Samira El Ouassil

"Ich kann vieles sein"

02.06.2022

Sie ist preisgekrönte Publizistin, Podcasterin und Medienkritikerin. Außerdem Schauspielerin und Musikerin. Samira El Ouassil lässt sich nicht festlegen – nicht bei ihren Themen, nicht bei ihren Formaten. Sie sagt: "In einer ausdifferenzierten Medienlandschaft kann ich vieles sein: männlich, weiblich, nonbinär, leise, hartkantig, nachdenklich, laut, progressiv, populistisch." Interview: Peter Turi.

Journalisten müssen Personen sein, denen das Publikum vertraut, sagt Samira El Ouassil (Foto: Johannes Arlt)

journalist: Samira, was hast du im Kino gelernt fürs Leben?

Samira El Ouassil: Vor allem Empathie! Kino ist für mich eine freiwillig besuchte Schule der Empfindsamkeit, ein Hort der Herzensbildung. Kino hat meinen Blick auf die Welt geöffnet und erweitert. Und es schult meine Imagination, das Denken in Utopien. 

In welchem Film hättest du gern mitgespielt? In welcher Rolle?

In Superman. Als Superman.

In deinem Buch Erzählende Affen erklärst du zusammen mit Friedemann Karig, wie das Geschichtenerzählen unser Leben bestimmt. Und wie die Narrative des starken Helden heute noch unser Denken mitbestimmen. Hatte ein Film Einfluss auf dein Leben gehabt? 

Mich beeindrucken oftmals sogenannte Mindgame-Movies, Filme die etwas mit deinem Gehirn machen, die es einmal umzwirbeln. So ein Film war für mich beispielsweise Matrix. Er hat mir philosophische Grundgedanken nähergebracht und geholfen, Dinge tiefer durchdringen zu wollen. Ich habe Matrix mit 14 gesehen, und plötzlich kommt da ein filmisches Gedankenspiel um die Ecke, das sagt: Es gibt noch etwas unter der Oberfläche. Also sollte man die Textur der Realität tiefer durchdringen mit kritischem Denken, mit Hinterfragen, mit den Mitteln der Kunst. Matrix hat diesen Weg für mich geöffnet, hat mein Interesse an Philosophie und Soziologie erweckt.

Was ist der beste Journalisten-Film? 

Erst mal natürlich Citizen Kane, der Klassiker! Ich mochte auch Nightcrawler sehr. Da geht es um einen Sensationsreporter, der in US-Großstädten mit der Kamera umherfährt, den Polizeifunk abhört und spektakuläre Bilder von Autounfällen und Morden dreht und verkauft. Sehr gut fand ich auch Spotlight, wo es um die wahre Geschichte von Reportern des Boston Globe geht, die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ans Licht bringen. Und dann natürlich The Post mit Meryl Streep als Verlegerin der Washington Post in Zeiten der Watergate-Affäre. Der Film zeigt, welch enormem Druck eine Zeitung ausgesetzt ist, die entschlossen ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Wird es in Zukunft noch Journalistenfilme geben? 

Auf jeden Fall. Ich bin zu 100 Prozent überzeugt, dass Journalismus ein popkulturelles Thema bleiben wird und Stoff für Kinofilme liefert. Oder für Netflix-Serien wie Inventing Anna. Es ist bezeichnend, dass nicht die Hochstaplerin Anna Sorokin im Mittelpunkt steht, sondern die fiktive Journalistin Vivian Kent, die in einer klassischen Heldenerzählung versucht, die Story zu finden, während sie hochschwanger ist. Toll ist auch The Morning Show mit Jennifer Aniston. Die Serie verhandelt eine Metoo-Aufklärung innerhalb der redaktionellen Strukturen und Hierarchien einer amerikanischen Morningshow.

"Der Journalismus lebt in einem Spannungsfeld, das durch einen Dreiklang gekennzeichnet ist: Ökonomie, Ästhetik und Ethik."

Hat Journalismus noch Sex und Glamour?

Sex und Glamour? Das halte ich für eine Romantisierung einer Disziplin, die ich eher als ästhetisiertes Handwerk sehe. In der Praxis ist Journalismus ein profaner Tauschhandel zwischen einer Person mit einer Geschichte und einer Person, die versucht, diese Geschichte abzubilden.

Hat Journalismus noch Zukunft?

Selbstverständlich. Mehr denn je. In einer komplexer werdenden Postmoderne mit immer unvorhersehbareren und unberechenbareren Modellierungen der Wirklichkeit ist nichts so wichtig wie Menschen, die uns dafür Deutungsangebote liefern.

