Max Donheiser

Jeder Datenpunkt eine Geschichte

14.07.2023

Max Donheiser ist von New York nach Berlin gezogen, wo er jetzt Daten aus deutschen Kommunen sammelt, von Schwerin bis Schwäbisch Gmünd. Als Datenjournalist des Recherchezentrums Correctiv recherchiert er zum Beispiel zu Grundwasserständen oder zur medizinischen Versorgung – und liefert damit Lokalredaktionen eine wertvolle Basis für ihre Geschichten. Text: Mia Pankoke

Max Donheiser, geboren in New York City, ist der einzige fest angestellte Datenjournalist beim Recherchezentrum Correctiv. (Foto: Ivo Mayr)

Anfang März 2022 veröffentlichen zwölf lokale Zeitungen beinahe gleichzeitig Artikel zu einem ähnlichen Thema. Es geht um Hürden, denen Schwangere begegnen, die in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen oder sich zu diesem Thema beraten lassen wollen. Der Bonner General-Anzeiger berichtet von langen Anfahrtswegen zur nächsten Klinik, in der solche Eingriffe möglich sind. Die Coburger Neue Presse schreibt über unterbesetzte Beratungsstellen und die baden-württembergische Rems-Zeitung informiert über Hilfsangebote in der Region.

Dass die Regionalzeitungen Geschichten zu diesem Thema bringen, ist auch Max Donheisers Verdienst. Donheiser, 1997 in New York City geboren, ist der einzige fest angestellte Datenjournalist beim Recherchezentrum Correctiv. Donheiser sammelt nicht nur Daten und wertet sie aus, sondern übernimmt auch die Projektkoordination großer datenbasierter Recherchen.

Wie kommt jemand aus der Weltmetropole New York dazu, in ländlichen deutschen Kommunen Daten zu sammeln? Donheiser findet diesen Werdegang gar nicht so abwegig: „Ich wollte außerhalb der USA arbeiten und für mich ist klar, dass Datenjournalismus perfekt zum Lokaljournalismus passt.“ Er gräbt sich durch Zahlen, immer auf der Suche nach Belegen für gesellschaftliche Missstände, wie etwa eine Zunahme häuslicher Gewalt während Corona oder das Absinken des Grundwasserspiegels. Es reicht ihm nicht, mit bestehenden Informationen über eine Geschichte zu berichten. „Daten ohne Erzählungen sind langweilig. Aber auch die besten Geschichten sind ohne Belege nur Anekdoten“, erklärt er. „Wenn man hinschaut, steckt hinter jedem einzelnen Datenpunkt eine eigene Geschichte.” Er sucht nicht nur nach der einen großen Story, einem dicken Fisch. Stattdessen findet er lokale Recherchen zu auf den ersten Blick unbedeutenderen Themen genauso wichtig. Er will im Lokalen viele kleine Fische fangen, Ungerechtigkeiten und Schicksale beleuchten. In ihrer Masse wiegen sie am Ende genauso schwer, findet er.

Seine Begeisterung für lokalen Datenjournalismus entdeckte Donheiser noch in den USA, während eines Praktikums bei dem gemeinnützigen Nachrichtenmedium Chalkbeat in New York. Die Journalisten recherchieren und veröffentlichen lokale sowie nationale Geschichten aus dem US-Bildungssektor. Dort recherchierte Donheiser unter anderem, wie viele Schulen in Indiana trotz LGBTQ-feindlicher Schulordnungen öffentliche Gelder erhielten. „Das war mein erstes richtiges journalistisches Projekt, und mir gefiel der lokale Aspekt sehr“, erzählt Donheiser.

Weil es bei Chalkbeat zu der Zeit keine Datenjournalisten gab, eignete er sich viele der Recherchepraktiken eigenständig an. Er las mehr als 200 Schulbücher und sammelte alle relevanten Richtlinien in einer ausführlichen Tabelle. Grafiken und Illustrationen baute er selbst.

