Steffen Klusmann

"Katastrophen erhöhen das Interesse an Information"

02.09.2022

Steffen Klusmann steuert eine der wichtigsten Redaktionen im Land. Der Spiegel hat eine radikale Transformation hinter sich, 2021 war eines seiner wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre. Das lag auch am Informations­bedürfnis der Menschen in Krisenzeiten. Trotzdem sagt Klusmann: "So interessant die Zeiten aus publizistischer Sicht sind, so riskant sind sie aus ökonomischer." Interview: Jan Freitag.

"Wir hatten wirklich Sorge, ob die Marke die Relotius-Krise übersteht", sagt Spiegel-Chef Steffen Klusmann. (Foto: Tim Brüning)

Seit bald vier Jahren steht Steffen Klusmann an der Spitze des Spiegels. Sein Start fiel in die Zeit der größten Spiegel-Krise seiner Geschichte – dem Skandal um Fälscher Claas Relotius. Wo steht der Spiegel heute?

journalist: Herr Klusmann, was machen Sie am Abend des 29. September?

Steffen Klusmann: Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. An dem Tag startet der Relotius-Film im Kino, richtig?

Tausend Zeilen von Bully Herbig mit Jonas Nay als Claas Relotius und Elyas M’Barek als Juan Moreno.

Ich durfte den Film schon sehen, im Rahmen einer kleinen Preview. Zweimal muss ich nicht rein. (lacht)

Als der Fall Ende 2018 publik wurde, waren Sie noch offiziell beim Manager Magazin, aber schon als Spiegel-Chefredakteur vorgesehen.

Ich hatte schon gewechselt und saß im 2. Stock mit Ullrich Fichtner, um mit ihm und Barbara Hans die Fusion von Online und Print vorzubereiten. Operativ habe ich noch die Finger rausgehalten, das war erst für den Jahreswechsel vorgesehen.

Was haben Sie dann am 2. Januar bei Ihrer offiziellen Amtsübernahme für eine Redaktion vorgefunden?

Angesichts des Desasters, das der Skandal für den Spiegel, die Branche, den deutschen Journalismus im Ganzen angerichtet hat, eine ziemlich verunsicherte. Wir hatten wirklich Sorge, ob die Marke diese Krise übersteht. Der Fall Relotius hat die Grundfesten unserer Glaubwürdigkeit erschüttert, und Glaubwürdigkeit ist für die Art von kritischem Journalismus, die wir betreiben, nun mal das alles entscheidende Gut. Einen unglaubwürdigen Spiegel braucht keiner.

Und – werden Sie noch gebraucht?

Sieht ganz danach aus. Wir haben den Skandal transparent gemacht, bevor ihn andere enthüllen konnten. Dafür haben wir eine unabhängige Kommission eingesetzt, die aufgeklärt hat, wie es zu dem Betrug kommen konnte. Dieser Kommission hat niemand reingequatscht. Der Abschlussbericht war schonungslos und hat wehgetan, aber am Ende mehr geholfen als geschadet. 

Für Sie war es jedenfalls ein origineller Einstieg auf den vielleicht wichtigsten Chefposten der deutschen Medienbranche.

Auf so viel Originalität hätte ich gern verzichtet.

"Wir hatten wirklich Sorge, ob die Marke die Relotius-Krise übersteht"

Mussten die strengen Compliance-Regeln – auch "Spiegel-Standards" genannt – fortan nur besser angewendet werden oder grundlegend überarbeitet?

Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Compliance regelt der Corporate Governance Kodex. Für unsere Standards haben wir einen neuen Leitfaden erarbeitet: Drei Arbeitsgruppen haben die Art und Weise, wie wir recherchieren, konfrontieren, erzählen und verifizieren bis ins Detail formuliert. Auch um den grundsätzlichen Anspruch an unsere publizistische Arbeit wasserdicht zu verschriftlichen. Das kam einem gewissen Reinigungsprozess gleich, so haben wir uns noch mal vergewissert, wofür dieses Blatt, diese Marke einst gegründet wurde.

Und das wäre?

Wir hinterfragen, decken auf und ordnen ein, unerschrocken, kritisch, aber fair.

