Birand Bingül

"Der PR tut etwas Aufmischung mit journalistischer Expertise gut"

29.07.2022

Birand Bingül (48) ist mehrfach zwischen Journalismus und Kommunikation hin- und hergewechselt. Die Karriere des ehemaligen WDR-Kommunikators und Leiter der ARD-Kommunikation spielte sich dabei komplett im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ab – bis zu seinem Wechsel in die PR-Agentur Fischer-Appelt, für die er seit Februar eine neue Strategie-Einheit aufbaut. Der journalist hat mit ihm über Klischees und Bullshit-Bingo gesprochen, über agile Prozesse und über den Reformbedarf bei seinem ehemaligen Arbeitgeber. Interview: Anne Hünninghaus, Fotos: Patrick Essex.

Vom Leiter der ARD-Kommunikation zur PR-Agentur Fischer-Appelt: Birand Bingül (Foto: Patrick Essex)

journalist: Herr Bingül, in Meldungen zu Ihrem Wechsel war überall zu lesen, dass Ihre neue Unit für Kunden „Zukunftsnarrative“ vorantreiben soll. Ein nebulöser Begriff, der in letzter Zeit immer häufiger durch die Agenturlandschaft geistert. Was verbirgt sich dahinter?

Birand Bingül: Mir ist bewusst, dass das ein ziemliches Modewort ist. Tatsächlich stolpere ich gerade häufig darüber, dass der Begriff sogar synonym für "Themen" verwendet wird, einfach weil es schicker klingt. Bei Fischer-Appelt steckt aber eine konkrete Strategie und Methodik dahinter. Es geht um die Frage: Wie kann ich eine Geschichte über ein Unternehmen erzählen, die dynamisch dessen Wandel beschreibt, eine Vision in den Vordergrund rückt? Das hat den Effekt, eine Sehnsucht in den Menschen zu wecken, sowohl bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Unternehmens als auch bei Konsumenten.

Sie klingen schon wie ein waschechter Agenturmensch. Haben Sie ein Beispiel für eine solche Strategie?

Schauen wir in die USA, wo das Thema schon sehr viel größer ist als hier: Elon Musk ist umstritten, aber er hat es definitiv drauf, seine Visionen von der Zukunft im Weltraum und das Versprechen einer Zukunft der E-Mobilität zu inszenieren. Und auch Mark Zuckerberg ist es mit dem Metaverse gelungen, ein Szenario zu entwerfen, das mitreißt und berührt – selbst wenn noch niemand wirklich durchdringt, worum es da eigentlich geht. Das ist etwas anderes als: Wir haben eine traditionsreiche Geschichte, auf uns ist Verlass! Zukunftsnarrative sind vielseitig anwendbar auf Kommunikation, Marketing, aber auch auf das Employer Branding.

Wie setzen Sie das dann für Ihre Kunden ein?

Wir erarbeiten mit den Kunden und Kundinnen einen Baukasten, aus dem sie sich bedienen können. Ein Narrativ hat für uns immer das Potenzial, eine Strategie zu sein, die modular funktioniert und für das Management systematisch anwendbar ist.

"Elon Musk ist umstritten, aber er hat es definitiv drauf, seine Visionen von der Zukunft im Weltraum und das Versprechen einer Zukunft der E-Mobilität zu inszenieren."

Und welchen Kunden helfen Sie auf die Sprünge?

Wir entwickeln es mit unseren Kunden zusammen. Das sind vertrauensvolle und sensible Kundenbeziehungen – das Narrativ eines Unternehmens hängt immer sehr hoch. Wir haben zum Beispiel einen Kunden im Automotive-Bereich. Gepitcht wird auch, aktuell bei einem international aufgestellten Unternehmen. Und es gibt natürlich auch Anfragen, öfter bei Bernhard Fischer-Appelt selbst, der zu dem Thema ja viel geforscht und unser Storyverse-Modell maßgeblich entwickelt hat. Ich glaube, die Unternehmen, die sich an uns wenden, müssen in ihrer Transformation an einem bestimmten Punkt stehen. Ein Narrativ kann man nicht nachträglich aufoktroyieren und in ein bestehendes Storytelling einbauen. Wir brauchen einen gewissen Freiraum, und die Unternehmensspitze muss jeweils auch bereit sein, das Narrativ zu tragen. Ich habe mich schon länger mit dieser Strategie beschäftigt und freue mich, sie jetzt in die Praxis umsetzen zu können.