USA sind lockerer mit Daten

Diese Macher-Mentalität zieht sich durch Donheisers gesamte journalistische Arbeit. Im Laufe eines Praktikums bei der Non-Profit-Organisation Knight Foundation, die sich für Qualitätsjournalismus und Medieninnovationen einsetzt, brachte er sich beispielsweise das Programmieren bei. Als im Zuge seines Datenjournalismus-Studiums an der Duke-Universität in North Carolina eine längere Hausarbeit anstand, entschied er, die Arbeit auf Basis einer journalistischen Recherche zu schreiben. Dafür wendete er sich an die Lokalredaktion des Fernsehsenders WRAL News: „Ich habe gefragt, über welches Thema sie gern berichten würden, für das ihnen aber die Recherche-Zeit fehlt“, erinnert er sich. Am Ende schrieb Donheiser über Familien, die sich verschulden müssen, weil sie nicht genug Geld haben, um ihren Kindern das Mittagessen in der Schule zu zahlen.

„Ich wollte mit einem Journalismus-Stipendium einige Monate in Deutschland arbeiten und hatte mich schon bei einer Menge Datenjournalisten-Teams beworben, aber nur Absagen bekommen“, erzählt Donheiser. Ein Kollege hatte vom Faktencheck-Team gehört – und Correctiv sagte zu. So startete Donheiser im August 2019 sein neunmonatiges Fellowship. Finanzielle Unterstützung erhielt er vom prestigeträchtigen Stipendienprogramm Fulbright.

„Hier in Deutschland gibt es viele Regeln, aber wenig Daten.“

Bei seinen ersten Recherchen musste er aber feststellen, dass die Arbeit als Datenjournalist hierzulande oft besonders knifflig ist. „Hier in Deutschland gibt es viele Regeln, aber wenig Daten“, sagt er und lacht. „Die USA sind beim Datensammeln sicher teilweise zu locker, aber ich habe mich gewundert, dass die deutschen Behörden zu so wenigen Vorgängen Daten liefern.”

Bei der Recherche zum Grundwasserspiegel musste er etwa feststellen, dass die Daten aus Hamburg, Bremen und dem Saarland für eine Analyse nicht ausreichten. Und das, obwohl gemäß einer europäischen Richtlinie eigentlich alle EU-Mitgliedsstaaten die verfügbare Menge an Grundwasser erfassen sollen.

Trotz der hierzulande mühsameren Datensuche blieb Donheiser nach Ende des Fellowships bei Correctiv. „Ich wusste schon, als ich mich beworben habe, dass ich länger bleiben und mich dem Lokaljournalismus widmen möchte“, sagt Donheiser. Dafür musste er sich nicht nur in einem neuen Beruf und Land zurechtfinden, sondern auch viele regionale Eigenheiten kennenlernen. Für seine Recherchen arbeitet er schließlich mit Redaktionen von Schwerin bis Schwäbisch Gmünd zusammen. „Es gibt so viele kleine Unterschiede und Dinge, die beispielsweise in Augsburg anders funktionieren als in Berlin“, erzählt er.

Und auch wenn er während seines Studiums Deutschkurse besuchte, war die Sprachbarriere anfangs besonders bei der Projektleitung hinderlich. Denn er traute sich nicht immer, vor dem Team seine Punkte auf Deutsch durchzusetzen, etwa aus Angst, die Daten nicht richtig an andere weitergeben zu können. „Inzwischen spreche ich im Büro Deutsch und bin viel selbstbewusster geworden“, sagt Donheiser, der mittlerweile beinahe fließend spricht, dieses Interview für den journalist aber trotzdem lieber in seiner Muttersprache führen möchte.

