Stephan Anpalagan, Annkathrin Weis, Luca Schmitt-Walz

"Es ist nicht Aufgabe von Minderheiten, jeden Tag Volkshochschulkurse für Journalist*innen zu geben"

05.12.2022

Wir haben drei unterschiedliche Journalist*innen zum Talk eingeladen. Stephan Anpalagan, Journalist und Unternehmer, diskutiert mit unseren Podcast-Hosts Annkathrin Weis und Luca Schmitt-Walz über das Thema Vielfalt. Warum fehlen immer noch Frauen und Zuwanderer in den Spitzen der Dax-Konzerne und der Medienunternehmen? Warum kommen wir bei dem Thema nicht voran, und warum ist das eigentlich alles immer so verkrampft?

Warum fehlen immer noch Frauen und Zuwanderer in den Spitzen der Unternehmen? Wieso kommen wir in Diversity-Fragen so langsam voran? Und warum ist das alles immer so verkrampft? Stephan Anpalagan, Ann­kathrin Weis und Luca Schmitt-Walz (Illustration: Silke Werzinger)

Ausgangspunkt unseres Talks war ein Text, den Stephan Anpalagan vor einem Jahr geschrieben hat, der gewissermaßen eine Bestandsaufnahme war und mit den Worten begann: „Es gibt nur wenig, was mich so anödet, wie das Gerede von Vielfalt.“ Perfekter Startpunkt für ein Gespräch über Vielfalt und Engstirnigkeit, Ost und West, Jung und Alt, Lernen und Verstehen. Bühne frei.

Luca Schmitt-Walz: Aus deinem Text im journalist vor einem Jahr ist mir der Satz hängen geblieben: „Kaum ein Unternehmen kommt heute ohne Diversity Manager*in aus. Jede Talkshow wird auf die paritätische Besetzung von Männern und Frauen überprüft. Die Energie, mit der Gendersternchen und Frauenquote diskutiert werden, würde heute ausreichen, um den gesamten Energieverbrauch des Saarlands zu decken.“ Es klingt, als wärst du genervt. Haben wir vor 2021 zu viel über Diversity gesprochen?

Stephan Anpalagan: Ich bin maximal genervt davon, wie wir über Vielfalt reden und was von diesem Diskurs übrigbleibt. Die Vielfalt in Deutschland wird häufig mit einem Wort beschrieben, das nicht einmal deutsch ist: Diversity. Das will mir nicht in den Kopf. Es ist ein Indiz dafür, dass wir das gesamte Thema als Kampagne oder Marketingmaßnahme verstehen und nicht als etwas, was uns in der Gesellschaft, im Staat, in unserer Aufgabe als Medienschaffende wirklich berührt. Wir sprechen ja auch nicht über Freedom oder Democracy oder solcherlei Dinge, nein, wir sprechen über Humanismus und Aufklärung und Freiheit und Demokratie und Menschenrechte. Nichts davon steht zur Disposition oder ist im Kern verhandelbar. Aber bei Diversity kann jeder sagen, das ist uns zu viel, das wollen wir nicht, wir machen das später, wenn wir mehr Geld haben. Diese Kluft zwischen „Alle Welt redet darüber“ und „Am Ende passiert nichts“ macht mich echt fertig.

Annkathrin Weis: War das denn mal anders? Hast du das Gefühl, es ist erst zu diesem Marketing-Begriff verkommen?

Stephan: Man kann es ja linguistisch betrachten. Ich erinnere mich noch, dass wir lange weder über Diversität noch über Vielfalt gesprochen haben, sondern über das Kunstwort Multikulti. Damals sagte selbst eine besonnene Kanzlerin wie Angela Merkel, Multikulti sei gescheitert. Kein Mensch wusste, was das eigentlich sein soll und was damit gemeint war. Man wusste nur, Multikulti ist schlecht. Und das Gute, das wir dagegensetzen müssen, ist die deutsche Leitkultur. Multikulti galt lange als politischer Kampfbegriff und als Abwertung für eine Position, die sich als liberal oder links eingeordnet hat. Wenn man bedenkt, dass wir aus dieser Debatte kommen, ist es vielleicht gar nicht schlecht, dass wir heute über Diversity sprechen. Und dann lohnt es sich, anzuschauen, wie Unternehmen ticken und was sie mit diesem Begriff anfangen. Dort sagt niemand: Oh, wir haben ein Problem mit fehlender Vielfalt, das müssen wir nachhaltig und vollumfänglich lösen. Sondern: Lass uns mal schnell Flyer und Mousepads drucken und nach außen hin so tun, als ob wir weltoffen wären, damit uns keiner in zwei Wochen mit dem Diversity-Zeug wieder auf den Sack geht.

