Marie-Louise Timcke

"Hinter Zahlen schauen – das fehlt einfach"

03.03.2022

Unsere Welt ist zunehmend datengetrieben, und der branchenweite Trend zu mehr Datenjournalismus trägt dem Rechnung. Die Karrierestationen von Marie-Louise Timcke machen vor, wie sich Redaktionen Datenkompetenz aufbauen können. Text: Caroline Lindekamp

Journalisten unterliegen oft demselben Irrtum wie Leser, sagt Marie-Louise Timcke: dass Daten Fakten seien. (Foto: Johanna Berger)

Der Unterschied zwischen Durchschnitt und Mittelwert? "Das ist einer der gängigsten Fehler – und er wird auch in Redaktionen gemacht", sagt Marie-Louise Timcke. Sie ist seit Januar Leiterin Datenjournalismus bei der Süddeutschen Zeitung. "Die Data Literacy ist häufig nur sehr oberflächlich. Journalisten und Journalistinnen sehen eine Zahl, zitieren sie im Artikel und unterliegen letztlich demselben Irrtum wie viele Leser: Zahlen sind Fakten." Dabei ist auch die bestgemachte Statistik nur eine Annäherung an die Realität, und als solche müssen Journalisten sie behandeln. Gänzlich ohne Daten kommt Berichterstattung immer seltener aus. Die großen Themen der Zeit wie die Pandemie und die Klimakrise sind datengetrieben. Politik und Wirtschaft gründen ihre Entscheidungen auf Studien und Statistiken. Rechtfertigen Verdopplungszeit und exponentielles Wachstum tatsächlich die Corona-Maßnahmen? Solche Fragen erfordern ein gewisses statistisches Know-how und machen in vielen Redaktionen eine Lücke offensichtlich. "Hinter Zahlen schauen, Zusammenhänge erkennen, Datenkritik üben, Validierungsprüfungen machen und Vergleichsdaten heranziehen – das fehlt einfach", sagt Timcke. Sie sieht die Bereitschaft, daran etwas zu ändern: "Redaktionen rüsten nach, um sich diese Kompetenzen aufzubauen."

Der Trend zum Datenjournalismus hat schon vor der Pandemie Fahrt aufgenommen – etwa zu der Zeit, als sich Timcke für eine Karriere im Journalismus entschied. Datenjournalismus meint: Geschichten in Daten finden und mit Daten erzählen. Sie interaktiv ausspielen, um die Zahlen komplexitätsreduziert und spannend zu vermitteln – zum Beispiel als Service-Tool oder mit personalisierten Verortungsoptionen für die Rezipienten. Wie steht jede einzelne in der großen Zahlenblase? Diese Herangehensweisen eröffneten der heute 29-jährigen Timcke ungeahnte Türen. Doch zunächst brauchte es einiges Zureden, um sie von der Spezialisierung zu überzeugen. Timcke hatte eigentlich einen ganz anderen Berufswunsch: Nach dem Life–Science-Studium in Konstanz wollte sie in die Tumorforschung. Doch nach den ersten Semestern schloss sie einen Arbeitsalltag im Labor aus. Sie brach das Studium ab und entschied sich für Wissenschaftsjournalismus als Kompromiss: Die Themen bleiben, die Arbeit ändert sich. 

"Das erste Mal ein Team zu leiten, war hart. Die Leute, denen ich am Anfang dämliche Fragen gestellt hatte, sollten mir plötzlich komplett vertrauen und folgen."

Statt selbst Forschung zu betreiben, wollte sie darüber schreiben. Im Orientierungsgespräch am Dortmunder Institut für Journalistik wollte man die Studentin für den Daten- statt Medizinschwerpunkt motivieren. Er war damals im Jahr 2014 noch ganz neu und sorgte bei Timcke sowie ihren Kommilitonen für wenig Begeisterung. In Konstanz war sie schon zweimal durch die Matheprüfung für Chemiestudierende gefallen und hatte nur noch einen finalen K.O.-Versuch, die sogenannte Existenzprüfung. "Zwar habe ich letztlich bestanden. Aber auch deswegen wollte ich den Datenschwerpunkt nicht machen. Ich falle doch nicht zweimal in Mathe durch und komme dann auf die super Idee, Statistik zu studieren", sagt Timcke. "Ich war nie in einer Informatik-AG. Meinen Computer habe ich höchstens zum Sims-Spielen und mal für eine Word-Datei genutzt." Timcke war schließlich bereit, immerhin mal reinzuschnuppern.

Journocode: von der AG zur UG

Von Anfang trieb die Studentin die Frage an, wie sie die Theorie für journalistische Zwecke nutzen kann. Diese stellten sich auch andere, und Timcke gefiel die Antwort der Berliner Morgenpost, die schon damals datenjournalistische Beiträge auf ihrer Website spielte. Auf der Suche nach Rechercheaufgaben, die ohne Programmier-Skills nicht lösbar sind, nahm sich Timcke die Beiträge des jungen Datenteams aus der Hauptstadtredaktion zum Vorbild. Beispielsweise besorgte sie Datensätze des Dortmunder Einwohnermeldeamts, um eine interaktive Karte in Morgenpost-Manier nachzubauen. 

