Umgang mit der AfD

Medien und AfD: Extrem normal

03.10.2023

Seit den Rekordumfragen für die AfD hat die Berichterstattung über die Partei wieder Hochkonjunktur. Doch der Journalismus wirkt im Umgang mit Höcke, Weidel und Co unsicher. Im Bemühen um einen normalen Umgang werden redaktionell mitunter Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit ausgeblendet. Wie umgehen mit der AfD? "Für einige Leser ist die AfD inzwischen eine normale Partei. Für die Redaktion ist sie es nicht", sagt Uwe Vetterick, Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, im Interview. Text und Interview: Michael Kraske

Michael Kraske recherchiert seit Jahren zu rechten Tendenzen und der Entwicklung der Demokratie in Deutschland. Er sagt: „Der AfD geht es nicht um Provokation. Die meinen, was sie sagen.“

Michael Kraske recherchiert seit Jahren zu rechten Tendenzen und der Entwicklung der Demokratie in Deutschland. Er sagt: „Der AfD geht es nicht um Provokation. Die meinen, was sie sagen.“

Das Sommerinterview mit Björn Höcke beginnt mit einem Geschenk an den Thüringer AfD-Chef. MDR-Moderator Lars Sänger stellt die AfD mit den Worten des Soziologen Wilhelm Heitmeyer als „autoritär-nationalradikale Partei“ vor. Die sperrige Formel erklärt der Interviewer so: „Sie möchten nicht extremistisch genannt werden, nicht rechtsextrem.“ Als Zuschauer fragt man sich, warum sich der Journalist danach richtet, was Björn Höcke möchte. Jener Höcke, der von Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang als Rechtsextremist eingestuft wird. Zur Erinnerung: Ein kritisches Interview mit dem ZDF hat der AfD-Politiker seinerzeit abgebrochen und dem Reporter unverhohlen gedroht. Der damalige ZDF-Chefredakteur Peter Frey erklärte daraufhin, Höcke fortan nicht mehr einzuladen. Das blieb die Ausnahme – und Höcke medial ein gefragter Mann.

„Das ehrt Sie sehr“

Im MDR-Interview verfällt Sänger in eine geradezu anbiedernde Haltung. Mal geht er mit Höcke „d’accord“, mal gibt er sich lernfähig: „Das habe ich verstanden.“ Die Behauptung des AfD-Politikers, die Ursachen für Probleme angehen zu wollen, kommentiert Sänger gar mit den Worten: „Das ehrt Sie sehr.“ Eine befremdliche Ansprechhaltung.

Diesmal soll es um Bildungspolitik gehen. Als Höcke behauptet, es werde versucht, die Bildungspolitik der Länder „in gewisser Weise gleichzuschalten“, merkt Sänger lediglich an, dass er sich mit dem Begriff „Gleichschaltung“ schwertue. Kein Wort darüber, dass mit diesem Begriff die Machtübernahme bei Organisationen durch das NS-Terrorregime bezeichnet wird. Nach Problemen im Bildungsbereich befragt, liefert Höcke biologistisch gefärbte Ideologie: „Gesunde Gesellschaften haben gesunde Schulen.“ Er fordert eine „Wende in der Einwanderungspolitik“ und spricht von „Belastungsfaktoren, die wir von dem Bildungssystem wegnehmen müssen. Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion.“ Offenkundig will Höcke behinderte Kinder aus Klassenzimmern entfernen. Und der Interviewer? Lauscht und findet das alles „ganz spannend“. Nach diesem Interview haben 19 Sozialverbände in der Welt am Sonntag eine Anzeige geschaltet und scharfe Kritik an dem Angriff des AfD-Politikers auf die Rechte von Kindern geübt. Journalistisch blieb die angekündigte Diskriminierung zunächst unwidersprochen.