Wenn junge Menschen dich fragen: Rätst du zu einer Karriere im Journalismus? 

Jeder Mensch, der den Ehrgeiz hat, die Wirklichkeit zu durchdringen, und die Leidenschaft, sie Menschen zu erklären, taugt zum Journalismus.

Du schreibst hervorragend, betrittst als Schauspielerin und Sängerin beherzt jede Bühne, bist eine erfolgreiche Podcasterin. Reicht es nicht mehr, einfach nur gut zu schreiben?

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ich darf mich nicht scheuen, auch andere Talente und Leidenschaften einzubringen in das journalistische Arbeiten. Ich kann aus der Musik etwas über Timing lernen, das hilft mir beim Rhythmisieren von Texten. Ich kann beim Podcast etwas übers Zuhören erfahren, was mir hilft, interessante Gespräche zu führen. Also bitte keine Angst vor dem "und". Das "und" ist immer ein Gewinn.

Aber am Anfang stand deine Leidenschaft fürs Schreiben?

Am Anfang stand meine Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen. Ich kann mit meiner Stimme und meinem Körper eine Geschichte erzählen als Schauspielerin auf der Bühne und mich einem Publikum schenken. Ich kann eine Geschichte über die Wirklichkeit erzählen, indem ich sie einfach aufschreibe oder indem ich sie als Satire gestalte oder als Kolumne. 

Und all diese Begabungen muss eine junge Journalistin mitbringen?

Der Trick ist, dass man es macht. Wenn etwas dich beim Schöpfen sehr glücklich macht, dann wirst du darin automatisch gut und besser. Und in diesem Gutsein entdeckst du plötzlich weitere Peripherien, weil du noch besser werden möchtest. 

Finde, was in dir steckt. 

Ja, als eine Mischung aus innerem Schürfen und dem, was ich den Moment des Sparkles nenne. Du spürst dein Thema oder deinen Weg anhand des inneren Spannungsgefühls. Das Dopamin ist deine Direktive, das Kribbeln dein Kompass, der dich zu dem Ort führt, wo die Magie passiert. Da musst du hin.

Was machst du, wenn du kreativ in einer Sackgasse steckst?

Ruhen lassen. Und dann: eine neue Form finden. Ich mache aus einem Kommentar einen Dialog oder ein Gedicht, einen Tagebucheintrag oder einen Brief an jemanden. Ich probiere irgendwas aus. Oft entsteht dabei eine neue Freude am Schreiben selbst, weil es plötzlich etwas Verspieltes bekommt. Neulich hat es mir geholfen, eine Putin-Rede zu analysieren, indem ich versucht habe, diesen Text in zehn Tweets zu formen oder diesen Text als Exposé eines Theaterstücks aufzuschreiben. Du assoziierst zwei Sachen, die eigentlich getrennt sind, und schaust, wie sie zusammen funktionieren. Dabei entstehen neue, absurde Sachen, zum Teil auch Müll. Vieles musst du dann wegschmeißen, aber manches bekommt eine interessante Wendung.

"Journalisten sollten dem Publikum im Dunkeln mit ihrer Taschenlampe den Weg auf einen möglichen freien Platz weisen."

Wie viel Selbstdarstellung ist erlaubt im Journalismus?

Ich glaube, das verändert sich gerade. Früher war das Ich des Journalisten nicht Teil der Erzählung. Es sollte nicht einmal der Redakteur im Bild zu sehen sein, der die Fragen stellt. Jetzt leben wir in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die das vermeintlich Authentische bevorzugt und belohnt. Der Journalist wird Akteur und versucht als Protagonist, dem Publikum seine eigene Heldenerzählung zu präsentieren. 

Woher kommt diese Rollenverschiebung?

In einer Welt des Informationsüberflusses sehnt sich der Rezipient nach einer Vertrauensperson, nach einem publizistischen Mentor, der ihn an die Hand nimmt und die Welt erklärt, die so komplex geworden ist und zu der es so viele Deutungsangebote gibt.

Bedauerst du das? 

Nein. Die Rezeption und die Entscheidung, wessen Einordnungen sie hilfreich finden, ist ja ein freiwilliger Akt des Publikums. Ich sehe die Journalisten in der Pflicht, sich als Vertrauensfiguren anzubieten und Information statt Desinformation zu liefern. Im Unterschied zu Influencern, die ja ein ökonomisches Interesse an einer parasozialen Beziehung haben, sollten Journalisten ohne ein anderes Interesse als das der Aufklärung handeln. Schon gar nicht im Interesse des Narzissmus. 

Auch für Journalistinnen gibt es ökonomische Zwänge. 

