Claudia Neumann

"Müssen wir uns jetzt wieder beschimpfen lassen?"

03.11.2021

2016 war Claudia Neumann erste Live-Kommentatorin eines Männerfußballspiels im deutschen Fernsehen. Seitdem steht sie im Zentrum einer Sexismus-und Hassdebatte, die eher schlimmer wird als besser. Ein Gespräch über ihre Vorbildrolle, die unterschiedliche Beurteilung von Frauen und Männern und den Umgang mit Fehlern. Interview: Thilo Komma-Pöllath

Claudia Neumann: "Tatsächlich ist der Live-Kommentar im Fußball noch eine letzte Männerdomäne." (Foto: Felix Schmitt)

Ein Café auf der Zeil, mitten in Frankfurt am Main. Claudia Neumann (57) hat noch die Kopfhörer im Ohr, Redaktionskonferenz mit der Sportstudio-Redaktion. Sie trägt den aktuellen Kicker unterm Arm. Gleich ums Eck liegt ein Bolzplatz, das passt. Neumann ist seit 1999 Sportreporterin beim ZDF, seit 2008 kommentiert sie Fußballspiele live, seit 2016 auch Männerfußball. Früher habe sie sich nicht besonders für Emanzipationsfragen interessiert, sagt sie. Das ist heute anders.

journalist: Frau Neumann, warum haben Sie diesen Sommer im ZDF eigentlich nicht das Finale der Fußball-Europameisterschaft kommentiert? Sie wären die erste Frau gewesen.

Claudia Neumann: Ganz einfach, weil es einen besseren Kollegen gab. Oliver Schmidt hat die ganze Europameisterschaft über eine bessere Performance abgeliefert. Ich halte diese "Erste Frau kommentiert Finale"-Diskussion auch nicht für zielführend.

Das ehrt Sie, aber "bessere Performance", kann man das so einfach sagen?

Ja, das kann man. Ich habe natürlich nicht alles sehen können, weil ich selbst unterwegs war, aber dafür gibt es ja Menschen bei uns, die das entscheiden. Wir haben alle unsere Stärken und Schwächen, haben gute und schlechtere Tage, und in meinen Augen ging am Kollegen Olli Schmidt diesen Sommer kein Weg vorbei. Ich habe mich sehr für ihn gefreut.

Die Öffentlichkeit wunderte sich derweil, dass das ZDF für das Finale nicht Chefkommentator Béla Réthy nominierte. Wohingegen keiner überrascht war, dass es wieder keine Frau war, also nicht Sie. 

Keine Frau, die den Anspruch hat, in einem großen Konzert zu singen, will übervorteilt werden. Ich will auch nicht, dass eine große PR-Kampagne daraus gemacht wird. Ich weiß mich selbst ganz gut einzuschätzen. Bei der EM war ich insgesamt ganz zufrieden mit mir, aber ich finde immer Stellen, die von mir nur suboptimal gelöst wurden, wo ich die Spielsituation für den Zuschauer schneller auf den Punkt hätte bringen können. 

Am gleichen Tag wurde das Herren-Finale in Wimbledon das erste Mal in 134 Jahren von einer Frau geschiedst. Der All England Lawn Tennis and Croquet Club gilt als streng klassenbewusst und konservativ. Was sagt Ihnen das?

Natürlich ist es heute möglich, dass eine Frau ein Männerfinale beim Fußball kommentiert. Ich finde es aber richtig, wenn mein Sender jetzt sagt, wir lassen uns nicht treiben. Als ich bei der EM 2016 das erste Mal diesen exponierten Job im Männerfußball gemacht habe, da gab es plötzlich eine Petition, die Neumann müsse das Finale kommentieren. Das war ja ganz süß, für einen selber ist das ja auch eine schöne Bestätigung gegen den ganzen Hass. Darum ging es den Leuten ja vor allem, aber es war inhaltlich nicht gerechtfertigt. Du bist auf dem Niveau eine Novizin, und du hast zwei Kollegen, die es schon seit Jahren machen und mehr verdient haben. Das kann ich gut akzeptieren.

Sie haben 2008 mit dem Live-Kommentar angefangen, sind also keine Novizin mehr. War Ihnen von Anfang an klar, dass Sie als Frau die deutsche Öffentlichkeit überfordern?

Zwischen 2011 und 2016 haben wir beim ZDF intern immer wieder diskutiert, ob und wann es sinnvoll wäre, dass ich neben Frauen- auch Männerfußball live kommentiere. Handwerklich gibt’s da ja keinen Unterschied. Mir war bewusst, dass die Skepsis in Teilen der Gesellschaft noch groß war, dass sich im Netz was rühren würde. Der Begriff des Shitstorms war auch schon in der Welt. Der damalige Sportchef (Dieter Gruschwitz; die Redaktion) hatte eher Bedenken, der Chefredakteur (Peter Frey; die Redaktion) wollte es versuchen. Natürlich sehnt man sich nicht nach permanenten Diskussionen und Beschimpfungen, aber ich hatte letztlich das Gefühl, dass es richtig und wichtig sei. Heute sehe ich es noch deutlich klarer, ich begreife mein Tun als Chance, nachfolgenden Generationen ein paar Türen zu öffnen, die Gleichberechtigung auch im Fußball voranzutreiben. 