Wie unter einem Brennglas zeigt dieses Beispiel die journalistischen Unsicherheiten im Umgang mit der AfD. Wie kann und soll berichtet werden? Soll man AfD-Personal befragen? Wer, wie, was. Alles wieder offen, als hätte es die zehnjährige Parteigeschichte permanenter Radikalisierungsprozesse nicht gegeben. Umfragerekorde, bei denen die AfD-Werte bundesweit auf über 20, in Thüringen und Sachsen sogar auf über 30 Prozent stiegen, haben eine neue Konjunktur der Berichterstattung befeuert, die Stimmungsbilder überhöht als wären es Sportrekorde. Begleitet von Wahlerfolgen in den Kommunen. Während die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall (unter anderem im Bund) und als gesichert extremistisch (in Thüringen) verortet wird. Ganz abgesehen von ungezählten Belegen für Verschwörungserzählungen, völkischen Nationalismus, Rassismus, Angriffe auf Demokratie und Menschenwürde sowie NS-Verharmlosung. „Ja, das ist einzigartig“, sagt der Medienforscher Bernd Gäbler. „Die AfD hat sich radikalisiert und etabliert. Diese Gleichzeitigkeit auszuleuchten, macht aktuell den Reiz der Berichterstattung aus.“

Einerseits haben Redaktionen dazugelernt. Anfangs wurde radikale Rhetorik einfach vervielfältigt. Rassistische oder geschichtsrevisionistische Aussagen wurden in Schlagzeilen zur Nachricht aufgeblasen. Das war beste PR für die AfD. Um diesen Fehler zu korrigieren, wollten Redaktionen künftig nicht mehr „über jedes Stöckchen springen“. Das war plausibel, denn natürlich sollte zynisches Vokabular wie „Messermänner“ oder „Schuldkult“ Aufmerksamkeit erzeugen. Doch bis heute wird nicht verstanden: Der AfD geht es nicht um Provokation, sondern darum, die Gesellschaft mit radikaler Ideologie auf eine autoritäre, völkische Politik der Ausgrenzung vorzubereiten. Anders gesagt: Die meinen, was sie sagen. Immerhin folgte nach dem Einzug der AfD in den Bundestag eine Phase größerer „journalistischer Verantwortung“, wie Politikberater und Buch-Autor Johannes Hillje analysiert. Auf den aktuellen Höhenflug der AfD reagiert der Journalismus aus seiner Sicht aber verunsichert. „Der mediale Umgang ist derzeit von Orientierungslosigkeit geprägt“, erklärt Hillje im Tagesspiegel. Medien fielen „auf Verhaltensweisen der ersten Phase zurück“. So würden weiterhin „erschreckend naive Interviews mit AfD-Politikern geführt“.

Radikale Reizfiguren

Der Reiz, Björn Höcke oder Alice Weidel zu interviewen, ist groß. Gerade weil sie radikale Reizfiguren sind. Das verspricht Klickzahlen, Quoten und Verkäufe. Viele Redaktionen halten Interviews für umso wichtiger, je größer die Partei wird. „Die AfD ist kein politisches Randphänomen mehr“, rechtfertigt etwa der Stern das eigene Titel-Interview mit Alice Weidel. „Wir betrachten es als journalistische Pflicht, uns auch mit den Protagonisten problematischer Parteien in direkter Kontroverse auseinanderzusetzen, so menschenverachtend ihre Themen auch sein mögen.“ Doch zeigt das Stern-Interview mit Weidel vor allem, wie limitiert und lückenhaft solche Formate sind. Eine Realitätsverleugnung ist dem Magazin eine ganzseitige Titel-Zeile wert: „Rechtsextreme? Habe ich bei uns noch nicht entdeckt.“ Es menschelt Stern-typisch, wenn die Interviewer wissen wollen, ob Weidel denn „irgendwas Freude im Leben“ bereitet. Und welche Antwort erwartet man denn auf die Frage: „Was können Sie eigentlich außer Hass?“ Da fällt es der AfD-Politikerin leicht, auf angebliche „Sachpolitik“ zu verweisen und typische Untergangsszenarien als Tatsachen auszugeben: „Und dass diese Regierung das Land in den Ruin treibt, ist ein Fakt.“