„Ich bin maximal genervt davon, wie wir über Vielfalt sprechen und was von diesem Diskurs übrigbleibt.“ Stephan Anpalagan

Luca: In der Medienbranche ist, wenn ich mir die vergangenen fünf Jahre angucke, genau das passiert. Niemand hat bewusst beschlossen, wir machen Marketing und tun so, als würden wir alles angehen. Aber bei jeder Ausschreibung in Produktionsfirmen steht, sie würden sich besonders freuen über Menschen, die einen diversen Hintergrund haben. Die Leute, die diese Stellenausschreibungen machen, fühlen sich wahrscheinlich cool, weil sie das Thema „aktiv angehen“. Aber im Endeffekt ändert sich nichts, weil so viele sich gar nicht erst bewerben können, weil sie einige Grundvoraussetzungen überhaupt nicht erlangen können – eben aufgrund ihres diversen Lebenswegs.

Stephan: Da gibt es mehrere Ebenen. Die erste ist die superoberflächliche, dass du als Marke auf eine ganz bestimmte Art wahrgenommen werden willst. Und nicht die Bonner Republik atmest, 50er Jahre, rauchende weiße Männer in schweren Ledersesseln. Dieses Image will niemand haben. Jetzt will man Technologieführer sein, Marktführer, international, weltoffen. Leute sollen in der Weltgeschichte umherfliegen. Wände werden lila gestrichen, coole nachhaltige Kaffeebecher, Kickertisch und Bio-Müsli in der Kantine. Das ist auch meistens das, was wir von Vielfalt im Unternehmen mitbekommen. Die zweite Ebene bildet sich aus den Beharrungskräften. Wer einmal beruflich mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu tun hatte, der weiß, wie stark die sind. Das muss nicht ausschließlich schlecht sein, dem kann ja auch eine Qualitätssicherung zugrunde liegen. Eine Organisation möchte jedenfalls am liebsten so bleiben, wie sie ist. Alles andere wäre für sie mit einem Risiko verbunden. Und wenn es dann ans Eingemachte geht, um Devotionalien, um Insignien, um Kohle, um Bonus – wer kriegt dann den Job? Wer wird befördert? Dann wird es richtig eklig. Und die Vielfalt ist passé. Die dritte Ebene: Es müssen Menschen kommen, denen das Thema ein Anliegen ist. Die müssen umkrempeln – und das muss wehtun. Das ist wie beim Pflasterabziehen, wo du dich entscheiden kannst, ob du es schnell oder langsam machst. Unsere Medien entscheiden sich in den allermeisten Fällen dafür, es gar nicht zu machen.

Annkathrin: Wenn aber jemand kommen muss, um das Ganze umzukrempeln, klingt es wieder, als wäre es abhängig von einzelnen Personen.

Stephan: Es braucht Menschen in den Führungsetagen. Natürlich ist es gut, wenn Hausmeister, Praktikantinnen, Volontäre und der Kameramann weltoffen und liberal sind. Aber wenn das den Amtsträgern und Funktionsträgern total latte ist, verändert sich nichts. Ich finde es ultralustig, wenn es heißt: Wir haben eine Umfrage unter 86 Volontären gemacht, die beweist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk grün, linksradikal, extremistisch, Letzte-Generation-unterstützend ist. Wohingegen eine Umfrage unter Intendanten, unter Chefredakteuren, unter dem Aufsichtsrat und Konzernvorständen interessant wäre. Was denkst du denn, wie diese Leute wählen, wie deren Haltung zu bestimmten Dingen ist, wie die zu gesellschaftlichen Veränderungen und Vielfalt stehen? Der Fisch stinkt vom Kopf her, dort muss sich etwas verändern. Dort, wo das Geld verteilt wird. Wo es öffentliche Aufsicht oder Wahrnehmung gibt. Auch in der Programmgestaltung.

„Wenn ich noch einmal eine Debatte führen muss, ob Gendern sinnvoll ist … Da muss man nicht immer wieder bei Null ansetzen.“ Annkathrin Weis

Annkathrin: Als Beispiel kann man sich die Rundfunkräte angucken. Dass beim ZDF-Fernsehrat ein fester, voller Sitz für junge Leute oder Frauen fehlt.

