Mina Marschall

Der unsichtbare Faktor

07.12.2022

Auf ihrem Weg in den Journalismus musste die freie Autorin Mina Marschall immer wieder Mut beweisen. Sie besuchte als Erste in ihrer Familie eine Universität und finanzierte ihr Studium selbstständig. Heute macht sich Marschall dafür stark, dass Medienhäuser soziale Herkunft als wichtigen Diversitätsfaktor erkennen – und Menschen ohne akademischen Hintergrund den Zugang erleichtern. Text: Mia Pankoke

Mina Marschall: Wenn man nach dem Studium auf einem Berg Schulden sitzt, überlegt man, ob man Journalistin wird. (Foto: Annkathrin Weis)

Mina Marschall hat ihre Stimme gefunden. Die junge Journalistin musste sich hocharbeiten. Der Weg war mühsam, aufgrund struktureller Ungleichheit, wie sie sagt. Sie ist in ihrer Familie eine so genannte Erstakademikerin, hat nicht volontiert. Und trotzdem arbeitet sie inzwischen als freie Journalistin, unter anderem für die Online-Redaktion des SWR, schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, berichtet über die Wünsche junger Menschen in den aktuellen Krisen, über Gaming als Hochschulsport und wirkt ehrenamtlich am Newsletter von Reportagen.fm mit.

Außerdem setzt sie sich für mehr Diversität ein und macht ihrem Unmut über das System Journalismus inzwischen öffentlich Luft. „Wenn wir die Bedingungen für journalistische Volontariate nicht verändern, wird sich auch nichts an der sozialen Herkunft von Journalist*innen verändern“, schreibt sie in einem Post auf Twitter. Hier kritisiert die 28-Jährige, die eigentlich Sabrina Marschall heißt, wie wenig zugänglich Volontariate für Nicht-Akademikerkinder sind. Denn diese sind nicht nur schwer zu finanzieren, es ist auch eine besonders große Herausforderung, eine solche Stelle zu bekommen, wenn ein Netzwerk fehlt, grundsätzliche Unsicherheit herrscht.

Dass sie sich heute für eine Strukturreform der Branche einsetzt, hätte sie selbst lange Zeit nicht geglaubt. Sie wollte zwar Journalistin werden, weil sie seit der Schulzeit gerne schreibt und recherchiert, doch getraut hat sie sich lange nicht. Erst am Ende ihres Masters hat sie sich ihren Wunsch eingestanden und es doch noch mit dem Journalismus versucht. Woher die Hemmung? Weil die Branche so undurchsichtig ist. „Für mich wirkt der Journalismus häufig elitär“, sagt Marschall. „Der Beruf des Journalisten steht vor allem Akademikern offen.“ Sie selbst hat nach anfänglichem Zögern Politikwissenschaften in Frankfurt am Main studiert, konnte sich unbezahlte Hospitanzen neben Studium und Teilzeitjob in einer PR-Abteilung aber nicht leisten.

Während viele Nachwuchsjournalisten ihr Können im Studium über Hospitanzen praktisch erprobten, arbeitete Marschall während ihres gesamten Masters nebenbei in Teilzeit. „Wenn der Nebenjob die Existenz sichert, kann man ihn nicht mehrere Wochen pausieren und für eine unbezahlte Stelle in eine andere Stadt ziehen“, sagt Marschall. „Bafög oder Studienkredite reichen längst nicht aus.“ Daher seien Hospitanzen für Studierende, die ihr Studium selbst finanzieren, oft ein Ding der Unmöglichkeit.

Denn es geht nicht nur darum, während der Ausbildung seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern auch danach seine Existenz langfristig abzusichern. „Wenn man nach dem Studium auf einem Berg Schulden sitzt, überlegt man sich, ob man einen Beruf wählt, in dem eine Festanstellung Luxus ist”, sagt sie. Und: Gerade für Arbeiterkinder sei es hürdenreich, ihre Eltern von der Sinnhaftigkeit eines Studiums zu überzeugen, an dessen Ende kein klarer Beruf steht. „Wer eine Tischlerausbildung macht, wird Tischler. Wer Jura studiert wird Jurist, aber der Weg zum Journalisten ist irgendwie neblig“, sagt Marschall.

„Wenn man nach dem Studium auf einem Berg Schulden sitzt, überlegt man sich, ob man einen Beruf wählt, in dem eine Festanstellung Luxus ist.”

Erst im Masterstudium veröffentlichte sie ihre ersten Texte – durch einen Zufall. Die FAZ hatte eine Studenten-Stelle fürs Community-Management der Social-Media-Kanäle ausgeschrieben. Marschall wurde genommen, und eine Kollegin erkannte ihr Potenzial. „Sie hat mich unter ihre Fittiche genommen und ermutigt, eigene Texte in der Redaktion vorzuschlagen“, sagt Marschall. Hier zeigte sich ein tieferliegendes Problem: Es ging nicht nur ums Geld, sondern auch ums Selbstvertrauen. „Ich hatte immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein“, sagt die Journalistin. „Es hat mehrere Jahre gedauert, bis mir klar wurde, dass meine Schwierigkeiten auch struktureller Natur sind.”

Denn auch das ist Teil der Diversity-Gleichung: Die Variablen für ein vielfältiges Gesamtgefüge bestehen eben nicht nur aus Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung und Altersverteilung und ethnischer Herkunft. Auch die soziale Herkunft und die damit einhergehende Ungleichheit für Arbeiterkinder sollten Unternehmen berücksichtigen.