Die Kategorien bleiben unscharf. So verwendet Stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz in einem Editorial zum Thema das verharmlosende Label „Populisten“. „Solange Sie die offensichtlich Radikalen in Ihrer Partei nicht in den Griff bekommen“, heißt es im Interview. Das ignoriert nicht nur den völkisch-nationalistischen Grundkonsens, der die AfD mittlerweile prägt, sondern auch Weidels eigene Rolle. Ausgeblendet wird dabei etwa jene hetzerische Bundestagsrede gegen „Kopftuchmädchen“ und „alimentierte Messermänner“ aus dem Mai 2018. Einige Monate später mobilisierte die Neonazi-Szene nach einem Tötungsdelikt in Chemnitz zu Straßenprotesten, bei denen es zu massiver Gewalt gegen Migrant:innen, Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen kam.

AfD-Politiker um Björn Höcke führten seinerzeit einen sogenannten Trauermarsch an, bei dem die AfD den Schulterschluss mit bundesweit angereisten Neonazi-Kadern vollzog. Darunter der spätere Mörder von Walter Lübcke. Mit Höcke, gegen den Weidel einst ein Parteiausschlussverfahren unterstützt hat, ist die AfD-Chefin mittlerweile ein Bündnis eingegangen. Trotzdem halten Medien weiter an dem verharmlosenden Gegensatz zwischen vermeintlich Gemäßigten und Radikalen fest.

Rolle von Malsack-Winkemann

Der Stern würde den Weidel-Titel nach eigenen Angaben noch einmal so machen, denn: „Wir müssen hingucken, wenn es um die AfD geht – nicht weggucken.“ Man habe Weidel mit dem „verbreiteten Rechtsextremismus in ihrer Partei“ konfrontiert, aber nicht jeder Beitrag könne „den lückenlosen Nachweis ihres Extremismus“ führen. Weil der Stern die Entwicklung der AfD aber nicht so kontinuierlich ausleuchtet wie etwa der Spiegel, ist umso wichtiger, was thematisiert wird – und was nicht. So hat der Stern im Interview nach dem Besuch eines Mitarbeiters von Weidel in einem Büro der NPD (neuerdings: Die Heimat) gefragt. Ein eher abseitiges Detail.

Brisanter wären Fragen nach der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten und Richterin Birgit Malsack-Winkemann. Diese steht im Verdacht, eine wichtige Rolle in der mutmaßlichen Terrorgruppe aus dem Reichsbürger-Milieu gespielt zu haben, deren tatverdächtige Mitglieder seit Dezember in Untersuchungshaft sitzen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass ein politischer Umsturz geplant war. Den Ermittlungen zufolge wollte die Gruppe offenbar mit einem bewaffneten Kommando in den Bundestag eindringen und Abgeordnete inhaftieren. Aus einem Beschluss des Bundesgerichtshofs geht hervor, dass Malsack-Winkemann andere Beschuldigte durch Reichstagsgebäude und Regierungsviertel geführt haben soll. Dabei seien Videos von unterirdischen Zugängen erstellt worden. Eine Terrorverdächtige, die zuvor für die AfD im Bundestag saß. Die offizielle Website weist sie weiterhin als Mitglied des Bundesschiedsgerichts der Partei aus. Dass die AfD demokratisch gewählt ist, macht sie nicht per se zu einer Partei mit demokratischen Inhalten und Personen. Das wird oft verwechselt und hat fatale Beschwichtigung zur Folge. Rechtsterror ist im aktuellen Medienhype kein Thema.

„Dass die AfD demokratisch gewählt ist, macht sie nicht per se zu einer Partei mit demokratischen Inhalten, Zielen und Personen. Das wird oft verwechselt und hat fatale Beschwichtigung zur Folge. Rechtsterror ist im aktuellen Medienhype kein Thema.“

Ann-Katrin Müller, die für den Spiegel über die AfD berichtet, hat im Deutschlandfunk auf das Problem von autorisierten Interviews hingewiesen: „Bei Menschen, die professionell lügen – das muss man bei der AfD so sagen – hat man eben das Problem, dass man dem wenig entgegensetzen kann, weil dann Aussage gegen Aussage steht.“ Die Redakteurin rät dazu, Lügen und „giftige Erzählungen“ einzuordnen. Die gehören zum festen Repertoire der AfD. Eine Auswahl: Der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland hat die auch bei Rechtsterroristen beliebte Verschwörungserzählung vom sogenannten „großen Austausch“ verbreitet, wonach die einheimische Bevölkerung durch Migranten ersetzt werden und Deutsche für diese arbeiten sollen. In der Pandemie raunte er von einer „Corona-Diktatur auf Widerruf“.