Stephan: Wenn ich das gesellschaftlich betrachte, dann fällt es mir schwer, mich so stark auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu konzentrieren. Wir machen das, weil es einfacher ist, weil dort die Strukturen transparent sind, aber bei Dax-notierten Unternehmen ist es auch nicht anders als bei Medienträgern, die in privater Hand sind. Da gibt es doch auch keine Vielfalt, oder?

Luca: Aber der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinem klaren Auftrag – wenn der sehr einseitig ist, sehr männlich, weiß et cetera, dann ist das noch mal problematischer.

Annkathrin: Außerdem: In dem Moment, wo ich einen freie Markt habe, gibt es eine höhere Fluktuation, mehr Freie und viele Auftragnehmer:innen. Allgemein mehr Jobwechsel, als wenn jemand auf einer Festanstellung in einer Landesrundfunkanstalt sitzt.

Stephan: Ich finde, das sind zwei unterschiedliche Gespräche. Das eine ist Vielfalt in der Gesellschaft und das andere ist, welche Verantwortung Organisationen in gesellschaftlicher Trägerschaft haben. Da darf man nicht bei ARD und ZDF haltmachen. Da müssen wir über die Bundesbank sprechen, Ministerien, Verwaltung, städtische Kitas und Krankenhäuser. Da ist es keineswegs so, dass eine Sparte besser dastünde als die andere, sondern alle versagen gleichermaßen. Aber es stimmt: Wenn wir die Verantwortung der Presse in Deutschland betrachten, gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen öffentlich-rechtlich und privat. Wer solchen Status und solche Privilegien hat, muss sich auch einer Verantwortung stellen.

Luca: Wenn wir uns die Branche ansehen, denken meiner Wahrnehmung nach gerade die jungen Leute aber bereits, sie seien aufgeklärt und würden viel „machen“.

Stephan: Denkt das irgendjemand? Ernsthaft?

Luca: Ich habe schon das Gefühl – Sendeanstalten, Produktionsfirmen. Natürlich wissen sie selbst, dass sie noch lange nicht dort sind, wo sie sein sollen. Aber weil sie jetzt gendern, haben sie es „aufgearbeitet“.

Annkathrin: Ich denke eher, dass wir einen Punkt in der Debatte erreicht haben, dass durch die Generationen hinweg einiges niemand mehr hören will. Wenn ich noch einmal eine Debatte führen muss, ob Gendern sinnvoll ist … Da muss man nicht immer wieder bei null ansetzen. Stattdessen gibt es gekünstelte Debatten, die gerne von bestimmten Personengruppen gepusht werden. Stichwort trans Personen und Toiletten.

„Wenn wir uns die Branche ansehen, denken meiner Wahrnehmung nach gerade die jungen Leute aber bereits, sie seien aufgeklärt und würden viel ,machen‘.“ Luca Schmitt-Walz

Stephan: Ich würde gerne mit zwei Bildern antworten. Erstens: Du bist im Wald und fällst in ein Loch. Natürlich ist es gut, wenn du versuchst, herauszuklettern und die Hälfte überwunden hast. Du bist aber, trotz aller Bemühungen, immer noch im Loch. Egal wie viel du erreicht hast, du musst etwas tun, damit du einen Zustand erreichst, wo du sagst: Jo, das ist wirklich gut, nun kann ich herausklettern und weiterlaufen. Von Bemühung und Ergebnis einmal abgesehen, müssen wir uns einige Fragen stellen: Was heißt Vielfalt? Welche Vielfalt wollen wir? Nummerische Vielfalt? Wollen wir die Vielfalt in der Bevölkerung abbilden? Wollen wir equality of outcome? Oder wollen wir vorne ansetzen und eine equality of opportunity? Nehmen wir ernst, dass Kinder nicht aufgrund von Armut schlechter beurteilt werden als Kinder, die aus besserem Hause kommen. Dass sie anhand ihres Namens keine ethnische Diskriminierung erfahren. Dass Frauen mit Kopftuch bei Bewerbungen nicht aussortiert werden. Davon sind wir nicht nur Lichtjahre entfernt, sondern in einem Paralleluniversum unterwegs. Dann: Natürlich reden wir wahnsinnig viel, aber das heißt nicht, dass irgendetwas davon passiert. Zu Jahresanfang nehmen wir uns alle vor, gesünder zu essen und mehr Sport zu machen. Das ganze Jahr über kannst du dann Beiträge darüber lesen und hören, wie man eine erfolgreiche Diät hinbekommt. Das heißt aber nicht, dass die Menschen alle gesund und zufrieden wären. Das heißt nur, es gibt Vorsätze und möglicherweise einen Trend. Aus psychologischen, sozialen Gründen gelingt es den Menschen aber nicht, ihre Pläne umzusetzen. Bei Organisationen ist es dasselbe. Und ich glaube noch nicht mal, dass sonderlich viel Bosheit im Spiel ist. Ich glaube nur, viele kriegen es nicht hin, weil es anstrengend ist, der ganze Mist auch noch Geld kostet und du am Ende trotzdem kritisiert wirst. Und die Veränderungsbereitschaft junger Leute, die in ein System kommen, wird teilweise absorbiert durch das, was sie vorfinden. Die haben gar nicht die Macht, etwas zu verändern. Vor allem mit den ausbeuterischen Konstrukten, die in anderen Branchen höchst illegal wären. Wie genau sollen sich junge Leute da wehren und Verantwortung für das Systemversagen übernehmen?

