Corona-Berichterstattung

Die perfekte Welle

02.08.2020

Seit dem Frühjahr bestimmt das Corona-Virus die Medienberichterstattung. Doch seit Mitte Mai ebbt die Nachrichtenflut ab. Wissenschaftler erkennen darin ein Muster: Die Aufmerksamkeit für Themen verläuft immer wieder wellenförmig. Typischerweise vergehen höchstens drei Monate, bis deutliche Gewöhnungs- und Ermüdungseffekte eintreten. Corona macht da keine Ausnahme. Text: Jennifer Garic und Olaf Wittrock

Die Aufmerksamkeit für Themen in den Medien verläuft wellenförmig. So auch bei dem Mega-Thema Corona.

Es ist Aschermittwoch, 26. Februar 2020, als Bernhard Tholen von einem Mitarbeiter aus seiner Verwaltung jene Whatsapp erhält, deren Inhalt den Ort wenige Tage später bundesweit berühmt machen wird. Tholen, Bürgermeister der Gemeinde Gangelt im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg, erfährt an diesem Tag vom ersten Covid-19-Erkrankten in seiner Region. Zwei Wochen später wird die Gemeinde als bis dahin größter deutscher Ausbruchsort und als Risikogebiet für Schlagzeilen sorgen. In den kommenden Monaten werden Gangelt und Heinsberg nicht nur zu Referenzpunkten für den Verlauf der Pandemie in Deutschland, sie avancieren auch zu medialen Hotspots. Ein ganzer Ort wird zum Rechercheobjekt.

Die Pandemie schreitet in den ersten März-Wochen im Land schnell voran, die Lage ändert sich täglich – und Corona wird zum Thema Nummer eins. Auf den Titelseiten der Zeitungen und Magazine ist kaum mehr Platz für andere Nachrichten. In den Talkshows sitzen die immer gleichen Gäste und nach der Tagesschau läuft im Ersten fast täglich ein Extra zur Corona-Lage. Anne Will und Hart aber fair kennen wochenlang keine anderen Themen mehr als Lockdown, Homeschooling, Hilfsprogramme und die Suche nach dem Impfstoff.

Auswertungen der Cover und Programme zeigen beispielhaft, was für eine massive mediale Aufmerksamkeitswelle sich hier innerhalb weniger Tage aufbaut – und wie sie schließlich zusammenfällt. Die meisten Suchanfragen zum Begriff Corona gibt es beispielsweise bei Google in Deutschland in der 12. Kalenderwoche. Google Trends berechnet die Daten im US-amerikanischen Stil immer von Sonntag an, also vom 15. bis 21. März. Zu dieser Zeit werden bundesweit Schulschließungen diskutiert, Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eine ihrer seltenen TV-Ansprachen – und die ARD hebt an vier Tagen insgesamt zwei Stunden Extra-Sendungen ins Programm. Der Zustand der medialen Dauererregung hält nahezu quer durch alle Mediengattungen bis etwa Mitte Mai an. Spiegel, Zeit, Stern und Focus produzieren in den ersten acht Wochen so gut wie kein Corona-freies Cover. Virologen und andere Mediziner sind dauerpräsent im Fernsehen, Radio und Podcasts. Und die Nachrichtenportale im Netz melden im März und April Rekordzugriffe. Das Virus verbreitet sich auch in den Medien exponentiell.

Doch dann bricht das Interesse im Mai deutlich ab. US-Präsident Donald Trump und Polizeigewalt, Chinas Aufstieg, ja selbst der „Patient Knie“ schaffen es in den Magazinen nun wieder auf den Titel. Der Berliner Virologe Christian Drosten, der als Galionsfigur seiner Zunft den Deutschen die Wissenschaft rund um das Virus erklärt, reduziert nach Auftritten beim Spiegel und Streit mit Bild die Frequenz seines Info-Podcasts und wird bei Google zur weniger gefragten Person.Selbst die neueste Nachrichtenlage mit den massenhaften Virusinfekten in Zerlege-Betrieben kann längst nicht mehr so viel Aufmerksamkeit für Corona entfachen wie die Schlagzeilen von März bis Mai.