Hatte die parallele Zusammenlegung von digitalem und gedrucktem Spiegel Einfluss auf diesen Prozess?

Na klar. Dass die Fusion mit der Aufarbeitung zusammenfiel, war zwar ungeplant und eigentlich ein bisschen viel auf einmal. Andererseits hat es die Offenheit für grundsätzliche Veränderung gefördert, das hat die Fusion auch wieder leichter gemacht. Wir haben den Kolleginnen und Kollegen da ganz schön was zugemutet. Bei den beiden fusionierten Redaktionen hat wirklich kaum etwas zusammengepasst: Von der Arbeitsweise über die Kultur bis hin zur Zahl der Urlaubstage – alles war anders.

Der Journalismus auch?

Das Verständnis für Spiegel-Journalismus war natürlich ähnlich ausgeprägt, aber die Umsetzung eine völlig andere. Ein Wochenmagazin und ein schnelldrehendes Nachrichtenportal sind ganz unterschiedliche Gattungen. Bloß weil Sie Skilaufen können, heißt das noch lange nicht, dass Sie auch mit einem Snowboard zurechtkommen. Eine Tageszeitung mit einer Website zusammenzuführen, ist da deutlich einfacher. Beim Magazin ist der Anspruch an Dramaturgie, Recherchetiefe und Erzählform ein ganz anderer. Ich weiß aus Erfahrung beider Medien, wie schwer es ist, sich von der Kurz- auf die Langstrecke umzustellen.

Und umgekehrt?

Mehr Tempo draufzukriegen ist nach meinem Gefühl fast einfacher, als es rauszunehmen. Wobei auch beim gedruckten Spiegel nicht selten Geschwindigkeit zählt. Vor allem, wenn wir bei einer aktuellen Lage Mittwochabend noch mal den Titel drehen. Ohne Qualitätseinbußen? Ohne Qualitätseinbußen! Es gibt hier Leute, die schreiben in sechs Stunden aus einem Dutzend Zulieferungen einen Acht-Seiten-Titel zusammen, vor dem man sich nur verneigen kann. 

Wo war denn der Widerstand gegen die Fusion größer, bei den Onlinern oder im alten Print-Haus?

Die Vorbehalte waren ziemlich gleichverteilt.

Obwohl Vorbehalte neuer Medien gegen alte, vermeintlich träge generell größer sind?

Na ja, die einen fanden die anderen zu altbacken, die anderen fanden die einen zu leichtfüßig. Und da hat es anfangs natürlich geknirscht. Aber wir konnten relativ schnell den Beweis abliefern, dasss sich das Zusammenrücken auszahlt. Insbesondere bei Großereignissen sind wir heute einfach besser, weil wir auf mehr Expertise zurückgreifen können.

Früher hätten die Heftkollegen Sorge gehabt, dass spiegel.de ihnen die Exklusivität wegnimmt und Recherchen für den Samstag zurückgehalten. Der Quatsch ist vorbei. Und das finden auch alle richtig so.

Gilt das auch für die Kundschaft?

Bislang hat sich noch kein Leser darüber beschwert, dass eine Geschichte erst bei Spiegel+ lief und dann im Heft. Warum auch? Kostet beides das gleiche. Entscheidend ist allein, dass die Geschichten einen Mehrwert bieten. Und den liefern wir – auch wenn es zynisch klingt – besonders in Krisenzeiten.

"Insbesondere bei Großereignissen sind wir heute einfach besser, weil wir auf mehr Expertise zurückgreifen können."

Katastrophen erhöhen das Kaufinteresse?

Sie erhöhen das Interesse an Informationen und Einordnung. Und das beherrschen wir nun mal ziemlich gut.

Gibt es abseits der Synergieeffekte auch Synergieverluste, für Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zum Beispiel?

Klar gab es Reibungsverluste. Jeder musste in dem neuen Konstrukt erst mal seine Rolle finden, sich ausprobieren. Die einen hatten das Gefühl, die Website sauge zu viele Ressourcen fürs Nachrichtengeschäft ab, andere sahen eher das Magazin im Vorteil. Für beides gab es gute Argumente. Fakt ist: Wir haben deutlich mehr Content produziert, hatten eine extreme Nachrichtenlage nach der anderen, was auf Dauer natürlich auch an den Kräften zehrt.