Annkathrin: Das bedeutet dann, dass es nur bedingt eine Grassroot-Bewegung geben kann. Aber wann kommen diese Führungskräfte? Wie viele wütende Tweets muss es geben, damit Verantwortlichkeiten endlich ausgetauscht oder diversifiziert werden?

Stephan: Unternehmen haben großes Interesse an dem, was man Brand Safety nennt. Und die wird in Zeiten totaler Transparenz immer schwieriger. Wenn du viel über Vielfalt redest, aber mit Blick auf die Webseite nicht vorweisen kannst, dass dein Management nicht nur aus Männern und Weißen besteht, hast du ein Problem. Im internationalen Vergleich sowieso. Diese Transparenz, die Verbreitung über Social Media, alles, was man als „Shitstorm“ subsumiert, das nervt die Verantwortlichen. Ich mag zwar diesen Begriff „Shitstorm“ nicht, weil er zuweilen berechtigte Kritik diffamiert. Aber die Zeiten der geschredderten Leserbriefe sind vorbei. Jetzt wirst du nach deinem Verhalten und nach der Qualität deiner Arbeit beurteilt. Und die Stimmung kann sich von heute auf morgen ändern: Guck dir ProSieben an, die für ihre 15 Minuten gefeiert werden und bei sexistischer Grenzüberschreitung trotzdem berechtigterweise einen auf die Mütze bekommen. Ich glaube, dass die kritische Öffentlichkeit ganz, ganz wichtig ist. In einer Zeit, in der wirklich jeder Absender sein und einen eigenen Verlag führen kann, musst du als Medienmarke herbe Verluste fürchten – Reichweite, Auflagen, Quoten, Klickzahlen. Und dann kommen Dummies wie ich und können mit einem spitzen Kommentar großen Medienkonzernen auf den Fuß steigen. Davon abgesehen kannst du etablierte, seriöse unabhängige Medien gründen, die außerhalb klassischer Plattformen stattfinden – Übermedien, Bildblog, Krautreporter, Riffreporter und Co machen einen guten Job. Und setzen damit bestehende Systeme unter Druck.

Luca: Ich stimme dir da total zu, dass wir heute ganz andere Möglichkeiten haben, Unternehmen ans Bein zu pissen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass es außerhalb von Twitter keine Sau interessiert. Wenn ich zur Tür rausgehe und drüben zur Feuerwehr rein, in der ich aktiv bin, kriegt von diesem Shitstorm keiner was mit. Ein paar von denen hassen die Medien aus ganz anderen Gründen

Annkathrin: Trotzdem sind es sehr häufig Journalist:innen, die andere Journalist:innen oder Redaktionen kritisieren. Dieses Feedback von Peers ist total wichtig – aber klar, es spiegelt nicht unbedingt die Sorgen der breiten Gesellschaft wider. Es ist eher eine Art Kontrollgruppe.

Luca: Da stimme ich zu. Wenn Kolleg:innen kritisieren und öffentlich machen, bewegt sich ja schon etwas. Ich glaube, dass wir bei dem Thema Rassismus, ethnische Vielfalt teilweise schon weit sind – bei anderen Facetten der Vielfalt aber noch nicht mal darüber gesprochen wird: die Ost-West-Debatte, nicht-akademische Wege in den Journalismus, Behinderungen, …