Agenturchef Bernhard Fischer-Appelt hat zu Narrativen kürzlich ein Buch verfasst. Sind Sie also über dieses Thema ins Gespräch gekommen?

Nein, wir kennen uns schon viele Jahre und standen immer in losem Kontakt. Und dann hat mir die Agentur ein Angebot gemacht, das spannend für mich war. Ich komme aus dem Journalismus, war dann vier Jahre Sprecher, bin dann nach meiner Elternzeit in den Journalismus zurück und wurde dann Kommunikationschef. Im vergangenen Jahr hatte ich das Gefühl: Jetzt sollte ich mich langsam mal festlegen – auf Journalismus oder Kommunikation. Da hat das Angebot von Fischer-Appelt einfach gepasst, sich richtig für mich angefühlt. Ich kann hier was einbringen. Ich kann Dinge gestalten und transformieren.

Und dann ging zum Jahreswechsel der ARD-Vorsitz von Ihrem Chef, dem WDR-Intendanten Tom Buhrow, auf Pa­tricia Schlesinger vom RBB über. Das hat sicher auch zu Ihrer Entscheidung beigetragen …

Ich hätte durchaus auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleiben können. Viel wichtiger war, dass ich Lust auf etwas Neues hatte. Das ist auch eine Typfrage: Mich ziehen Herausforderungen an, ich laufe gerne bergauf.

Von der ARD zu Fischer-Appelt – das ist dann aber doch ein harter Bruch. Ein Wechsel, über den sich viele gewundert haben. Was hat Sie gereizt?

Sie schauen sich gerade so im Raum um ... Ich kann Ihnen versichern: Ich habe mich nicht wegen der bunteren Büros und der Playstation für den Wechsel entschieden.

"Meine neuen Kollegen stellen mir gern Fragen wie: Welche Ansprache zieht bei Journalisten?"

Auch jenseits der lila Fußböden ticken die Uhren hier wahrscheinlich etwas schneller als beim Öffentlich-Rechtlichen.

Es gibt ja nicht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk per se. Und in den vergangenen Jahren hat sich viel getan bei uns.

Bei uns?

Oh – das passiert mir manchmal immer noch. Ich meine bei meinem alten Arbeitgeber. Dort gibt es auf jeden Fall fernab von Klischees auch viel Dynamik – im Digitalen, bei der Mediathek, neuen Formaten, neuen Wegen, durch neue Mitarbeitende. Auch in der freien Wirtschaft agieren nicht unbedingt alle in allen Bereichen wahnsinnig dynamisch. Das ist eben die Nebenwirkung längerer Wege. Das hat oft mit der schieren Größe von Organisationen zu tun, wenn Abstimmungsschleifen länger werden. Ich erinnere mich aber schon dunkel, dass manches auch ein bisschen lahm war, das will ich nicht leugnen. Ich habe da keinen romantisierenden Blick.

Das ist im neuen Job anders. War das erst mal ein Kulturschock für Sie?

Fischer-Appelt ist insgesamt sicher wendiger, das liegt auch in der Natur der Sache. Bei Fischer-Appelt können wir bei Projekten schneller sein. Wir haben neun Units, je nach Bedarf ziehen wir kurzfristig Teams zusammen mit Experten für Content, Strategie, Design und Co. Ich wundere mich manchmal, wie schnell wir starten, ohne uns zu kennen, dann geht es direkt um Ideen und die besten Lösungen für die Kunden. Das macht Spaß. Doch um auf die Frage zu antworten: Einen Kulturschock hatte ich nicht. Die größte Umstellung war für mich die neue Anforderung, Kundenwünschen zu entsprechen. Darauf hatte ich mich vorbereitet.

Inwiefern profitieren Sie im neuen Job davon, Journalist zu sein?