Ist dies der Grund, dass der Spiegel 2021 eines der bisher besten Geschäftsjahre hinlegen und entgegen dem Trend anderer Medien Absatz und Umsatz steigern konnte?

Unter anderem. Wenn in der Welt viel passiert, profitieren wir davon. Immer vorausgesetzt, wir haben ein gutes Angebot. Und das hatten wir. Jetzt geht es darum, nachzujustieren und feinzutunen, um das Programm noch besser zu machen.

Wo zum Beispiel?

Es gibt immer wieder Geschichten, von denen wir uns eigentlich mehr Abos oder Reichweite erwartet hätten. Das Gute ist: Wir können in unserem Geschäft ja inzwischen genau tracken, wie gut unsere Stoffe beim Publikum ankommen. So sehr dieses ständige Tracken manchmal auch nervt – es zeigt uns ohne langen Zeitverlust, was die Leute interessiert und was nicht. 

Darf ein Leitmedium wie der Spiegel nachfragegetriebenen Journalismus betreiben?

Er darf nicht, er muss. Wir machen den Spiegel ja nicht für uns, sondern für die Leserinnen und Leser da draußen. Und da kann es nicht schaden, wenn wir Angebot und Nachfrage ein bisschen intensiver aufeinander abstimmen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir unseren publizistischen Anspruch aufgeben. 

Aber so oder so sind Krisenjahre gute Spiegel-Jahre?

Als der Ukraine-Krieg ausbrach, waren unsere Wettbewerber mit ihren Printausgaben bereits in Druck. Wir hatten noch einen Tag Zeit, um damit aufs Cover zu gehen. "Putins Krieg" hat uns 30 Prozent mehr Verkäufe am Kiosk beschert als üblich, auch im Digitalen haben wir überdurchschnittlich viele neue Abos gedreht. Die Kunst ist, die vielen neuen Abonnentinnen und Abonnenten dann auch bei der Stange zu halten.

Und wie macht man das?

Mit guten Stoffen zu dem Thema am Ball bleiben. Die Kunden können aus den Abos heute genauso schnell wieder raus, wie sie reinkamen, das diszipliniert.

Content, Content, Content. Aber triggern in Zeiten von Social Media nicht eher die schrillen als die faktenbasierten Stoffe? Auch der Spiegel erntet seit Jahrzehnten Kritik, öfter mit griffigen Punchlines gegen den Strom zu schwimmen als objektiv auf die Kraft der Fakten zu setzen.

Das ist ein schmaler Grat. In der digitalen Welt geht es deutlich schriller und lauter zu als in der analogen, da muss man durchdringen. Zugleich sollte man seine Geschichten nicht überverkaufen, also Titel und Thesen darüberschreiben, die den Inhalt größer machen, als er ist. Am besten, man hat Stücke im Angebot, die andere nicht haben. Wir hatten zum Beispiel sehr schnell sehr viele Reporter in der Ukraine, das goutieren die Leute. 

"Ja, der Spiegel ist eher links als rechts, aber mittlerweile relativ unideologisch."

Auch in wirtschaftlich schwieriger Zeit wie dieser?

Das werden wir sehen. Wenn wir in eine schwere Rezession rutschen und die verfügbaren Einkommen zusammenschnurren, wird es für Medien schwer. Gas, Wasser, Strom können Sie im Winter nicht einfach abbestellen, genauso wenig wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – ein Zeitungs- oder Magazin­abo schon. Diese Krise ist da anders als Corona.

Inwiefern?

Während der Lockdowns waren viele in Kurzarbeit, saßen zu Hause fest, hatten kaum Einkommenseinbußen und viel Zeit zum Lesen. Wer Angst haben muss, den Job zu verlieren und die Gasrechnung nicht bezahlen zu können, spart vor allem. Und das könnten auch wir bei den Medien zu spüren bekommen.

Eine Gefahr, von der ein Haus wie Ihres durch explodierende Rohstoff- und Energiepreise zusätzlich betroffen ist.

So interessant die Zeiten aus publizistischer Sicht sind, so riskant sind sie aus ökonomischer.