Wissenschaftler wundern sich über diesen Befund überhaupt nicht. Im Gegenteil: Das Muster, nach dem sich die Aufmerksamkeit für Corona erst schnell auf- und dann nach kurzer Zeit sukzessive wieder abbaute, entspricht geradezu idealtypisch den theoretischen Erwartungen an einen sogenannten Themenzyklus. Der US-amerikanische Ökonom Anthony Downs hatte 1972 erstmals den „Issue-Attention Cycle“ beschrieben. Danach jagt im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit stets ein Thema das nächste. Downs beschreibt den Zyklus in fünf Phasen: Zunächst ist da eine Vor-Problem-Phase. Es folgt die alarmistische Phase, in der Massenmedien das Thema aufgreifen. In Phase drei werden erste Lösungsstrategien erkennbar. Anschließend nimmt das öffentliche Interesse ab – das ist Phase vier. Im Schlussabschnitt des Aufmerksamkeitszyklus ist die ursprünglich mediendominierende Krise dann nur noch ein Randthema.

Ein schnelles Hoch, dann bergab

Steffen Kolb, Kommunikationsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, hat über „Mediale Thematisierung in Zyklen“ promoviert und sich eingehend mit Downs‘ und anderen Modellen beschäftigt. Auch nach seinen Erkenntnissen berichten Journalisten über Themen und Krisen wie die aktuelle Pandemie in wiederkehrenden Mustern: „Es ist erstaunlich, dass die Berichterstattung bei unterschiedlichen Themen immer wieder ähnliche Verläufe nimmt und ähnliche Facetten aufweist“, sagt Kolb. Er selbst konnte anhand von Umweltfragen rund um Autos zeigen, wie Themen immer wieder auf einer Welle der Aufmerksamkeit reiten, bis das Interesse schließlich deutlich abflacht. Dazu hat er unter anderem ausgewertet, wie viele Beiträge Zeitungen im Zeitverlauf über ein Thema veröffentlichen. Das Muster war immer wieder dasselbe: ein schnelles Hoch. Und dann ging es nach ein paar Wochen erhöhter Aufmerksamkeit deutlich bergab.

In der aktuellen Pandemie spiegeln Frequenz und Umfang der Sondersendung ARD-Extra: Die Corona-Lage den idealtypischen Verlauf wider: Das Spezial lief zum ersten Mal am 10. März, dem Tag, an dem der gemeinsame Krisenstab des Innen- und Gesundheitsministeriums die Absage aller Großveranstaltungen empfahl. Neun Wochen lang unterbrach das Erste danach vier- bis fünfmal die Woche sein Programm zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr für bis zu 45 Minuten öffentlich-rechtlicher Lagebesprechung. Seit Mitte Mai geht es mit dem Format kontinuierlich bergab. Erst schrumpfte die Sendezeit, dann die Frequenz. Ein Grund für das wachsende Desinteresse: „Es gibt nicht mehr viel Neues oder gar Überraschendes zur aktuellen Lage“, sagt Kolb. „Hinzu kommt, dass bei allen Unsicherheiten in der medizinischen Betrachtung der Lage keine einfachen Lösungen in Sicht sind. Also geht quasi automatisch die Zahl der Berichte wieder runter.“

Anders gesagt: Tritt ein Thema allzu sehr auf der Stelle, macht es fast automatisch Platz für neue Themen, wie Downs es in den 1970er Jahren beschrieb: Nachrichten dienten nämlich immer auch der Unterhaltung, müssten daher, um konsumierbar zu bleiben, Drama und Aufregung versprechen. Bewegt sich nur noch wenig, wendet sich das Publikum ab. Dass die Pandemie überhaupt so lange das quasi einzige Thema der Medienlandschaft bleiben konnte, hat insoweit auch einen anderen Grund. Die Krise hat nahezu alle Branchen und Lebensbereiche gleichermaßen getroffen, war und ist allgegenwärtig – und hat quasi die Konkurrenz ausgeschaltet: „Die Besonderheit im Vergleich zu anderen Krisen ist: Es gab keine Ersatzthemen. Selbst Interessensgebiete wie Sport, Kultur und Kunst sind weggefallen“, sagt Kolb.