ARD und ZDF bemühen sich sehr, dem woken Zeitgeist gerecht zu werden – ob Gendersprache, Diversität oder die Bedeutung von Moderatorinnen im politischen Fernsehen. Bei den Tagesthemen folgte auf Pinar Atalay mit türkischem Hintergrund Aline Abboud, die libanesische Wurzeln hat. Das Heute Journal wird seit zwanzig Jahren von Marietta Slomka moderiert, ihre journalistische Expertise ist preisgekrönt. Warum ist es da immer noch undenkbar, dass eine Frau ein Männerfußball-Finale kommentiert?

Noch mal: Es ist ja denkbar, aber noch ist es Exotik. Es muss selbstverständlich werden, dass so ein EM-Finale genauso von einer Frau kommentiert werden kann, wenn sie qualifiziert ist und die Kriterien des Leistungsprinzips nicht ausgehebelt werden. Solange wir das als Exotik begreifen, bekommt das Thema eine Aufmerksamkeit, die es gar nicht verdient. Vor Jahren durfte man eher den Eindruck gewinnen, dass TV-Sender mit Frauenbesetzungen im Fußball PR-Mechanismen bedienten. Das ist nicht mehr so, ich sehe da heute viel Qualität auf den Sendern. Tatsächlich aber ist der Live-Kommentar noch eine letzte Männerdomäne. Das liegt auch daran, dass es in dem Bereich weniger interessierte Frauen gibt, einige sich sicher auch nicht eingeladen fühlen angesichts der Erfahrungen, die ich mache.

"Wir haben im Moment schlicht keinen Hebel für den Hass im Netz, und wir werden die Debatte durch noch mehr Öffentlichkeit nicht stoppen."

Keine andere Disziplin im deutschen TV-Journalismus wird so heftig diskutiert wie der Live-Kommentar eines Fußballspiels. Anders als bei einem Triell spielen beim Fußball bis zu 22 Männer Foul. Kann man ein Fußballspiel überhaupt fehlerfrei kommentieren?

Gute Frage, wahrscheinlich ist das kaum möglich. Die Schiedsrichter machen Fehler, Spieler, Trainer, das Spiel lebt von der Verkettung von Fehlern, und das spiegelt sich im Kommentar. Früher hat man gesagt, das versendet sich, heute versendet sich nichts mehr. Jeder Fehler ist archiviert für immer, jeder bekommt alles mit, alles holt dich ein. Einem fällt was auf, Millionen reagieren in den sozialen Netzwerken, der Sturm ist vorprogrammiert. Den Umgang mit Fehlern finde ich in unserer Gesellschaft grundsätzlich sehr problematisch. Aus Fehlern lernt man, sie bringen Erkenntnisgewinn, man kann sich verbessern. Stattdessen werden Fehler heutzutage zur Katastrophe stilisiert, das ist keine gute Kultur, nicht nur im Fußball. 

Sie stehen im Mittelpunkt einer Sexismus-Debatte, bei der man den Eindruck bekommen kann, Sie seien die meistgehasste Frau im deutschen Fernsehjournalismus. Das ZDF ging während der Europameisterschaft in diesem Jahr in die Offensive und hat einige der Beschimpfungen gegen Sie, "die wir nicht mehr sehen können", veröffentlicht: "Wer hat die denn rausgelassen", "Lasst bitte wieder nur Männer ran" oder "Frauenstimmen passen nicht zum Fußball" waren noch die harmlosesten. Geschah das mit Ihrem Einverständnis?

Der Sender hat selbst die Initiative ergriffen, das war mit mir nicht abgesprochen. Ich habe da eine andere Meinung, die Weisheit aber auch nicht mit Löffeln gefressen. Ich respektiere das, denn man darf ja unterstellen, dass wir alle gemeinsam das gleiche Ziel verfolgen. Ich selbst wähle eher die Lass-uns-gar-nicht-so-viel-darüber-reden-Strategie und versuche, das größtmöglich zu ignorieren. Gelingt auch nur bedingt, wie man an unserem Gespräch sieht. Wir haben im Moment schlicht keinen Hebel für den Hass im Netz, und wir werden die Debatte durch noch mehr Öffentlichkeit nicht stoppen. Das einzige, was mit der Veröffentlichung der Kommentare natürlich sofort passiert: Die Bild-Zeitung ruft an. Aber ich muss da ja nicht rangehen … 

"Heute versendet sich nichts mehr. Jeder Fehler ist archiviert für immer, jeder bekommt alles mit, alles holt dich ein."  