Das ist ein grundsätzliches Problem des Journalismus und älter als die Digitalisierung. Der Journalismus lebt in einem Spannungsfeld, das durch einen Dreiklang gekennzeichnet ist: Ökonomie, Ästhetik und Ethik. Nur der Journalismus muss alle drei Dimensionen ausbalancieren. Die Kunst muss nicht ethisch sein, die Wissenschaft nicht ästhetisch. Wenn Journalismus nicht rentabel ist, weil er die Leute nicht erreicht, wird er auf Dauer nicht verfügbar sein. Wenn Journalismus nur auf die ökonomische Seite schaut, endet er im reinen Clickbait. 

Wo beginnt die Über-Inszenierung? In der Art, wie Paul Ronzheimer und sein Vorgänger Julian Reichelt sich an Kriegsschauplätzen in den Mittelpunkt stellen? 

Der Boulevardjournalismus hat eine andere Ästhetik und folgt anderen Regeln. Das journalistische Theater, die Dramatisierung, die Überspitzung, das Pathos sind Teil des Boulevardjournalismus. Wenn ich kritisiere, was Teil des Genres ist, müsste ich auch kritisieren, dass Horrorfilme erschreckend sind. Deshalb müssen wir auf den Einzelfall schauen. Wenn die TV-Reporterin sich eine kugelsichere Weste anzieht, obwohl sie in Sicherheit ist, oder im Ahrtal das Gesicht mit Schlamm beschmiert, ist das eine Über-Inszenierung und journalistisch unredlich.

Was wird die Rolle des Journalismus sein in einer Zukunft, in der er nicht länger Gatekeeper ist? In der er verloren hat, was Tucholsky die Rolle des Billetknipsers an den Schranken der Öffentlichkeit nennt?

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es 2035 keine jüngere Person mehr geben wird, für die eine Welt ohne Social Media denkbar ist. Also müssen Journalistinnen Vertrauensfiguren sein. Sie sind keine Gatekeeper, die versuchen sollten, einen großen Fluss durch ein Nadelöhr zu quetschen. Sie sollten Personen sein, denen das Publikum vertraut. Sie sollten dem Publikum im Dunkeln mit ihrer Taschenlampe den Weg auf einen möglichen freien Platz weisen. Den Weg muss das Publikum selber gehen.

Also vom Billetknipser zum Platzanweiser.

Ein schönes Bild. Vielleicht genauer: ein Platzsichtbarmacher.

Du bist für viele das Gesicht des Journalismus der Zukunft: jung, weiblich, migrantisch, klug, selbstbewusst, artikulationsfähig, woke. Siehst du dich selbst so?

Nein, nein, ich bin ein Nebeneffekt einer ausdifferenzierteren Medienlandschaft. Weil die pluralistischer und heterogener ist, kann ich als Medienschaffende vieles sein: männlich, weiblich, nonbinär, leise, hartkantig, nachdenklich, laut, progressiv, populistisch. Außerdem kann mir bis heute keiner so genau erklären, was "woke" bedeutet: "Progressiv"? "Links"? "Aufgeklärt"? Gilt man echt schon als progressiv, weil man nicht möchte, dass Menschen beispielsweise aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder eines niedrigen Einkommens schlechter behandelt werden als andere? Ich dachte, das sei einfach der ganz schnöde Humanismus einer liberalen Demokratie.

"Sex und Glamour im Journalismus? Das halte ich für eine Romantisierung einer Disziplin, die ich eher als ästhetisiertes Handwerk sehe."

Erklär mir älterem Mann doch mal deine Generation: Welche Medien haben euch geprägt? Was treibt euch an?

Da ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehre, für meine Generation zu sprechen, kann ich nur von mir sprechen, und es war natürlich und ganz klar das Internet noch mit AOL und Compuserve-Adressen und dann natürlich das Smartphone, als der verlängerte Arm unseres Selbst, bei dem Versuch, dieses Selbst zu konstituieren. Marshall McLuhan würde das als "Extensions of man" bezeichnen, also als "Ausweitungen des menschlichen Körpers". Für ihn waren Medien wie Radio und Fernsehen solche Ausweitungen: Mit dem Fernseher, sagte er, habe sich unser Sehvermögen erweitert, mit dem Radio unsere Art zu hören. Und das Handy hat nun die Art, wie wir uns selbst sehen, erweitert. Und hier schaltet sich dann auch noch der Homo narrans, der erzählende Affe ein, unser Wunsch, unserem Selbst einen Sinn zu geben und es nach außen hin kohärent zu halten. Durch soziale Netzwerke, durch permanente Selbstbetrachtung, aber auch durch die Kommentierungen durch andere werden wir bei dem Versuch, wir selbst zu werden, zu einem anderen Ich. 