 Höcke behauptet auf der Straße, in Deutschland gebe es gar keine Demokratie. Die Staatsanwaltschaft Halle hat Höcke im Juni wegen des mutmaßlichen Gebrauchs der verbotenen SA-Parole „Alles für Deutschland“ in einer öffentlichen Rede angeklagt. Radikalen Klartext reden Höcke oder Weidel bevorzugt vor eigenen Anhängern. Da lohnt es, hinzuhören. Man kann das AfD-Personal also auch ohne Interview zu Wort kommen lassen.

Von den Öffentlich-Rechtlichen werden AfDler gleichwohl regelmäßig eingeladen. Zu Recht? „Selbstverständlich ist das richtig“, sagt Medienforscher Gäbler. Für ihn ist nicht die Frage, ob solche Gespräche geführt werden, sondern wie. Jede gute Berichterstattung erfordere Kenntnis und Wissen. Gäbler verweist auf gelungene Interviews, etwa durch Shakuntala Banerjee und Thomas Walde im ZDF.

„Kein Einlassticket in den ÖRR“

Immer wieder ist zu hören, der AfD stünden Einladungen aufgrund ihrer Wahlergebnisse zu. ARD und ZDF hätten schließlich die Pflicht zu Meinungsvielfalt und Chancengleichheit. Monitor-Chef Georg Restle hat mit einem Co-Autor im Verfassungsblog begründet, warum das nicht uneingeschränkt gilt. Denn, so die Autoren, Diskussionsrunden und TV-Duelle seien keine Gewährleistung an Parteien, sondern unterliegen der redaktionellen Freiheit. Zwar garantiert das Bundesverfassungsgericht die Sicherung der Vielfalt im ÖRR. Doch Präsenzansprüche könnten daraus nur von „Sachwaltenden des Allgemeininteresses“ abgeleitet werden, so Restle. Landesmediengesetze in NRW oder Bayern setzten politischen Ansprüchen nämlich mit dem Hinweis auf demokratische Normen und die Menschenwürde ausdrücklich Grenzen. Rundfunkfreiheit sei daher „kein Einlassticket für rechte Parteien“, erklärt Restle.

Warum also werden Tino Chrupalla und Alexander Gauland dann in die Polit-Talks von Markus Lanz und Maybrit Illner eigeladen? Eine detaillierte journalist-Anfrage an beide Redaktionen beantwortet das ZDF mit einem Statement: Die Gesprächsrunden würden „nach redaktionellen Gesichtspunkten“ zusammengestellt. „Das bedeutet, die Gäste werden grundsätzlich danach ausgewählt, ob sie für das jeweilige Thema von Bedeutung sind und konkrete Argumente zur Debatte beitragen können.“ Als demokratisch gewählte Partei kämen AfD-Leute im gesamten Info-Programm des ZDF regelmäßig zu Wort.

So eben auch bei Maybrit Illner, wo sich im Juli zum Thema „Sicherheit für die Ukraine“ die gesamte Runde an Gauland abarbeitet. Der argumentiert immer wieder mit pro-russischen Narrativen: Ein starkes Russland sei immer ein freundliches Russland. Der Krieg könne nur mit einem „Kompromiss“ enden. Illner konfrontiert Gauland mit einer Aussage seines Parteichefs Chrupalla, wonach es bei diesem Krieg „wieder nur einen Gewinner“ gebe und dieser Gewinner heiße – USA. Gauland erklärt dazu: „Was Herr Chrupalla gesagt hat, ist völlig richtig.“ Unzweifelhaft werden die von Gauland vorgetragenen antiamerikanischen und prorussischen Positionen von einem relevanten Teil der Bevölkerung geteilt. Trotzdem bleibt die drängende Frage, wie viel medialer Diskursraum jenen zusteht, die bei Themen wie Klima, Krieg, Migration oder Corona nicht auf der Grundlage evidenzbasierter Erkenntnisse argumentieren, sondern Verschwörungserzählungen und Propaganda verbreiten.