Für mich ist der Journalismus ein Geschenk. Ich kann neugierig sein, überall unbefangen reingehen, Fragen stellen, mir Dinge erklären lassen. Das gelernte Instrumentarium ist grandios, es hilft mir auch jetzt ungemein, wenn ich verstehen will, wie Kunden funktionieren, wie ich helfen kann, wo die jeweiligen Druckpunkte sind. Wir müssen schließlich auch in der PR tief eintauchen, können nicht einfach so Geschichten erzählen. Und meine neuen Kollegen stellen mir gern Fragen wie: Welche Ansprache zieht bei Journalisten?

Beobachten Sie, dass sich die Anforderungen an Jobs in PR und Journalismus annähern?

Ja, und ich finde es gut, dass PR zunehmend kritisch die Frage nach dem News-Wert stellt, nach Inhalt und Substanz. Buzzword-Bingo ist nicht meins. Die Zeiten sind vorbei. Auch im Kundengespräch: Es geht um das Verstehen. Darum, Beziehungen zu knüpfen, den anderen ernst zu nehmen. Wenn man das rüberbringt, kommt das meist auch zurück. Dann muss man sich auch nicht einen Wolf pitchen.

Wie kann man sich einen typischen Arbeitstag in Ihrem neuen Job vorstellen?

Es gibt häufig Kundentermine, zumindest am Anfang ist mir ein direkter, persönlicher, menschlicher Kontakt wichtig. Dann arbeiten wir in unterschiedlichen Teams an Lösungen für die Kunden. Wir feilen viel an Präsentationen, verbringen extrem viel Zeit damit, um unsere Konzepte fühlbar und logisch nachvollziehbar zu machen. Und es gibt natürlich Pitches, auf die ich mich vorbereite. Ich bin intensiv im Austausch mit meinem Team, aktuell 15 Leute, die an verschiedenen Standorten verstreut sitzen.

Nach einem halben Jahr Einblick: Welches Klischee über Agenturen können Sie bestätigen?

Statt sie zu bestärken, würde ich eigentlich lieber mit Klischees aufräumen.

"Ich finde es gut, dass PR zunehmend kritisch die Frage nach dem News-Wert stellt, nach Inhalt und Substanz."

Dann also: Welches Klischee über Agenturen ist Unsinn?

Dass wir hier ständig High Life und Partys haben, nach dem Beispiel der US-Serie Mad Men, in der Nächte wahlweise durchgearbeitet oder durchgesoffen werden. Sie sehen ja selbst: Ich habe keinen Cognac-Schwenker vor mir, sondern ein Glas Bio-Orangenlimonade. Ich bin während der Corona-Zeit gekommen, noch sind die Büros meist verhältnismäßig leer. Homeoffice wird hier sehr flexibel gehandhabt. Und ja: Den obligatorischen Tischkicker und eine Playstation gibt es schon, auch Knallfarben und individualistisch gekleidete Menschen. Und wir bestellen gelegentlich Pizza. Es geht hier oft um Kreativität auf Knopfdruck, da kommt die verspieltere Atmosphäre nicht von ungefähr.

Und welches Klischee über den ÖRR ist Nonsens?

Ich kann nicht über die 70er Jahre reden, aber der heute noch verbreitete Eindruck, dass bei den Öffentlich-Rechtlichen alles von Verwaltungsdenken beherrscht wird, stimmt nicht. Es wird dort hart gearbeitet. Und insbesondere bei den digitalen Angeboten geht es heute in den Abläufen sehr viel agiler zu. Aber manches ginge natürlich noch besser.

Zum Beispiel?

Der ÖRR nimmt es sehr genau bei allen Prozessen. Da ist sicher Luft für Vereinfachung. Und dann gilt es, das Angebot weiter zu modernisieren. Es geht darum, den Spagat zu schaffen zwischen verschiedenen Bedürfnissen: Auf der einen Seite ganz klassisches Radio und Fernsehen, auf der anderen Seite die digitalen Kanäle, für die immer mehr eigens produziert wird. Da hat die ARD richtig Fahrt aufgenommen. Wir müssen beides zusammenbringen. – Jetzt habe ich schon wieder wir gesagt, richtig?

Eine Rest-Identifikation mit Ihrem alten Arbeitgeber gibt es offenbar schon noch.