"Die Besonderheit im Vergleich zu anderen Krisen ist: Es gab keine Ersatzthemen. Selbst Interessensgebiete wie Sport, Kultur und Kunst sind weggefallen."

Während Medienmacher um die knappe Zeit des Publikums buhlen und dabei auf immer neue Reize, Tragödien und Heldenerzählungen angewiesen sind, stellt sich beim Publikum eine allmähliche Sättigung ein. Auch sie erklärt den wellenförmigen Verlauf der Berichterstattung. Ein Team der Universität Erfurt um die Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann hat dazu gerade eindeutige Ergebnisse geliefert. Das Forscherteam befragte eine repräsentative Gruppe von mehr als 1.000 Bürgern zu ihrem Umgang mit Corona-Nachrichten – und zwar einmal Ende März und dann erneut Ende April. Das Ergebnis: Innerhalb von nur vier Wochen – und in einer Zeit einer höchst dynamischen Nachrichtenlage – veränderten die Befragten ihr Konsumverhalten substanziell. Sie fragten signifikant seltener aktiv Informationen zu Corona nach und nahmen auch passiv weniger Nachrichten zur Kenntnis.

Das steigende Desinteresse erklären die Forscher mit Tendenzen der Übersättigung. Viele Menschen fühlten sich von den Informationen aus allen Medien regelrecht überflutet. Im März ordnete das Erfurter Team die meisten Befragten noch der Gruppe der „normorientierten Fernsehnutzenden“ zu. Diese Leser, Zuschauer und Hörer haben sich vor allem informiert, weil sie das für richtig hielten – gar nicht so sehr, weil ihnen konkret Informationen fehlten. Im April dominierte dann eine ganz andere Gruppe: die „kritischen Infovermeidenden“. Rund die Hälfte der Befragten war zu diesem Zeitpunkt dem Thema Corona gegenüber bereits kritisch eingestellt.

Aktive Informationsvermeidung

Es könnte durchaus sein, dass ihre eigene Risikowahrnehmung da nicht mehr zu dem dramatischen Bild passte, das die Medien von der Pandemie zeichneten. Das jedenfalls könnte die zunehmende aktive Informationsvermeidung erklären, sagt Linn Temmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Erfurt und Teil des Forscherteams. Einschränkend fügt sie hinzu, dass die Corona-Lage zu den beiden Befragungsterminen auch unterschiedlich war. Während der ersten Befragungswoche im März hatte Bundeskanzlerin Merkel ihre Ansprache gehalten, es traten strenge Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in Kraft – so dass die Risikowahrnehmung und der Informationsbedarf gestiegen sein dürfte. Zum zweiten Befragungstermin diskutierten Bund und Länder bereits erste Lockerungen. „Das könnte sich auf die Antworten der Befragten ausgewirkt haben“, sagt Temmann.

Unter welchen Bedingungen bricht nun aber eine Nachrichtenwelle? Zu den medienökonomischen und psychologischen Erklärungsmustern tritt hier auch das klassische journalistische Handwerkszeug – nämlich die Frage des eigentlichen Nachrichtenwerts. In den ersten Wochen einer Krisenlage stehen dabei zunächst technische Produktionsbedingungen im Vordergrund: Kommt ein Thema von überragender Bedeutung auf, dann befassen sich nach den Echtzeitmedien in der Folge Tages-, Wochen- und Monatstitel damit. So kann es je nach Drucklegung schon sechs bis sieben Wochen dauern, bis sich alle großen Medien der Story zum ersten Mal gewidmet haben. Dann ist das Thema „einmal durch“. Die Welle kann zum ersten Mal brechen – wenn Einigkeit darüber herrscht, dass die Geschichte vorerst auserzählt ist.