Und nicht nur bei Correctiv hat er seine Rolle gefunden. „Meine Community ist hier“, sagt er. In die USA möchte Donheiser erst mal nicht zurückkehren. Denn in ein Land, dessen oberstes Gericht fundamentale Grundsätze wie das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch kippt, zieht es ihn nicht: „Nein danke, da arbeite ich lieber in Berlin.“

Mit lokalem Fokus

Und das mit großem Erfolg. Im vergangenen Jahr wurde Donheiser gemeinsam mit seinen Kolleginnen Miriam Lenz und Pia Siber als eines der besten Nachwuchstalente des deutschen Journalismus ausgezeichnet. Einen Grimme-Online-Award haben er und sein Team ebenfalls gewonnen. Die Jury würdigte die Idee, dass „gemeinsame Recherchen mehr bewirken können als redaktionelles Einzelkämpfertum“. Bei Correctiv setzen sie eine neue Art der journalistischen Zusammenarbeit um: „Correctiv.Lokal ist ein Teil des Correctiv-Kosmos, in dem wir national, aber mit lokalem Fokus recherchieren“, erklärt Donheiser. Das heißt, das Team recherchiert bundesweit, aber nur zu Themen, die auch auf lokaler Ebene relevant sind.

„Für mich ist klar, dass Datenjournalismus perfekt zum Lokaljournalismus passt.“

Neben der regionalen medizinischen Versorgung recherchierten die Journalisten beispielsweise zu Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt und Lücken im Ausbildungsmarkt. „Sowohl in den USA als auch in Deutschland haben viele Lokaljournalisten einfach nicht die Zeit und Ressourcen, monatelang zu einem Thema zu recherchieren und Daten zu sammeln“, erklärt Donheiser. „Wir bei Correctiv haben diesen Luxus und teilen unsere Rechercheergebnisse mit Lokaljournalisten in ganz Deutschland.” Diese schreiben dann mithilfe der Daten lokale Geschichten, für die sonst das Fundament fehlen würde.

Donheiser findet seine Geschichten unter anderem, indem er nach ungewöhnlichen Verteilungen sucht. Wenn die Zahlen, etwa zur Zahl der Schwangerschaftsberatungsstellen, in einer Gegend stark abweichen, passiert dort offenbar etwas Außergewöhnliches. „Dann wenden wir uns an die Lokaljournalisten“, erklärt Donheiser. „Wir zeigen ihnen, dass in der Region etwas auffällig ist und fragen, ob die Redaktion sich das genauer anschauen möchte.“

Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Daten nicht nur für einzelne Regionen interessant sind, sondern für Redaktionen in ganz Deutschland. „Das haben wir beispielsweise bei der Recherche über das Thema Schwangerschaftsabbruch festgestellt“, erzählt er. In monatelanger Arbeit befragten Donheiser, seine Teammitglieder, zahlreiche Lokaljournalisten und die Transparenzplattform FragDenStaat alle 309 Kliniken in öffentlicher Trägerschaft, die eine Gynäkologie haben, zu ihrer Praxis bei dem Thema. Zudem stand Correctiv.Lokal in engem Kontakt mit über 1.500 Betroffenen. Und ihre Recherche zeigt: Die Lage ist deutschlandweit prekär. Selbst in größeren Städten kann es schwierig sein, eine Klinik oder Praxis für einen Abbruch zu finden.

Besonders krass ist das Defizit in Bayern: Hier bieten nur neun von 83 öffentlichen Krankenhäusern Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsindikation an. Dutzende Lokaljournalistinnen und -journalisten haben mitrecherchiert und eigene Beiträge veröffentlicht. „Wenn es zeitgleich mehr als zehn Veröffentlichungen zu einem Thema gibt, ist das sehr wirkungsvoll und erreicht eine Menge Menschen“, sagt Donheiser. „Das kann dann ein intensiver und wichtiger Aufruf zur Veränderung sein.“