Könnten Papier- und Energiemangel die Entwicklung vom Print- zum Onlinejournalismus beschleunigen?

Das werden sie mit Sicherheit – so wie das Homeoffice der Digitalisierung in vielen Firmen zum Durchbruch verholfen hat. Heute fliegt doch kaum mehr einer wegen eines kurzen Meetings von Hamburg nach München.

Es herrscht aber kein Flugverbot beim Spiegel.

Nein. Aber überflüssige Reisen sparen wir uns. Und für innerdeutsche Reisen nehme ich inzwischen fast nur noch die Bahn. 

Wie nachhaltig kann denn ein Magazin sein, das auf hochwertigem Papier gedruckt wird und Hunderte von Menschen beschäftigt, die in aller Welt unterwegs sind?

Da wir gern Nachhaltigkeit einfordern, sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen. Unser Hamburger Standort ist ziemlich grün, kommt also mit sehr wenig Energie aus. Der Recyclingpapieranteil der Hefte ist hoch, die Herstellung auf mehrere Druckereien verteilt, damit die Transportwege nicht zu lang werden. Und den CO2-Fußbabdruck, den wir noch hinterlassen, versuchen wir bestmöglich zu kompensieren. 

Papiersparen wird da schon schwieriger.

Wenn die Papierpreise dauerhaft so hoch bleiben, wird sich der CO2-Ausstoß der Medienindustrie automatisch und rasch verringern: Weil sich viele Produkte schlichtweg nicht mehr rechnen.

Befeuert das, was so flapsig "Fake News" genannt wird, im Kern aber ja die gesamte Demokratie zersetzt, diesen Prozess weiter?

Das würde ich voneinander trennen, für Fake News braucht es ja kein Papier mehr. Wie viele Menschen wir dauerhaft an Verschwörungstheoretiker und Propagandisten verlieren, wird sich zeigen. Auf dem US-Markt wird ein Qualitätsmedium wie New York Times von insgesamt zehn Millionen Menschen gekauft. Nur was hilft das, wenn sich zeitgleich die x-fache Zahl von Leuten von Fox News brainwashen lässt?

Ein Resultat sah man am 6. Januar 2021 in Washington.

Das deutsche Publikum kann wahrhaftige Analysen noch ganz gut von Quatsch unterscheiden, ist zumindest mein Eindruck. Andererseits hat Corona gezeigt, wie schnell sich Verschwörungstheorien auch bei uns verbreiten können. Hinzu kommt, dass Plattformen wie Twitter zunehmend toxisch werden.

Nutzen Sie soziale Medien trotzdem?

Ich nutze Social Media nur passiv, als Beobachter.

Dennoch kann sich ein Medium wie der Spiegel weder von sozialen Medien noch von deren Spielregeln lossagen.

Der Spiegel ist ein Mainstream-Medium, und dazu gehört eine aktive Präsenz auf allen für uns relevanten Plattformen. Zumal man dort schon ein gutes Gespür dafür bekommt, was die Leute umtreibt.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Die Trennungsgeschichte von Johnny Depp und Amber Heard hat viele interessiert. Solch ein Thema können wir nicht Bild und Bunte überlassen. Zumal es gesellschaftliche Relevanz hat, und damit passt es auch zum Spiegel

"Der Fall Relotius hat die Grundfesten unserer Glaubwürdigkeit erschüttert." 

Wie viel Autonomie genießen Autorinnen und Autoren bei der Auswahl dessen, was zur Marke passt und was nicht?

Dafür haben die meisten schon ein ganz gutes Gefühl. Die besten Themenideen entstehen hier ja nicht im Kopf des Chefredakteurs, sondern stammen von den Kolleginnen und Kollegen.

Hat der Spiegel abseits seiner Compliance-Regeln dabei noch so was wie politische Leitlinien, also das, was man früher Ideologie genannt hätte?

Mit den alten Denkmustern kommen wir heute nicht mehr weit. Ja, der Spiegel ist eher links als rechts, aber mittlerweile relativ unideologisch. Was wir uns erhalten haben, ist unsere kritische Grundhaltung: Wir glauben erst mal nichts und kuschen vor niemandem. Und eine gewisse Vielfalt tut bei Meinungsbeiträgen durchaus gut, ohne dass man gleich beliebig wird: An Kommentaren muss man sich auch reiben können, sonst wirds vorhersehbar und langweilig. 