Was unterscheidet eine jüngere Journalistin wie dich von meiner Generation der Sechzigjährigen?

Die Zeitperspektive. Das habe ich in einem Gespräch mit Giovanni di Lorenzo bei uns im Podcast Piratensender Powerplay gelernt. Für di Lorenzo hat die deutsche Gesellschaft mit seiner längeren Zeitperspektive im Bereich Fairness und Gleichberechtigung gute Fortschritte gemacht, weil seine Vergleichsskala früher anfangen kann. Als Sohn eines Italieners war sein Aufwachsen im Deutschland der Sechzigerjahre vermutlich auf seine Art unerbittlicher als meines in den Neunzigerjahren. Ich habe sozusagen eine kürzere Zeitstichprobe. Ich habe an dieser Position meinen Standpunkt nach dem sehr angeregten Gespräch neu kalibrieren können. Das war ein Aha-Moment unseres Austauschs, für den ich bis heute sehr dankbar bin.

Wie oft haben Friedemann und du diesen infantil-ironischen Titel Piratensender Powerplay schon verflucht?

Wir preisen und feiern ihn jede Woche, und ich erfreue mich außerdem an der perlenden Kakophonie der explosiven P-Laute.

Welchen Rat hast du als mitteljunge Millennial für die Jüngeren und die Älteren?

Nicht auf uns Millennials hören. Wir sind entpolitisiert aufgewachsen und haben ausgerechnet das als Errungenschaft der Postmoderne gefeiert, uns kann man nicht trauen. Unsere gesellschaftlichen Verhandlungen waren irgendwo zwischen Harry Potter und Harald Schmidt. Ha, jetzt widerspreche ich mir ja selbst, als ich oben gesagt habe, man sollte nicht für seine Generation sprechen wollen!

Lass uns über Geld reden: Du bist Kolumnistin, Podcasterin, Schauspielerin, Sängerin. Also eine Slash-Existenz, hast viele Querstriche in der Berufsbezeichnung. Ist das typisch für Freie im Jahr 2022, dass sie auf vielen Bühnen spielen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten? 

Ich glaube, das ergibt sich eher aus den Möglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen, es ist niedrigschwellig leicht, in verschiedenen Disziplinen inhaltliche Angebote zu machen, ob künstlerisch oder journalistisch. Wir könnten jetzt sofort einen Podcast starten. Was genutzt werden kann, wird genutzt. Dass sich dadurch die Einkommensquellen addieren und eine ökonomische Beständigkeit erlauben, ist ein positiver Nebeneffekt.

Welche mediale Bühne ist für dein Einkommen die wichtigste?

Mein Buch Erzählende Affen hat sich glücklicherweise toll verkauft und ist überraschenderweise seit über sechs Monaten durchgehend ein Bestseller, das bestreitet gerade meinen Unterhalt. Von Herzen danke ich an dieser Stelle allen, die es erworben haben!

"Jeder Mensch, der den Ehrgeiz hat, die Wirklichkeit zu durchdringen, und die Leidenschaft, sie Menschen zu erklären, taugt zum Journalismus."  

Was bringen dir Twitter und Instagram?

Es ist eine bereichernde Möglichkeit, das Ohr auf dem Gleis der Diskurse zu haben, mit einer wohlwollend kuratierten Timeline, die auch Gegenpositionen enthält, verschiedene Perspektiven wahrzunehmen und zu verstehen und das Nachrichtengeschehen sowie die Entwicklung von Takes in Echtzeit zu verfolgen.

Verdient ihr Geld mit eurem Podcast Piratensender Powerplay?

Wir hatten in den ersten zwei Jahren, also seit seinem Bestehen, den Piratensender nicht monetarisiert und unbezahlt schlicht aus dem Spaß an der Vermittlung bestritten, deswegen bis dato nein, aber wir bieten jetzt seit einem Monat zusätzlich ein Premium-Angebot an, jede Woche eine weitere Folge von Friedemann oder mir. Die positive Resonanz darauf ist so unverhofft wie berührend.

Wenn morgen die Welt unterginge, welchen Film würdest du heute anschauen?

Mit meinen Eltern Fahrraddiebe noch mal, mit meinem Freund Don’t Look Up, einfach, um Leonardo DiCaprio noch mal sagen zu hören: "Wir hatten alles, was man sich wünschen kann, oder?"

Peter Turi ist Herausgeber der Buchreihe turi2 edition, in deren Ausgabe #17 dieses Interview zuerst erschienen ist.  

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