Enge Zusammenarbeit

Nicht jeder Lokaljournalist ist ein Datenexperte. Daher bereitet Donheiser die Informationen so auf, dass auch Menschen ohne Statistikabschluss sie verstehen. „Meist erstelle ich Dokumente, in denen die Daten nach Kreisen und Bundesländern aufgeschlüsselt sind“, sagt Donheiser. „Neben Vergleichen liefern wir aber auch Beispiele und Hinweise, wie man die Ergebnisse aufbereiten kann.“

„Daten ohne Erzählungen sind langweilig. Aber auch die besten Geschichten sind ohne Belege nur Anekdoten.“

Journalisten oder Redaktionen, die Donheisers gesammelte Daten nutzen wollen, müssen Mitglied im kostenlosen Correctiv.Lokal-Netzwerk sein. Dann erhalten sie die Datensätze, können sich in einem Slack-Kanal untereinander austauschen und die Correctiv-Journalisten und -Journalistinnen bei Recherchefragen erreichen. Besonders für lokale Redaktionen, bei denen keine eigenen Datenjournalisten arbeiten, sei das eine große Hilfe, sagt Donheiser. Doch auch das Correctiv.Lokal-Team profitiert von dem großen Wissen der Lokalredaktionen: „Das ist immer ein beidseitiger Austausch und die Redakteure können uns oft viel genauer sagen, welche Daten sie brauchen und was ein interessanter Anknüpfungspunkt für Recherchen sein könnte.” Diese enge Zusammenarbeit und Kommunikation macht ihm besonders Spaß. „Es ist toll, wie interessiert die Journalisten und Journalistinnen an den Daten-Projekten sind und wie viel sie damit erreichen können.“

Besonders intensiv waren die Auswertung und Zusammenarbeit auf lokaler Ebene bei dem Recherche-Projekt zu Veränderungen des Grundwasserspiegels in Deutschland. Donheiser und seine Teammitglieder haben hier in einem interaktiven Grundwasser-Atlas zusammengetragen, wie sich die Stände seit 1990 verändert haben.

Und weil es bis dahin keine systematische Auswertung gab, hat das Team die Daten von rund 6.700 Messstellen aus den vergangenen drei Jahrzehnten analysiert. „Irgendwann habe ich angefangen von den Tabellen, Kommunen und Landkreisen zu träumen“, erzählt Donheiser. Inzwischen ist er ein Kenner, wenn es um die deutsche Provinz geht. „Ich hoffe, dass ich bald die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen kann“, erzählt Donheiser. „Und falls es auf dem Amt irgendwelche Schwierigkeiten gibt, zähle ich ihnen einfach Namen und Lage aller 400 deutschen Kreise auf.“

Drei nützliche Tools

  1. Tabula zum Extrahieren von Daten aus PDFs. Für alle, die programmieren können: Camelot.
  2. Datawrapper Academy zur Vermittlung der Grundprinzipien der Datenvisualisierung.
  3. OpenRefine zum Bereinigen unübersichtlicher Daten. Etwa wenn derselbe Name oder dieselbe Stadt mehrmals unterschiedlich geschrieben sind.

Drei Leitprinzipien des Datenjournalismus:

  1. Ausreißer in Daten sind entweder ein Fehler oder eine sehr interessante Geschichte.
  2. Daten immer noch mal auf Fehler und Qualität prüfen. Alles, was von Menschen gepflegt wird, ist
    fehleranfällig.
  3. Enger Austausch: Gerade im Lokalen wissen Journalist:innen vor Ort meist am besten, zu welchen Themen sie Daten gebrauchen können. Bietet man ihnen Datensätze an, hilft es, einen Vorschlag mitzuliefern, wie man diese aufbereiten könnte.

Max Donheiser bevorzugt im englischen die Pronomen they/them. Im Deutschen existieren noch keine ähnlichen etablierten Pronomen, daher nutzt Donheiser hier das „er“. Dieser Artikel ist zuerst in der April-Ausgabe des journalists erschienen.

Mia Pankoke ist Journalistin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert in Köln.

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