Hat sich nicht auch die Altersstruktur der Leserschaft geändert oder die Sozialstruktur?

Bei der Heftleserschaft sicherlich beides. Die ist heute wahrscheinlich ein bisschen weniger links und wild. 

Steckt trotzdem noch das alte Sturmgeschütz der Demokratie im Heft?

Wir würden das heute nicht mehr so nennen, aber das hat sich in den Markenkern eingebrannt. Was gut ist, denn auf unsere Geschichte können wir stolz sein. Eine Marke wie der Spiegel sollte sich immer auf ihre alten Stärken besinnen, man sollte sie nicht zu radikal verändern.

Darf man sie denn noch so führen wie früher, in den Zeiten eines Rudolf Augstein?

Die Führungskultur ist heute deutlich weniger hierarchisch und straff. Sonst würden uns die jungen Talente, die wir brauchen, einen Vogel zeigen.

Das klingt jetzt pragmatisch. Entspringt der Bedarf zur flacheren Hierarchie keiner berufsethischen Überzeugung ihrer dreiköpfigen Chefredaktion?

Natürlich, ich möchte schließlich auch nicht autoritär geführt werden. Je mehr Freiheit und Eigenverantwortung in einer Organisation steckt, desto besser kann sie sich zum Guten entfalten.

Welche Rolle spielt dabei Diversität – insbesondere im Hinblick auf weibliche Führungskräfte, die jahrzehntelang ja auch beim Spiegel die Ausnahme waren?

Das gehört dazu. Da wir den Spiegel ja nicht nur für die männliche Bevölkerung machen, tun wir gut daran, dass ihn auch Frauen mitgestalten. In der Redaktion liegt der Frauenanteil bei etwa 50 Prozent, in den Ressortleitungen leicht darunter. Das Produkt ist trotzdem oft noch zu männlich geprägt.

Worin drückt sich das aus?

Bei den Protagonisten wählen wir immer noch zu selten Frauen aus, die weibliche Perspektive kommt immer noch zu kurz. 

Entsprechend hält sich hartnäckig das Gerücht, Barbara Hans habe die Chefredaktion 2021 auch deshalb verlassen, weil sie während ihrer Elternzeit gläserne Decken erreicht hat, an die Männer nicht stoßen.

Dann hätte es Nachfolgerin Melanie Amann nie in die Chefredaktion schaffen dürfen, die kam nämlich direkt aus der Elternzeit.

"Wenn die Papierpreise dauerhaft so hochbleiben, wird sich der CO2-Ausstoß der Medienindustrie automatisch und rasch verringern: Weil sich viele Produkte schlichtweg nicht mehr rechnen."

Würden Sie zum Wohle der politischen Diversität wie Ihr Vorvorgänger Wolfang Büchner 2013 jemanden wie den konservativen Nikolaus Blome zum Spiegel holen?

Na, der schreibt ja schon länger wieder für uns, als Kolumnist. Und der tut uns mit seinem Blick auf die Dinge erkennbar gut. Politische Diversität ist wichtig für uns. Wie gesagt, die alten, ideologischen Schubladen wurden ausgemistet und neu sortiert.

Blome steht aber auch für ein Personalkarussell, das Ihre Ex-Kollegin Barbara Hans einst heftig kritisiert hatte. Verliert ein Medium wie der Spiegel nicht Konturen, wenn theoretisch jeder hier arbeiten kann?

Unser Anspruch ist, dass hier die besten Journalistinnen und Journalisten arbeiten. Weil sie gut verdrahtet sind, sich etwas trauen, recherchieren, einordnen und schreiben können – oder Audio und Video beherrschen. Wir holen Leute ja nicht zum Spiegel, damit die hier ihre politische Meinung kundtun, im Wettbewerb mit der Süddeutschen Zeitung, Bild oder Zeit geht es um besondere Geschichten, um Scoops, um starke Analysen und Reportagen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir versucht haben, das Meinungsressort der Welt abzuwerben.