Die Zahlen aus dem Hochschulbildungsreport 2022 sprechen für sich: Nur 27 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler aus einem Nichtakademikerhaushalt beginnen später ein Studium. Bei Akademikerkindern sind es 79 Prozent. „Das führt dazu, dass Journalisten überwiegend den gleichen privilegierten sozialen Hintergrund haben“, sagt Marschall. Für ein Volontariat braucht man eben häufig einen Studienabschluss und entsprechende Arbeitserfahrung. Wer das nicht vorweisen kann, hat im Konkurrenzkampf kaum eine Chance. Eine Befragung der Ludwig-Maximilians-Universität München zeigt, wie wenig divers die Branche mit Hinblick auf die Sozialstruktur ist: Mehr als 60 Prozent der befragten Journalisten können einen Master oder Magisterabschluss vorweisen. Nur 4,7 Prozent haben kein Abitur. „Das macht den Journalismus unglaubwürdig“, findet Marschall. „Denn wie soll eine Redaktion vielfältige Perspektiven abbilden, wenn sie so einseitig besetzt ist?“

Marschall fordert, dass der Zugang zum Journalismus offener gestaltet werden sollte. Bislang gelingt der Einstieg vor allem über Studium und Volontariat oder über teure Journalistenschulen. „Menschen ohne finanzielle Unterstützung oder ohne Netzwerk müssen Glück haben, um es als Journalisten zu schaffen“, meint Marschall. Das Narrativ „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist hier realitätsfremd: „Es gibt natürlich Beispiele von Einzelnen, die es schaffen. Was wir aber nicht sehen, sind die vielen, die es nicht schaffen oder gar nicht erst versuchen.“

Sie schlägt vor, dass sich Redaktionen vom klassischen Lebenslauf ihrer Redakteure lösen und sich auch Leute anschauen, die nicht studiert oder kein Volontariat absolviert haben. Sie beobachtet aber auch, dass einige Medienhäuser schon etwas ändern. Beim SWR kann man sich zum Beispiel mittlerweile mit einem Realschulabschluss und beruflicher Erfahrung oder mit Abitur ohne Hochschulabschluss für Volontariate bewerben. Doch bisher ist das immer noch die Ausnahme. Marschall konnte sich ein Volontariat lange nicht finanzieren und erhielt auf ihre Bewerbungen nur Absagen. Zur freien Journalistin hat sie es trotzdem gebracht – durch Unterstützung.

Sie bewarb sich Ende 2020 direkt beim SWR und hatte Glück. Denn in ihrem Bewerbungsgespräch saß ihr gegenüber eine Redakteurin, die ihr Potenzial erkannte und nicht nur auf die einzelnen Stationen in ihrem Lebenslauf blickte. Marschall bekam die Stelle. Erst arbeitete sie in Vollzeit, dann reduzierte sie, um schreiben zu können, und arbeitet heute als feste Freie.

"Wer im Journalismus weniger Geld hat, braucht mehr Glück."

Heute bekommt Marschall manchmal zu hören, sie habe ja nun den Master in der Tasche und damit den „Aufstieg“ geschafft. „Ich glaube, da wird oft vergessen, dass es Generationen dauert, bis die Dimension der sozialen Herkunft nicht mehr spürbar ist“, sagt sie. „Einfach, weil man keine Rücklagen hat, Schulden abbezahlt und sich oft weniger traut.“ Denn obwohl sie inzwischen im Beruf ihrer Wahl angekommen ist, spürt sie immer noch diesen Mangel an Sicherheit, der gar nicht nur mit dem Geld zusammenhängt. Denn bei der sozialen Herkunft geht es um viel mehr als ums Monetäre. Es geht um das Wissen, darum, wie man sich in bestimmten sozialen Kontexten bewegt und um den Zugang zu Netzwerken. Es ist diese schwer zu fassende Dimension von sozialer Herkunft, mit der Marschall sich besonders auseinandersetzt und wegen der sie für diversere Ausbildungswege plädiert. „Man denkt, die anderen sind ohnehin in allem besser, weil sie aus elitären Haushalten kommen“, sagt Marschall. Und das ist hinderlich, denn: „Um als freie Redakteurin zu arbeiten, musst du dich und deine Fähigkeiten selbstbewusst präsentieren.“

Auch hier bekam sie Unterstützung von der Kollegin, die sie bei der FAZ kennenlernte. „Eine erfahrene Journalistin stand mir wie eine Mentorin zur Seite, ein großes Glück für mich“, sagt Marschall. Sie half ihr dabei, E-Mails selbstbewusst und im richtigen Ton zu formulieren, um sich in Redaktionen zu behaupten. Doch Marschall spürt auch, dass es Mut erfordert, Hilfe anzunehmen. „Dafür muss man sich seine Schwächen jedes Mal aufs Neue eingestehen“, sagt sie. Deshalb rät sie dazu, solche Unterstützungsmaßnahmen zu institutionalisieren: „Ein Mentorenprogramm für junge Journalisten oder alle, die neu in die Freiberuflichkeit starten, wäre toll und würde bestimmt vielen den Berufsbeginn erleichtern“, sagt sie.

Die soziale Herkunft ist eine der Dimensionen von Vielfalt, die leicht übersehen wird. Sie ist von außen schwer erkennbar und wirkt meist subtil. Daher brauchen Betroffene oft Jahre, bis sie erkennen, dass ihr soziokulturelles und edukatives Erbe sie benachteiligt. Dabei ist es für den Journalismusbetrieb essenziell, sich mehr mit dem Thema zu befassen. „Fehlende soziale Herkunft bedeutet fehlende Perspektiven“, sagt Marschall. „In diverser besetzten Redaktionen gäbe es sicher eine andere Schwerpunktsetzung und auch eine andere Sprache.“ Sie ist sich sicher, dass Journalismus nur dann glaubwürdig ist, wenn er die Vielfalt der Menschen tatsächlich repräsentiert.

Mia Pankoke ist Journalistin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert in Köln.

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