Stephan: Das ist mir auch persönlich ein großes Anliegen, weil ich es als Deutscher ohne deutsche Eltern nicht verstehe. Ich verstehe nicht, wie wir das Thema Ostdeutschland-Westdeutschland nicht gebührend und ordentlich und präzise und klug und menschenfreundlich behandeln können. Es ist knallhart, wie hier fast alle versagen. Wenn du als Ostdeutsche 30, 40 Jahre lang immer nur Versprechungen hörst, und kaum etwas wird eingelöst. Führungspositionen, Intendanzen und Direktorien in Ostdeutschland gehen nahezu geschlossen an Westdeutsche. Für diese Themen ist dann immer traditionell der 3. Oktober vorgemerkt. Denn „Die Ossis sind seltsam“ und „weltoffen und sexy ist das Thema auch nicht“. Wenn wir reale Vielfalt und gemischte Redaktionen hätten, würden uns klassisch westdeutsch-ignorante Sätze wie „Wir leben seit 70 Jahren in Frieden und Wohlstand“ doch nicht so einfach über die Lippen gehen. Dann würde zumindest jemand danebensitzen und „Nein“ sagen. Gleichzeitig muss man sagen, dass es nicht Aufgabe von Minderheiten ist, jeden Tag Volkshochschulkurse für Journalist*innen zu geben. Von diesen Dingen abgesehen, wäre die Berichterstattung aber natürlich besser, wenn es mehr Blickrichtungen gäbe. Wenn du immer nur dasselbe Bauteil in systemrelevanten kritischen Strukturen einbaust, und das geht dann reihenweise kaputt, dann hast du ein Problem. Die Idee von Vielfalt und Nichtdiskriminierung und Gleichberechtigung hat, mal ganz nebenbei bemerkt, Verfassungsrang. Und wenn man sich vor diesem Grundsatz der Gleichbehandlung anschaut, dass im Jahr 2021 zeitweise 30 von 30 DAX-Vorstandsvorsitzenden männlich, weiß und westdeutsch waren, stellt sich doch eine einfache Frage: Entweder „die Weiber“ und „die Ausländer“ können es nicht – oder es gibt Strukturen und Blockaden, die verhindern, dass Frauen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an solche Positionen kommen. Es gibt keine andere Erklärung.

„Das postulierte Leistungsprinzip ist in weiten Teilen Bullshit, weil es statistisch einfach nicht sein kann, dass immer nur derselbe Typus Mensch an Spitzenpositionen kommt.“ Stephan Anpalagan

Annkathrin: Meine eigene Familie kommt aus dem Osten, und ich habe häufig die Situation in Westdeutschland, dass ich die Einzige bin, die persönliches Wissen einbringen kann. Ich gebe mir Mühe, aber am Ende liegt es auf meinen Schultern.

Stephan: Und das entindividualisiert ja die Menschen, die einer solchen Gruppe angehören. Du bist immer die Ostbeauftragte. Immer, wenn du allein bist, bist du automatisch für dieses Thema verantwortlich. Denn mittlerweile haben die Leute gerafft, dass möglichst auch Menschen sprechen sollten, die betroffen sind. Aber eben nicht immer und nicht nur. Wenn man es nicht schafft, echte Vielfalt zu organisieren, bist du immer in der Beauftragten-Position.

Luca: Nicht mal beim Thema Ausländer und Frauen kriegen wird das offenbar hin. Und wenn wir dann noch Schulabschlüsse, Ost-West, soziale Herkunft dazunehmen, resigniere ich so ein bisschen. Wie können wir das überhaupt schaffen?

Stephan: Ausländer ist übrigens nur eine Chiffre, weil ich das Wort Migrationshintergrund hasse wie die Pest.

Annkathrin: Welches Wort würdest du denn dann verwenden?

Stephan: Ich weiß es nicht. Ich habe einmal etwas plakativ gesagt, dass wir besser in Ariernachweis und Nicht-Ariernachweis unterscheiden sollten, weil es ehrlicher wäre als Südländer, Nafri oder Migrationshintergrund. Denn niemand meint damit Österreicher und Niederländer und Schweden oder weiße US-Amerikaner und Neuseeländer und Australier. Wir reden, da kann man ruhig ehrlich sein, vor dem Hintergrund des Konzepts Rasse. Interessanterweise wissen ja immer alle, was gemeint ist und wer dazugehört und nicht dazugehört. Die fehlende Sensibilität bei „Dönermorde“, „fremdenfeindlicher Anschlag in Hanau“ – da denkst du dir nur: What the hell? Das waren alles Hanauerinnen und Hanauer. Keiner von denen war fremd. Und dann ist es plötzlich an den Angehörigen und nichtweißen Journalistinnen zu erklären, dass die Opfer keine Fremden waren. Es gab mal eine Sendung im Hessischen Rundfunk mit dem Titel „Frustriert und rechts!? Wie ticken die Ossis?“, wo sich ein Moderator in einer hessischen Innenstadt mit Passantinnen ernsthaft darüber unterhält, ob sie nach „Dunkeldeutschland“ reisen würden. Alles in dieser Sendung basiert auf Ausgrenzung und Herabwürdigung. Man fühlt sich in einem Menschenzoo. Ich kenne die dortige Redaktion nicht, aber die Hoffnung wäre ja, dass wenn dort zwei oder drei Ostdeutsche säßen, dass die dann sagen: Hömma, Philipp, das ist wirklich kein guter Journalismus, den du da machst.