„Der AfD geht es nicht um Provokation, sondern darum, die Gesellschaft mit radikaler Ideologie auf eine autoritäre, völkische Politik der Ausgrenzung vorzubereiten.“

Besonders gefordert sind die Lokalen, vor allem im Osten. Bei Wahlen in Thüringen und Sachsen wurde die AfD zuletzt stärkste Kraft. Für große Teile der Bevölkerung ist sie hier längst eine normale Partei, was sie zwar nicht ist, aber das hat die Mehrheit im Landkreis Sonneberg (Thüringen) und in Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) nicht davon abgehalten, AfD-Politiker zum Landrat beziehungsweise zum Bürgermeister zu wählen. Unterdessen mobilisiert die AfD anlassbezogen und arbeitsteilig mit anderen rechtsextremen Kräften wie Freie Sachsen, Freies Thüringen, Reichsbürger-Gruppen und Pegida zu hybriden Protestgemeinschaften mit wütenden Bürgern auf der Straße. Demokratieforscher Johannes Kiess von der Universität Leipzig benennt das als „antidemokratische Mobilisierung“. In Umfragen war die AfD in Thüringen zuletzt mit 34 Prozent stärkste Kraft.

Kaum noch Hemmschwellen

„Grundsätzlich ändert sich erst einmal nichts an unserer Art, Journalismus zu betreiben“, betont Jan Hollitzer, Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, mit Blick auf die erstarkte AfD. Es gelte, die Partei journalistisch genauso sauber abzubilden wie andere: „Damit sich unser Publikum eine Meinung bilden kann, ohne ihm zu sagen, was es zu meinen hat.“ Auch durch Interviews, auch mit Höcke. Hollitzer beobachtet zwei parallele Entwicklungen: „Einerseits schreitet die Normalisierung der AfD mit Umfrage-Rekorden voran, andererseits verfestigen sich rechtsextreme Ideologie und Demokratieverachtung sowie Hetze gegen Minderheiten in der AfD.“ Der Chefredakteur erkennt eine „Verschiebung des Diskurses durch extreme oder populistische Rhetorik“. Eines sei der AfD schon jetzt gelungen: „Es gibt kaum noch Hemmschwellen.“

Die Thüringer Allgemeine reagiere darauf, indem sie informiere, erkläre und berichte, so Hollitzer. Völkische Aussagen würden eingeordnet. Die Redaktion kläre darüber auf, wie man „die Demokratie mit Mitteln der Demokratie bekämpfen kann“. Was sind Rechte und Pflichten eines Landrats? Was kann der bundesweit erste AfD-Landrat im Kreis Sonneberg überhaupt beeinflussen? Hollitzer skizziert kritischen Regionaljournalismus, betont aber auch: „Wir urteilen und richten nicht.“ Jeden Eindruck von Bevormundung gelte es zu vermeiden: „Ich nehme in der Leserschaft wahr, dass durch eine übermäßige Benennung der AfD als rechtsextreme Partei Jetzt-Erst-Recht-Reaktionen eintreten.“

„Wie kann und soll berichtet werden? Soll man AfD-Personal befragen? Alles wieder offen, als hätte es die zehnjährige Parteigeschichte permanenter Radikalisierung nicht gegeben.“