Aus heutiger Sicht sehen diese ersten Gehversuche "wirklich furchtbar aus", sagt Timcke. Sie habe viel zu kompliziert programmiert. Ihre Ergebnisse gefielen immerhin einigen Kommilitoninnen und Kommilitonen – oder machten diese zumindest so neugierig, dass sie Timcke um eine Lerngruppe baten. Das erste Treffen stand noch unter dem Motto "Marie bringt uns Programmieren bei". Nach und nach vermittelten auch die Studienfreunde in der wöchentlichen Runde die Erkenntnisse aus ihren Selbststudien. Das gemeinsame Oberthema bringt Timcke so auf den Punkt: "Wie können wir Skills aus Statistik und Informatik nutzen, um richtig geilen Journalismus zu machen?" Der Name der Experimentiergruppe: Journocode – kurz für Journalismus und Code. Weniger naheliegend als der Name ist das Logotier, ein türkises Eichhörnchen mit buschigen Rundungen. "Das Eichhörnchen hat es vor allem ins Logo geschafft, weil wir nicht designen konnten", sagt Timcke. "Und dann fanden wir es so süß." Die Gruppe wollte ein neues Design-Tool testen. Ein geflügeltes Nashorn, das Wahrzeichen der Dortmunder Wahlheimat, war zu komplex für die Anfänger und das rundliche Eichhörnchen deutlich leichter zu bauen. Bis heute thront der Nager auf der Website, die das Journocode-Team schon im zweiten Treffen anlegte – als eine gute Übung und als Ort, um die erarbeiteten Tutorials für alle zugänglich zu sammeln.

Dass die Dokumentation bald eine Geschäftsgrundlage werden sollte, hatte Journocode nie im Hinterkopf. Anfragen für Seminare in Redaktionen, etwa für die Volontärinnen und Volontäre der Deutschen Welle, waren zunächst eine Überraschung, häuften sich aber schnell. Aus der unverbindlichen Studierenden-AG wurde eine offizielle UG mit Workshops an der Schnittstelle von Daten und Journalismus als Kernprodukt. Inzwischen sind die Gründer und Gründerinnen keine Studenten mehr. Fast jedes Team-Mitglied arbeitet im Datenjournalismus, die meisten Vollzeit. Wenn sie sich jetzt in ihrer virtuellen Dienstagsrunde treffen, diskutieren sie über die Zukunft des Start-ups.

Karriere im Schnelldurchlauf

Timcke hatte noch in der Anfangszeit von Journocode einen Praktika-Marathon hingelegt und Stationen in der Schweiz sowie in Berlin bei der Morgenpost und Zeit Online aneinandergereiht. Für die talentierte Praktikantin schuf die Morgenpost einen Platz für ein Datenvolontariat und bot ihr direkt danach eine Festanstellung an. Das Datenteam wechselte in die Zentralredaktion des Mutterverlags Funke. Die damals 25-jährige Timcke wechselte von der Auszubildenden nicht auf einen Redakteurs-, sondern direkt auf den Führungsposten. Der Karrieresprung war ebenso ungeplant wie zuvor schon die Transformation von Journocode zur UG. "Ich will die schnelle Beförderung nicht schmälern", sagt Timcke. "Ich hatte mir bereits ein gutes Skillset erarbeitet, und das Team traute mir diesen Schritt zu. Aber wenn es superviele Kandidaten und Kandidatinnen mit datenjournalistischen und Führungsskills gegeben hätte, hätte man sich wohl nicht für eine Volontärin entschieden." Aus ihrer Sicht haben damals die Umstände dazu geführt, dass man als Datenjournalist in kurzer Zeit eine Karriereleiter hochklettern konnte. Denn die Spezialisten waren Mangelware unter Journalisten. Wer sich früh mit einer gefragten Spezialisierung positionierte, hatte einen Vorsprung.

"Wie können wir Skills aus Statistik und Informatik nutzen, um richtig geilen Journalismus zu machen?"