Annkathrin: Wenn Westdeutsche trotzdem vernünftig über Ost-Themen berichten sollen: Dann braucht es doch ganz klassisch mehr Bildung. Dass man innerhalb von Redaktionen versteht, dass man sich weiterbilden muss, dass man noch nicht genug Kapazitäten, Ressourcen und Wissen im Haus hat.

Stephan: Es ist ja keine Nuklearphysik. Es geht darum, dass du ein Programm machst für 82 Millionen Menschen, die nicht alle aussehen wie du und auch nicht alle Hans-Peter heißen. Dazu braucht es eine offene Kultur und viel Veränderung. Du musst anzeigen, dass dir das wichtig ist. Manchmal reicht es sogar schon, sich eine halbe Stunde durchs Internet zu klicken, um relativ weit zu kommen. Wie groß solche Unternehmen und wie autonom sie agieren, habe ich beim WDR gesehen, wo ich eine Woche vor der zweiten Ausstrahlung der Sendung Die letzte Instanz, in der weiße Menschen über rassistische Wörter diskutiert haben, ein Panel und einen internen Workshop zum Thema Rassismus im Journalismus durchgeführt habe. Es geht eben beides: Man kann eine Regenbogenflagge am Verlagseingang wehen lassen und gleichzeitig die Hälfte der Klickzahlen durch transfeindliche Scheiße erreichen. Das ist überhaupt kein Problem. Um beim Bild weiter oben zu bleiben: Wir müssen mit viel Demut aus unserem Loch rauskommen.

„Meine eigene Familie kommt aus dem Osten, und ich habe häufig die Situation in Westdeutschland, dass ich die Einzige bin, die persönliches Wissen einbringen kann.“ Annkathrin Weis

Luca: Und wahrscheinlich müssen die ganzen Medienhäuser die wirtschaftlichen Konsequenzen spüren. Das merkt man jetzt im Osten, wo es beispielsweise höchste Zeit wäre, mehr Ostdeutsche auf die entscheidenden Positionen zu setzen, damit diese Gedankenwelt aufgegriffen werden kann und man in der Berichterstattung und Ansprache was anders macht.

Stephan: Journalismus, Presse und Medien funktionieren als Zweibahnstraße. Du nimmst auf, was in der Welt vor sich geht, aber wirkst gleichzeitig in die Gesellschaft hinein – mit Meinungen und Willensbildung. Schlechter Journalismus muss aufgebrochen werden, indem du Vielfalt darstellst – nicht nur mit Menschen, die alle Abitur, Journalistenschule und genug Kohle haben, um sich durch Volos und Praktika zu hangeln. Sondern mit Menschen aus allen möglichen unterschiedlichen Lebensbereichen und Phasen des Lebens und soziokulturellen Hintergründen.

Annkathrin: Was mich als junge, freie Journalistin vor eine Herausforderung stellt. Bei vielen Bewerbungsprozessen an Journalismusschulen oder für Volontariate, selbst bei freien Mitarbeitenden wird inzwischen mehr oder weniger direkt gefordert: Erzähl uns doch mal, wie divers du bist. In dem Moment frage ich mich: Wie viel zeige ich, ohne ein Label vorzuhalten? Natürlich kann ich bei den Bewerbungen schreiben: Hi, ich bin Annkathrin, meine Familie kommt aus Ostdeutschland, ich bin Arbeiterkind und bisexuell. Ich habe keinen Migrationshintergrund, aber ich checke zumindest vier von fünf Boxes.

Stephan: Ich habe lange in der Wirtschaft gearbeitet, auch im internationalen Personalmanagement. Ich stell mir gerade vor, dass die Leute rumlaufen und fragen: Sind Sie schwul? Ah super, dann kommen Sie mal mit.

Annkathrin: Es gibt einen Grund, weshalb ich darüber im beruflichen Kontext noch nie geredet habe.