Medienforscher Gäbler mahnt die Besinnung auf professionelle Grundprinzipien an: „Journalismus ist nie der Kumpel, sondern immer der kritische Gegenpol zur Politik.“ Trotzdem bleiben blinde Flecken, auch weil die Berichterstattung stets thematischen Konjunkturen folgt. Zuletzt wurde, angestoßen von CDU-Politikern wie Friedrich Merz, viel über einen „pragmatischen Umgang“ mit der AfD in den Kommunen berichtet. Dabei konnte der Eindruck entstehen, es gebe zwei ganz unterschiedliche AfD-Parteien: nämlich auch eine in den Kommunen, die mit der Höcke-AfD wenig zu tun habe. So wurde der erste AfD-Landrat Robert Sesselmann gern als Rechtsanwalt und Familienvater, eben als bürgerliches Gesicht der Partei porträtiert. Außen vor blieb mitunter, dass Sesselmann auch Beisitzer im Vorstand der AfD Thüringen ist. Jenes Landesverbands, der dem Verfassungsschutz als gesichert extremistisch gilt. Am Wahltag umarmten sich Sesselmann und Höcke innig. Die bayerische Stadträtin Freia Lippold-Eggen aus Bad Kissingen hat ihren geplanten Partei-Austritt damit begründet, dass die AfD die Schwächen der Demokratie nutzen wolle, um diese abzuschaffen. So wie es seinerzeit die NSDAP getan habe. Das Insider-Wissen von Aussteigern wird redaktionell erstaunlich wenig genutzt.

Eine Aufgabe des Journalismus ist es, die AfD systematisch auszuleuchten. Dazu gehört die Parteienfinanzierung (Stichwort: Spendenskandal) ebenso wie Verbindungen innerhalb des Netzwerks der extremen Rechten. So berichtete neben anderen auch die Süddeutsche über Besuche der AfD-Prominenz beim neurechten Aktivisten und Verleger Götz Kubi­tschek und dem von ihm mitgegründeten „Institut für Staatspolitik“ in Schnellroda, Sachsen-Anhalt. Der neurechte Verein gilt dem Verfassungsschutz mittlerweile als gesichert extremistische Bestrebung. In der Vergangenheit trat nicht nur Höcke als Redner in Schnellroda auf. Vielmehr waren hier laut Medienberichten auch Weidel und Gauland zu Gast. Zu einem präzisen Lagebild gehört natürlich auch die Programmatik der Partei. Bezeichnenderweise war es keine journalistische Recherche, sondern eine Analyse von DIW-Präsident Marcel Fratzscher, der zufolge die eigene Wählerschaft am stärksten unter der Politik der AfD leiden würde. „Und zwar in Bezug auf fast jeden Politikbereich“, so Fratzscher. Dieses „AfD-Paradox“, wie er es nennt, spielt medial bisher kaum eine Rolle.

Die Wählerschaft der AfD wird nicht selten mit dem Hinweis auf Regierungsversagen aus der Verantwortung genommen. Viele Redaktionen halten unbeirrt am Label „Protestwähler“ fest, obwohl empirische Befunde dagegensprechen. Studien belegen, dass die Wählerschaft der AfD deutlich rechtsextremer und antisemitischer eingestellt ist als die anderer Parteien. Laut Bertelsmann-Stiftung ist die AfD die „erste mehrheitlich rechtsextrem eingestellte Wählerpartei im Bundestag“. Im deutschen Osten, wo die AfD besonders stark ist, stimmt einer Studie der Universität Leipzig zufolge jeder Zweite ganz oder teilweise der Aussage zu, Deutschland brauche eine starke Partei, die die „Volksgemeinschaft“ insgesamt verkörpere. So hieß bekanntermaßen das Gesellschaftsmodell im Nationalsozialismus. Ein Drittel stimmt im deutschen Osten zudem ganz oder zum Teil der Aussage zu, es brauche „einen Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“.

Studienleiter Oliver Decker hält „Ausländerfeindlichkeit“ für das Bindeglied rechtsextremer Parteien und kommt zu einem dramatischen Befund: Viele im Osten wünschten derzeit nicht mehr demokratische Teilhabe, „sondern die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit“. Die AfD wird also offenkundig nicht trotz, sondern wegen rechter Radikalität gewählt. „Wähler sind mündige Bürger“, sagt Medienforscher Gäbler. „Sie tragen alle volle Verantwortung für ihr Verhalten. Wähler dürfen nie so behandelt werden, als hätten sie ihr Kreuzchen aus Versehen gemacht.“ Gleichwohl mahnt Uwe Vetterick, Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, eine differenzierte Berichterstattung an: Klare Kante beim AfD-Personal, aber keine Pauschalurteile über die Wählerschaft (siehe Interview). Richtig ist aber auch: Man muss selbst kein Nazi sein, um Rechtsextremisten bei Wahlen zur Macht zu verhelfen.