Was Sie indes tun, ist das halbe Investigativ-Ressort der Süddeutschen Zeitung abzuwerben.

Die Kollegen, die von der SZ zu uns kamen, haben sich bei uns beworben. Und weil das Topleute einer großartigen Zeitung sind und wir Bedarf hatten, haben wir sie gern genommen.

Besteht bei dieser Art Personalrochade dennoch die Gefahr, dass sich der Qualitätsjournalismus dahingehend kannibalisiert, dass die besten Leute irgendwann bei einer Handvoll Medien arbeitet?

Blödsinn, das nennt man Wettbewerb. Im Profifußball sind solche Wechsel völlig normal.

Mit der Konsequenz, dass in der Bundesliga de facto kein Wettbewerb mehr existiert, sondern ein Oligopol mit Bayern München als Vormacht, die dieses Jahr zum elften Mal Meister wird und dem Produkt Fußball damit massiv schadet.

Was die Bundesliga angeht, haben Sie einen Punkt, aber ohne die Bayern würde kaum noch ein deutscher Klub international eine Rolle spielen. Gehen wir es mal von der anderen Seite an: Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht mehr den Arbeitgeber wechseln, würde sie das womöglich frustrieren und in vielen Redaktionen zu Erstarrung führen.

Sie sprechen da aus eigener Erfahrung!

Ich habe vielleicht ein bisschen zu oft gewechselt. (lacht) Aber der Wettbewerb um die besten Köpfe tut allen gut – übrigens auch innerhalb eines Hauses, zwischen Ressorts. Auch das kann eine Redaktion diverser machen.

Welche Medien werden aus Ihrer Perspektive diesen Wettbewerb überleben – gibt es in zehn Jahren nur noch lokale Sammelredaktionen wie Funke und RND plus überregionale Flaggschiffe wie Süddeutsche, Spiegel, taz oder Zeit und ansonsten hyperlokale Medien, Blogs, Portale?

Schwer zu sagen, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sich auch hochspezialisierte Blogs mit ausgezeichneter Fachexpertise von prominenten Autorinnen und Autoren zwischen den Großen halten können. 

Könnten die theoretisch zu konkurrenzfähiger Größe auf dem Gesamtmarkt wachsen?

Da bin ich skeptisch. Es gab in den USA mal eine Zeit digitaler Neugründungen von Business Insider über Vice, Politico bis Buzzfeed. Einige davon haben sich super entwickelt, andere wurden beim Versuch zu expandieren hart zurechtgestutzt. Das zeigt, wie schwierig es ist, in Märkte vorzudringen, in denen eine gewisse Skalierungsfähigkeit und Größe unerlässlich sind. Außerdem sind einige der etablierten Medien mittlerweile aufgewacht und spielen im Digitalen ganz vorne mit.

Mit welcher Konsequenz?

Dass es wie im Rest der Wirtschaft auf einige wenige Anbieter hinausläuft, die mehr oder minder auskömmlich miteinander konkurrieren. Wer dazwischen als Start-up reüssieren will, braucht entweder ein radikal neues Geschäftsmodell oder eine ganz neue Idee von Journalismus.

Welche zum Beispiel?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht ein Journalismus, der sich wegbewegt von der Textform. Aber da gibt es ja de facto schon Radio und Fernsehen, obwohl auch die im Digitalen auf ihren Nachrichtenseiten viel mit Text arbeiten. Für uns sind Texte immer noch die effizienteste Präsentationsform. Wird das so bleiben? Ich weiß es nicht.

Wo sehen Sie sich dann – hier oben, 13. Stock, fantastischer Rundblick über die frühere Medienhauptstadt Deutschlands?

Es gibt Dinge, die ich ganz gut kann, und Dinge, die andere besser können. Ich glaube, dass die Transformation in unserer Branche eher noch an Tempo zunimmt. Und irgendwann bin ich einfach zu alt für das Neue.

Könnten Sie sich in zehn Jahren eine rein weibliche Führungsriege vorstellen, in der bislang ja maximal eine Frau mit zwei Männern denkbar war und das erst seit kurzem?

Das entscheiden andere. Aber warum nicht? 

Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Tim Brüning arbeitet als Fotograf in Hamburg.

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