Stephan: Auf der einen Seite bin ich ein totaler Verfechter des Leistungsprinzips, weil das Ungerechtigkeiten und soziale Unterschiede egalisieren kann. Ich will, dass die besten Leute hochgespült und eingestellt werden. Andererseits sehe ich auch, dass dieses postulierte Leistungsprinzip in weiten Teilen Bullshit ist, weil es statistisch einfach gar nicht sein kann, dass immer nur derselbe Typus Mensch an Spitzenpositionen kommt. Von daher brauchen wir tatsächlich mal ein starkes Leistungsprinzip. Lustigerweise kann das nicht stattfinden, wenn wir dieselbe Identitätspolitik fahren, vor denen die Rechten so herzzerreißend warnen: In diesem Land ist es absolut nicht überraschend, dass der Biontech-CEO Ug ˇur S ¸ahin aufgrund seiner Herkunft keine Gymnasialempfehlung bekommt. Ich habe auch keine Gymnasialempfehlung bekommen. Viele, viele Menschen, die sich später hochgearbeitet haben, haben in den 1980er und 1990er Jahren keine Gymnasialempfehlung bekommen. Von wegen Leistungsprinzip. Es gibt die Max-und-Murat-Studie der Universität Mannheim, in der angehende Lehrerinnen und Lehrer die gleiche Klassenarbeit bewerten sollten und schlechtere Noten vergeben haben, wenn auf dem Zettel Murat stand. Die Leute werden aufgrund solcher Merkmale aussortiert. Nun kommen also einige Schlaue daher, drehen den Spieß um und sagen: „Diversity Hires“ – früher kannte man die „Quotenfrau“. Das ist nicht per se schlimm, führt aber zu furchtbaren Auswüchsen, wenn es die Leute dazu zwingt, ihre „Diversity Features“ auf Papier zu bringen, was sie selbst vielleicht gar nicht wollen. Das finde ich abstoßend. Man muss eine kluge Besetzungspolitik haben. Du musst dafür sorgen, dass am Anfang viel, viel mehr Menschen erreicht werden aus Communitys, die du ansprechen willst. Du musst den Trichter der Bewerbungseingänge weiter aufmachen und dafür sorgen, dass sich mehr Menschen bewerben.

Luca: Mit diesen Diversity-Verfahren hat jemand also zwar in eine gute Richtung gedacht, aber leider einen Schritt zu weit.

Stephan: Das kommt auf das Verfahren an. Die Lösung ist nicht, fortan Murat bessere Noten zu geben als Max. Grundsätzlich ist es die Aufgabe von Organisationen, dafür zu sorgen, dass sich so viele Menschen aus unterschiedlichen Lebensverhältnissen und Herkünften bei ihnen bewerben. Nur wenn du viele Kandidatinnen und Kandidaten hast, kannst du nach der besten Eignung auswählen. Statistisch gesehen wirst du dann eine vielfältige Belegschaft zusammenstellen können. Wenn du aber nicht viel Auswahl hast, weil du all die Jahre lang nichts gemacht hast, musst du nun sagen, wir nehmen einfach die Ostdeutsche, die bisexuell ist und ein Nasen-Piercing hat. Im Prinzip musst du in die Kindergärten, Grundschulen und Informationszentren gehen und die Leute fragen: Habt ihr Bock, Journalistin oder Journalist zu werden? Der Journalismus muss um die Kinder und Kleinkinder kämpfen. Wir müssen einen Berufswunsch wecken und dafür sorgen, dass die uns nicht aus der Ausbildung fallen. Diese ganze Arbeiterkind- und Frauenförderung – alles gut, aber viel zu wenig. Du musst entlang des gesamten Lebens- und Bildungszyklus begeistern. Gute Arbeitsbedingungen schaffen. Dich darauf einstellen, dass die dann plötzlich auch das Sagen haben. Es ist nicht mehr wie früher, dass du einen dicken Namen am Hausschild stehen hast und vor der Eingangstür alle Schlange stehen. Du hast die Leute jahrelang schlecht behandelt, und jetzt bewirbt sich keiner mehr bei dir. Das ist ein Systemversagen der gesamten Medienlandschaft, der Bewerbungsverfahren, der Personalpolitik, der Organisationsentwicklung. Und das hat nichts mit Kampagnen zu tun. Das hat nichts mit Weiterbildungsmaßnahmen zu tun. Du musst das System vom Kopf auf die Füße stellen.

„Außerhalb von Twitter interessiert es keine Sau, wenn einem Unternehmen ans Bein gepinkelt wird.“ Luca Schmitt-Walz

Annkathrin: Demzufolge ist doch ein Diversity-Beauftragter nur ein Trostpflaster, das sich viele Medienhäuser auf die Symptome des Problems kleben, statt die Strukturen zu bearbeiten.