Folgen der Normalisierung

Die wohl wichtigste journalistische Aufgabe ist es, die Folgen einer Normalisierung des Rechtsextremismus zu zeigen. Denn verletzt werden nicht nur Grenzen des Sagbaren, sondern auch Menschen. Bei rechten und antisemitischen Straftaten sowie rassistisch motivierten Angriffen gegen Minderjährige gab es in den vergangenen Jahren beunruhigende Rekordniveaus. Jüdische Menschen werden auf der Straße beleidigt, bedroht oder geschlagen. Migrantische Jugendliche an Haltestellen, im Supermarkt oder beim Spielen bespuckt und angegriffen. Oft sind es Opferberatungen zufolge zunächst unauffällige Leute, die Antisemitismus oder Rassismus gewaltsam ausagieren. Statistisch betrachtet jeden Tag. Die allermeisten Taten bleiben unterhalb des journalistischen Radars. Wenn zivilgesellschaftliche Initiativen ihre Jahresstatistiken veröffentlichen, wird darüber in einem engen Zeitfenster berichtet.

„Die wohl wichtigste journalistische Aufgabe ist es, die Folgen einer Normalisierung des Rechtse­xtremismus zu zeigen.“

Die Neuen deutschen Medienmacher*innen kritisieren als Sprachrohr migrantischer Perspektiven scharf die gängige journalistische Praxis. Es sei keineswegs notwendig, Rechtsextreme zu Sommerinterviews einzuladen und auf Titelseiten zu platzieren. Der Verein widerspricht der Auffassung, dass die AfD aus demokratischen Gründen ständig zitiert oder in TV-Sendungen eingeladen werden müsse. Stattdessen sollten die Erfahrungen marginalisierter Gruppen weitaus stärker berücksichtigt werden: „Ungehört bleiben im Mediendiskurs Betroffene rechter Gewalt.“ Rassistische Begriffe wie „Überfremdung“ dürften nicht durch Wiederholung normalisiert werden. „Antisemitische, islamfeindliche, queerfeindliche, rassistische und faschistische Sprache sollte niemals unkommentiert stehen bleiben“, mahnt der Verein.

Es gibt Lösungsansätze für die Berichterstattung über den Rechtsruck. Alles steht und fällt damit, wie reflektiert der Journalismus agiert. Einmal wurde Björn Höcke in einem Sommerinterview ernsthaft gefragt, ob die AfD denn nun eine „Brandmauer gegen rechts“ errichte. Ausgerechnet Höcke. Das grenzte an Realsatire. Der Journalismus muss sich eigene Antworten zutrauen. Die AfD galt schon unter ihrem Gründer Bernd Lucke als rechtspopulistisch. Seither wiederholen Medienleute bei jedem Anlass, dass sich die Partei zunehmend weiter radikalisiere. Wenn das zutrifft, ist die AfD längst ganz rechts angekommen. Es ist überfällig, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Interview mit Uwe Vetterick, Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, zum redaktionellen Umgang mit der AfD

„Für einige Leser ist die AfD inzwischen eine normale Partei. Für die Redaktion ist sie es nicht.“

journalist: 2024 stehen in Sachsen Landtagswahlen an. Wird die Sächsische Zeitung mit der AfD Interviews führen und sie zu Wahlforen oder Podien einladen?

Uwe Vetterick: Die AfD ist offensichtlich keine Partei wie andere. Auch deshalb, weil sie sich von Jahr zu Jahr, von Wahl zu Wahl, weiter radikalisiert. Deshalb wägen wir in der Redaktion vor jeder Wahl gemeinsam ab, wie wir mit der AfD publizistisch umgehen. Für die Landtagswahl werden wir unsere Entscheidungen demnächst treffen.