Rückblickend sieht Timcke ihren Vorsprung nicht nur als Vorteil. Sie hat im Schnelldurchlauf wertvolle Erfahrungen gesammelt, doch die frühe Leitungsfunktion brachte sie an ihre Grenzen. "Das Team war super, und die Chefredaktion hat mich unterstützt und gefördert. Aber das erste Mal ein Team zu leiten, war hart. Die Leute, denen ich am Anfang dämliche Fragen gestellt hatte, sollten mir plötzlich komplett vertrauen und folgen", sagt Timcke, die damals die einzige Frau und die Jüngste im Team war. "Das hat mein Selbstbewusstsein sicherlich nicht gestärkt. Ich bereue nicht, die Stelle angenommen zu haben. Aber ich würde es nicht empfehlen. Stünde ich mit meinem heutigen Wissen vor der Entscheidung, würde ich es in dem Alter nicht noch mal machen." Timcke fühlte sich zunächst beinah verpflichtet, die großen Fußstapfen zu füllen, die ihr ehemaliger Chef Julius Tröger mit dem Schritt zu Zeit Online hinterlassen hatte. Sie brauchte ein Jahr, um ihren eigenen Führungsstil und ihre eigene Vision für das Team zu finden. Ihr Führungsstil: dem Team den Rücken freihalten, damit es sich voll auf die journalistische Kernarbeit konzentrieren kann. Die Vision: eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Journalisten, Designern und Entwicklern für visuell starke Datenprojekte. Im Frühjahr 2021, nach etwa drei Jahren in der neuen Position, war Timcke angekommen und sah auch in der Stellenausschreibung für die Leitung Datenjournalismus bei der Süddeutschen Zeitung keinen Grund zu gehen. Bis der Münchener Verlag direkt bei ihr anklopfte. Die bayerische Landeshauptstadt ist Timckes Geburtsstadt. Zwar wuchs sie in anderen Regionen auf, aber die Süddeutsche Zeitung lag stets auf dem familiären Frühstückstisch und hielt die Verbindung in den Süden. Timcke mag die Marke nicht allein aus nostalgischen Gründen. Datenjournalismus setzen die Münchener mit einem anderen Ansatz als Funke um. 

Ein Datenzimmer im Turm

In Berlin arbeitete immer Timckes komplettes Team "taskforcemäßig" an einem Projekt, bevor sich alle zusammen auf die nächste Recherche stürzten. Das SZ-Datenteam ist nicht interdisziplinär, sondern besteht ausschließlich aus Datenjournalisten und -journalistinnen, die sich Unterstützung aus den Fachressorts holen. So können sie parallel an mehreren Projekten arbeiten – der eine zusammen mit einer Kollegin aus der Wirtschaft, die andere mit einem Kollegen aus der Wissenschaft. Je nach Darstellungsform kommen Entwickler und Designer vom Visual Desk dazu. Beim nächsten Projekt sind ganz neue Konstellationen möglich. "Die Führungsaufgabe ist damit eine ganz andere Herausforderung für mich: Wer redet gerade mit wem? Wer arbeitet an was? Wer braucht noch was? Was läuft gut, was nicht?", sagt Timcke. Sie blickt seit Anfang des Jahres nicht mehr auf den Berliner Gendarmenmarkt. Aus dem Datenzimmer im Turm, wie ihr Teambüro und das Verlagsgebäude im internen SZ-Sprech heißen, geht ihr Blick nun bis zu den Alpen.

Trotz der expliziten Anfrage hatte sie nicht damit gerechnet, den Job tatsächlich zu bekommen. Denn zu dem Zeitpunkt war sie gerade schwanger – und beinah überrascht, dass der neue Arbeitgeber bereit war, ihre Elternzeit abzuwarten. Jetzt leitet Timcke zusammen mit ihrer Vertreterin Sabrina Ebitsch das neu ausgegründete Datenteam. Datenjournalismus ist längst nicht mehr wegzudenken und dürfte perspektivisch in Bedeutung für die Berichterstattung wachsen – und das branchenweit. Ob mit einer interdisziplinären Taskforce nach Funke-Beispiel, einem mit der Redaktion vernetzten Spezialistenteam wie im SZ-Turm oder mit Datengrundwissen für die breite Basis wie es Journocode vermittelt: Dem Thema Datenjournalismus müssen sich Redaktionen stellen. 

Caroline Lindekamp ist Redakteurin in der Kölner Wirtschaftsredaktion Wortwert.  

You can do this!

Warum?
Verabschiede dich von dem Gedanken, dass dir Statistik nicht liegt. Die Recherche in Daten ist lediglich ein Werkzeug für den Journalismus – ob man in der Schule panische Angst vor der Mathe­arbeit hatte, spielt keine Rolle.

1. Get that basic data literacy:
Wann ist eine Studie repräsentativ, wie kritisiere ich Datenquellen? Online gibt es reichlich Ressourcen und Angebote, um sich mit Daten-Skills gezielt für journalistische Anwendungsfälle zu rüsten.

2. Learn from the pros: 
Folge dem Twitter-Hashtag #ddj, um dich von Datenjournalismus­projekten inspirieren zu lassen. Besuche Datenjournalismus-Kon­ferenzen oder Meetups, beispielsweise die SciCar in Dortmund.

3. Create a data-driven mindset: 
Wie könnten Daten deine aktuelle Recherche bereichern? Bleib dran und integriere dein neues Wissen Stück für Stück in den Alltag.

4. Know your limits, and get help: 
Wenn du dir unsicher bist, ob deine Analyse auf stabilen Beinen steht, dann lass dir von Profis helfen! Tipp: Wenn du Menschen mit Statistik-Abschluss suchst, wirst du sicher in der Lesermarktforschung deines Verlags fündig.

5. Become a coder: 
Das ultimative Schweizer Taschenmesser für Herausforderungen im Datenjournalismus ist das Programmieren. Such dir einen Kurs, der auf Coding für den Journalismus zugeschnitten ist, und lerne die Statistiksprache R oder Python.

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