keinen fancy neuen Job an”, schrieb sie. „Aber ich erlaube mir nach vielen Jahren endlich, in eine Traumaklinik zu gehen #MentalHealthMatters.”

Auch Larena Klöckner wandte sich im Juli 2022 mit dem Übermedien-Text „In eigener Sache: Ich habe Depressionen“ an die Öffentlichkeit – und erhielt viel positives Feedback. Viele Kolleg*innen wandten sich mit ähnlichen Erfahrungen an sie. „Gesellschaftlich sind psychische Erkrankungen noch immer mit vielen Vorurteilen besetzt, deshalb ist es für Betroffene oft nicht leicht, darüber zu sprechen, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden”, sagt Klöckner. Die größte Angst habe sie davor gehabt, nicht mehr als gute und leistungsfähige Journalistin gesehen zu werden. Dabei habe die Depression ihre Arbeit kaum beeinflusst; sie sei gerade während ihrer depressiven Phasen oft am leistungsfähigsten gewesen – vor und nach der Arbeit sei sie dann aber wieder in Tiefphasen gefallen. Auf ihren Text habe sie viel positives Feedback erhalten: „Das Wissen darüber, wie groß dieser Effekt sein kann, wenn öffentlich über die Situation gesprochen wird, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen”, sagt sie.

Auch Mar Cabra kennt das: Die Angst vor Folgen, Befürchtungen, sie werde für schwach gehalten, keine Jobs mehr bekommen. Auch die Journalist*innen, die sich an The Self-Investigation wenden, möchten oft anonym bleiben. „Man denkt immer, man ist die einzige Person, der es so geht”, weiß Mar Cabra aus eigener Erfahrung. Erst lange nach ihrem eigenen Zusammenbruch hat sie erfahren: Mindestens drei Top-Journalist*innen aus dem ICIJ-Netzwerk hätten nach den Panama Papers ebenfalls einen Burn-out gehabt.

Juliana Ruhfus vom Dart Centre Europe beobachtet einen Generationswechsel, was mentale Gesundheit betrifft: „Während der Pandemie haben sich die Gespräche zum Thema mentale Gesundheit und Trauma geändert – aber vor allem gibt es eine neue Generation, der diese Konzepte geläufiger und wichtiger sind”, sagt Ruhfus. „Wir hören von jüngeren Menschen, dass sie sich die Firma, wo sie arbeiten wollen, danach aussuchen, wie mentale Gesundheit behandelt wird und wie viel Urlaub es gibt.” Es sei ein großer Wandel in Gang – auf den sich auch Medienkonzerne einstellen müssen. Ob sie wollen oder nicht.

Sonja Peteranderl ist Journalistin und Gründerin des Thinktanks BuzzingCities Lab.

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