Wie haben Sie es denn in der Vergangenheit gemacht?

Vor der Bundestagswahl haben wir Wahlforen gestaltet. Da saßen AfD-Kandidaten mit auf dem Podium. Soll so ein Forum nicht zur Plattform für typischen AfD-Populismus geraten, braucht es zwei Dinge: erstens eine gut vorbereitete, geschickte Moderation, zweitens starke Gegen-Kandidaten. Ersteres hat man in der Hand, auf das Zweite muss man in der Demokratie hoffen.

Und jenseits der Wahlforen?

Für die klassische Wahlberichterstattung über AfD-Kandidaten haben wir generell gelernt, Erzählformate zu wählen, die Einordnung und Widerspruch ermöglichen; also eher Porträt, Reportage, Interview – weniger Bericht. Überdies haben wir uns als Redaktion und Verlag zum Thema AfD auch gegenüber unseren Lesern positioniert.

Wie sah das aus?

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass eine der zur Wahl antretenden Parteien ein Fall für den Verfassungsschutz ist: nämlich die AfD. Wobei geprüft wird, ob die AfD gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung agiert. Wir haben dann unter anderem erklärt, die Einnahmen aus AfD-Wahlanzeigen der Bürgerstiftung Dresden zu spenden.

Wie gehen Sie mit der gleichzeitigen Normalisierung und fortschreitenden Radikalisierung der AfD um? Auch in Ihrer Leserschaft dürfte es ja nicht wenige geben, die AfD wählen.

Das ist sicher so. Und für einige Leser ist die AfD inzwischen eine normale Partei. Für die Redaktion ist sie es nicht.

Was folgt journalistisch daraus?

Da haben wir aus unseren Erfahrungen mit Pegida hier in Dresden viel gelernt. Und zwar sowohl, was den Umgang mit Populisten und Extremisten angeht. Ebenso wie den mit ihren Anhängern, aber auch ihren Gegnern.  

Nämlich?

Wir haben drei Ansätze. Der erste ist: Konfrontation gegenüber den Machern, den Anführern. Dies sind häufig Leute, die schon charakterlich nicht befähigt sind, andere Menschen zu führen. Schon gar nicht solche Massen, und erst recht nicht in Ämtern. Aus diesem Grund haben wir damals die kleinkriminelle Vergangenheit des Pegida-Gründers Lutz Bachmann recherchiert und beschrieben. Der zweite Ansatz ist: Differenzierter Umgang mit den Sympathisanten oder im Fall der AfD, deren Wählern. Meint, die Themen aufzunehmen, die diese Menschen so emotionalisieren: Energie, Migration, Ukraine. Allerdings ohne populistische Lösungsansätze zu bedienen. Es geht darum, zu widersprechen und zu widerlegen. Der dritte Ansatz: Wir unterstützen publizistisch gern diejenigen, die für eine freiheitliche und solidarische Gesellschaft eintreten. Gerade in Dresden und Sachsen.

Welche Fehler gilt es in der Berichterstattung zu vermeiden?

Ein häufiger Fehler sind undifferenzierte Etikettierungen der AfD-Wähler. Natürlich sind etliche von ihnen Nazis, aber gewiss nicht alle. Solche Pauschalisierungen bewirken nach meiner Beobachtung nicht Reflexion und Einsicht, sondern eher Trotzigkeit.

Zu den Folgen der Radikalisierung gehört auch massive Gewalt gegen Minderheiten. Wie berichten Sie darüber?

Wir gehen diesen Fällen nach. Wobei dann der Fokus häufig zunächst auf dem oder den Tätern liegt. Stärker und wirkmächtiger wäre es, die Geschichte stärker über die Opfer zu erzählen.

Michael Kraske lebt als freier Journalist und Buchautor (Tatworte – Denn AfD & Co. meinen, was sie sagen) in Leipzig. In Tatworte untersucht Michael Kraske Zitate von AfD-Politikern, Pegida-Aktivisten und Verschwörungserzählern, die vom Vormarsch rechten Denkens und völkischer Ideologie zeugen.

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