Stephan: Ehrlich gesagt frage ich mich, was diese Personen den ganzen Tag machen. Ich will das nicht madig machen. Wenn mir ein Unternehmen erzählt, wir haben eine Beauftragte für Vielfalt mit einem Team von zehn Personen und 40 Millionen Budget und totale Rückendeckung von unserem Management – that’s the way. Wer aber eine Person hinstellt, die nebenbei Schwerbehindertenbeauftragte, Frauenbeauftragte und Rettung-aus-steckengebliebenen-Aufzügen-Beauftragte ist … Sorry, das ist doch ein Witz. Wie gesagt, ich habe nichts dagegen. Aber die Ausgestaltung funktioniert in den meisten Fällen nicht.

Luca: Wenn man dir so zuhört: Muss der Kampf um Vielfalt da einfach noch populistischer werden? Braucht man das, um die breitere Masse zu erreichen, um alle mitzunehmen?

Stephan: So was wie einen grünen Markus Söder?

Luca: Von mir aus.

Stephan: Ich mag wirklich nicht die schrägen Argumente von irgendwelchen Rechten aufnehmen. Aber wir müssen nun einmal so reden, dass die Leute uns verstehen. Nicht nur sprachlich, auch inhaltlich, mit gutem Journalismus. Natürlich ist es Pflicht und Aufgabe auch über Ausländerkriminalität und Grenzkriminalität zu berichten. Aber das muss präzise und klug passieren. Wir müssen auch über Einwanderung sprechen und über die Frage, wie viele Menschen sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten. Das ist doch alles kein Problem. Und vor allem kann mir keiner erzählen, dass es keine Dauerberichterstattung zu Islam und irgendeinen Ausländer-Kokolores gäbe. Aber Döndermorde, Nafri und die Spielautomaten-Mafia in Hanau gehen nicht. Auch nicht, dass über getötete Frauen immer nur dann berichtet wird, wenn Serkan einen Ehrenmord begangen hat, aber nicht, wenn Max einen Mord aus Leidenschaft begeht. Jetzt stellt sich heraus, dass die Polizei in Dortmund einen 16-jährigen Jugendlichen hingerichtet hat, nachdem wir alle vorher fleißig unkritisch die Polizeiberichte abgeschrieben haben. Oder diese unwürdige Berichterstattung um die getötete Radfahrerin in Berlin, wo mit großer Lust das Gerede von einer „Klima-RAF“ verstärkt wurde. Das ist doch kein guter Journalismus.

Luca: Wären da nicht die Klicks …

Stephan: Überraschung: Mit Journalismus, der sich nicht an die Rechtsradikalen anbiedert, kannst du auch Reichweite erzielen. Ich würde gerne gute konservative Texte lesen, die mal nicht vorhersehbar sind. Dieselben Leute sagen immer dieselben Sachen. Manche Kolumne könnte ich, bevor ich sie gelesen habe, nach Gespür aufschreiben und bekäme eine Übereinstimmung von wahrscheinlich 60 Prozent.

Annkathrin: War dann 2022 ein gutes oder ein schlechtes Jahr für die Weiterentwicklung dieses Themenkomplexes? Mir sind jetzt vor allem Negativbeispiele in Erinnerung geblieben.

Stephan: Ich denke, dass es immer schon gute Texte gab von Menschen aller Couleur. Die gab es aber eben nur vereinzelt, sie verfingen nicht und führten nicht zu einer organisatorischen Änderung. Gerade der politische Journalismus ist abhängig von politischen Dynamiken. Dass es derzeit so einen Rückfall in alte Muster gibt, zumindest in der Politik, nehmen manche Senderchefs oder Chefredakteure zum Anlass, um selber wieder zurückzufallen in ihrer Berichterstattung, in ihrer Besetzungspolitik. Auf jeden Fall werden viele Menschen und Texte sichtbarer und deutlicher, von Jahr zu Jahr. Und das ist doch erstrebenswert, dass wir uns dem mit schnelleren Schritten dem Ziel nähern. Wann wir es endlich geschafft haben, weiß ich nicht.

Stephan Anpalagan ist Journalist und Geschäftsführer der gemeinnützigen Beratungsorganisation „Demokratie in Arbeit“. Annkathrin Weis ist freie Journalistin und zusammen mit Luca Schmitt-Walz Host des journalist-Podcasts Druckausgleich. Silke Werzinger arbeitet als Illustratorin in Berlin.

Den kompletten Talk gibt es in der aktuellen Folge von Druckausgleich – überall, wo es Podcasts gibt.

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