Auf jeden Fall – ich habe meine Karriere da begonnen, mein allererster Job bestand darin, bei der Talksendung von Jürgen Domian an der Hotline zu sitzen. Ich kenne so viele Leute dort, zu denen ich teils noch Kontakt habe. Das ist ein super Laden, in dem ich sehr gerne war. Wenn mir das Wir hier bei Fischer-Appelt rausrutscht, sage ich immer: Es gibt ein altes Wir und ein neues Wir.

Und kommt auch mal Wehmut auf?

Dafür war noch gar keine Zeit. Dieses Agentur-Klischee stimmt, meine Tage sind intensiv. Aber das war auch in meiner Zeit als Journalist und Kommunikator so.

Tom Buhrow hat sich Ende 2021 selbstkritisch über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geäußert. In die Richtung, es brauche mehr kontroverse Debatten. Zudem kritisierte er überbordenden Haltungsjournalismus. Stimmen Sie zu?

Haltung zu zeigen ist gut, dafür gibt es entsprechend gekennzeichnete Darstellungsformen. Jenseits von Kommentaren und Co sehe ich einen erzieherischen Impetus kritisch. Ich teile Tom Buhrows Auffassung: Es ist wichtiger denn je, sauber zu unterscheiden und auch die Meinungsvielfalt von Journalistinnen und Journalisten zu fördern.

Aus Ihrer neuen Rolle heraus gedacht: Bräuchte die ARD ein Update für ihr Zukunftsnarrativ?

Von einem Narrativ will ich da nicht unbedingt sprechen. Aber die ARD beackert das Thema Veränderung stark und kommuniziert das auch. Zum Beispiel, wie sehr die Mediathek an Bedeutung gewonnen hat. Da fließen immer mehr personelle und finanzielle Ressourcen rein. Sie ist noch nicht die modernste der Welt, aber der Wandel hin zu jüngeren Zielgruppen ist spürbar. Darüber stehen die gesellschaftlichen Ansprüche in Zeiten von Fake News und Medienschelte. Es gibt viele Reformen, auch was innere Strukturen anbelangt. Gerade Tom Buhrow hat da einiges vorangetrieben.

"Der ÖRR nimmt es sehr genau bei allen Prozessen. Da ist sicher Luft für Vereinfachung."

In Ihrer Zeit als Kommunikator mussten Sie immer wieder Wogen glätten. Auch verkrustete Strukturen und eine mangelnde Vielfalt in den eigenen Reihen wurden dem ÖRR vorgeworfen.

Der WDR hat hier beim Wandel eine Vorreiterrolle eingenommen. Während manch anderer Sender vor allem bei der Auswahl der Moderatorinnen und Moderatoren auf Diversität gesetzt haben, ist der WDR den mühsamen Weg gegangen und hat schon Praktikanten und Volontäre gefördert und über alle Ebenen auf eine Vielfalt der Geschlechter und Herkünfte geachtet. Viele von ihnen sind heute in Schlüsselpositionen aufgestiegen. Möglicherweise war es ein taktischer Fehler, das in der Kommunikation zu wenig hervorzuheben. Ich verfolge die Debatte natürlich mit Interesse. Auch wenn ich heute nicht mehr involviert bin.

Dass Ex-Journalisten die Agenturwelt entern, kommt häufiger vor. Man denke nur an Kai Diekmann, heute in leitender Funktion bei Storymachine. Das ist kein Zufall, oder?

Mit seinem Grad an Profilierung hätte Kai Diekmann wahrscheinlich auch mit anderen Geschäftsmodellen antreten können. Aber insgesamt denke ich schon, dass etwas Aufmischung mit journalistischer Expertise der PR guttut.

Wird ein Wechsel zwischen Journalismus und Kommunikation heute entspannter gesehen?

Ich hatte ja den zweifachen Pingpong und habe den Eindruck, das Verständnis dafür ist gewachsen. Wenn jemand seriös und integer arbeitet, kann er auch in eine Rolle in der PR wechseln. Nur sollte ein PR-Mensch nicht so tun, als sei er Journalist, das funktioniert nicht.

Anne Hünninghaus ist Redakteurin in der Kölner Wirtschafts­redaktion Wortwert. Patrick Essex ist Fotograf in Köln.

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