Ein neues altes Problem

Kommunikationswissenschaftler Kolb beschreibt diesen Zeitpunkt so: „Haben sich Gesellschaft und Medien lang und ausführlich mit einem Thema beschäftigt und einen gemeinsamen Konsens ausgehandelt, verliert ein Thema an Brisanz und es bedarf umfassender neuer Erkenntnisse und Zeit, um diesen Konsens wieder zu hinterfragen.“ Diese Tendenz hat er auch bei den Umweltthemen erkannt, deren Nachrichten-Karrieren er erforscht hat: „Nehmen wir die Debatte um Umweltverträglichkeit von Autos: War man sich unter Medienkonsumierenden und -schaffenden mit der Einführung des bleifreien Benzins und der Katalysatortechnik vor über 30 Jahren weitgehend einig, dass das Umweltproblem der Autos damit gelöst ist, ist diese Einschätzung eigentlich erst durch das Zusammentreffen von Stickoxid-, Feinstaub- und Dieselproblematik zumindest teilweise gekippt – und das Mediensystem hat wieder ein neues altes Problem.“

Auch im Falle von Corona verbreitete sich in den ersten Wochen ein Konsens: Es wäre wohl wichtig, sein Verhalten in der Öffentlichkeit zu verändern. Masken im Supermarkt und in der Bahn waren irgendwann als sinnvoll anerkannt, Abstand halten galt als ratsam. Händewaschen als Bürgerpflicht. Um einen solchen Konsens zu erreichen, brauchen Gesellschaft und Journalisten Wissenschaftler, sagt Kolb. Also im Falle von Corona: Virologen, Epidemiologen und Infektiologen. Auch deshalb avancierten sie wohl gerade zu Beginn der Pandemie zu Medienstars. In Talkshows waren Wissenschaftler aus der Medizin ebenso gefragte Gäste. Von Mitte März bis Anfang Mai gab es keine einzige Hart-aber-fair-Sendung ohne Virologen, Epidemiologen oder Infektiologen.

"Die Berichterstattung nimmt erst wieder richtig Fahrt auf, wenn zum Beispiel eine Lösung naht."

An der im Lauf der Zeit veränderten Gästeauswahl lässt sich auch zeigen, wie sich der Themenzyklus in den Folgenwochen weiterentwickelte – und zwar genau wie von Downs beschrieben aus der alarmistischen Phase in Richtung der Lösungsstrategien. Nach den Wissenschaftlern, die mit ihrer Expertise vor allem Sorgen und Unsicherheit vertreiben sollten, rückten zunehmend Politiker ins Rampenlicht, die die Befunde der Wissenschaftler schließlich in Handlungen übersetzen müssen. Die beispielhafte Auswertung der Gäste bei Hart aber fair wie bei Anne Will zeigt hier dasselbe idealtypische Muster: Die Zahl der eingeladenen medizinischen Experten nimmt in beiden Talkshows im Lauf der Zeit ab, die Zahl der Politiker steigt. Besonders gern gesehener Gast ist Karl Lauterbach, der mit seiner Doppelrolle als Epidemiologe und SPD-Abgeordneter quasi den Übergang von Phase 2 zu Phase 3 verkörpert. In einer Auswertung des Spiegels lag er Ende Mai mit 14 Auftritten in Corona-Talkshows auf Platz Eins der gefragtesten Politiker und Mediziner.

Der Corona-Massenausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück Ende Juni, gefolgt von neuerlichen Ausgangsbeschränkungen sorgte bislang nur für einen vergleichsweise kleinen Nachrichten-Schub. Eine neue große Corona-Medienoffensive hat der Fall Tönnies nicht ausgelöst. Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichte zwar ein neues Rechercheobjekt zutage befördert hat, aber letztlich keine völlig neuen Erkenntnisse liefert.

Aufmerksamkeitsforscher Kolb ist jedenfalls überzeugt, dass es mehr braucht, um das Publikum wieder so massenhaft für Corona zu interessieren wie zu Beginn der ersten Welle. „Die Berichterstattung nimmt erst wieder richtig Fahrt auf, wenn zum Beispiel eine Lösung naht“, sagt Kolb. Im Fall der Pandemie könnte das ein Impfstoff sein. Das wäre dann zugleich auch das Ende der Geschichte: „Ist das Problem gelöst, nehmen die Artikel und Sendungen zum Thema drastisch ab, das Thema ist sozusagen durch.“ Bis dahin dürften aber vermutlich noch ein paar andere Medienzyklen die Nachrichten dominiert haben.

Jennifer Garic und Olaf Wittrock sind Mitglieder der Wirtschaftsredaktion Wortwert in Köln. Dieser Text ist zuerst in der Juli/August-Ausgabe des journalists erschienen. Neugierig? Dann hier entlang.

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