Es fällt auf, dass sich die allermeisten Beschimpfungen nicht auf Fehler von Ihnen beziehen, sondern dass Sie generell als Frau verächtlich gemacht werden. Etwas, was einem Mann im Fußball nicht passiert. Es geht also um tief sitzenden Frauenhass, der gerade im Fußball weit verbreitet scheint. Was sagt das über das Gesellschaftsbild Ihrer Zielgruppe aus?

Das fragen wir uns in diesen Tagen doch alle, oder nicht? Ich habe bisher keine Antwort darauf. Manchmal sieht es so aus, dass wir bei gewissen gesellschaftlichen Entwicklungen wieder rückwärts laufen. Vielleicht ist es auch nur ein letztes Aufbegehren der Ewiggestrigen gegen den Wandel, schwer zu sagen. Was ich sicher weiß, betrifft die Unterschiede, die bei Frauen im Fernsehen gemacht werden. Zum einen, dass die identische Kritik in einem viel größeren Zusammenhang gesehen wird. Mit einem einzigen Fehler wird Frau sofort die Gesamtkompetenz abgesprochen. Das passiert Männern nicht, der Fehler bleibt ein singulärer Fehler. Zum anderen wird die Kompetenz bei Frauen, wenn es darum geht, ob sie geeignet sind für den Job, sofort hinterfragt, bei Männern überhaupt nicht. Das gilt für den Fußball genauso wie in der Politik, in der Wirtschaft oder in den Medien.

Also eine strukturell misogyne Öffentlichkeit?

Eher ein falsches, aus meiner Sicht überholtes Selbstverständnis. Ich habe in meinen 30 Jahren Berufszugehörigkeit einige männliche Kollegen erlebt, von denen ich sagen kann, ihre Fußballkompetenz ist überschaubar, für meine Begriffe nicht ausreichend für einen Live-Kommentar. Dem Zuschauer ist das nie aufgefallen, weil es deutlich geringer ausgeprägt ist, Männer zu hinterfragen. Warum aber soll heute eine Vorstandsfrau in einem Fußballverein ihre Fußballkompetenz nachweisen, wenn sie das, wofür sie eingestellt werden soll, sagen wir als Finanzexpertin, schon in diversen anderen Unternehmen nachgewiesen hat? Warum wird ihre Sozialisierung im Fußball hinterfragt, aber bei keinem der männlichen Bewerber? 

Wie groß ist die Solidarität Ihrer männlichen Kollegen nach einem Beleidigungssturm? 

Die Solidarität im ZDF ist riesig, und ich sage das nicht, weil ich den Schein wahren muss oder es sich so schön anhört. Wir verstehen uns als Team, da neidet der eine dem anderen nichts. Als ich 2018 in Russland bei einem Spiel in einem echt bescheuerten Fehler drei Japaner verquickt und falsch zugeordnet habe, da hat mir Olli Schmidt eine SMS geschickt, mich aufgemuntert und geschrieben: "Mund abputzen, nicht unterkriegen lassen, weiter geht’s." Ähnlich auch Béla Réthy. Da gibt es keine Häme. Wenn ich mich mit den ARD-Kommentatorinnen Julia Metzner, Martina Knief oder Stephanie Baczyk unterhalte, weil wieder ein großes Turnier ansteht, dann machen wir das heute in der ironischen, spaßigen Art. Nach dem Motto: Müssen wir uns jetzt wieder den ganzen Sommer beschimpfen lassen?

Was macht das mit Ihnen als Mensch und Journalistin, wenn man weiß, man wird für seine Arbeit seit Jahren angefeindet?

Ganz schwierige Frage. Die Geschichte, was im Netz passiert, die habe ich ganz gut im Griff. Ich selbst bin in keinem einzigen Netzwerk aktiv, das war allerdings vorher schon so. Ich habe keine Lust, mich über Social Media als Marke zu stilisieren, wie das viele Fernsehkollegen tun. Alles legitim, nichts für mich. Das Bashing findet also auf Fremdkanälen statt, deshalb fällt es mir relativ leicht, das zu ignorieren. Natürlich kann ich mir vorstellen, was da passiert, wirklich umgehauen hat es mich nicht. Würde ich die Menschen in meinem eigenen Kanal zu einem Feedback auffordern, dann müsste ich es auch lesen.

"Ich begreife mein Tun als Chance, nachfolgenden Generationen ein paar Türen zu öffnen, die Gleichberechtigung auch im Fußball voranzutreiben."

Glaubt man ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann, braucht die Online-Redaktion während eines Claudia Neumann-Kommentars bis zu sechs Community-ManagerInnen, um die ZDF-Accounts frei von sexistischer Hassrede zu halten – statt der sonst üblichen zwei. Wie muss man sich das vorstellen: Ihr Sender sammelt die Beleidigungen in Leitz-Ordnern, und die härtesten Drohungen und Gewaltfantasien werden angezeigt? 

Auch das geht alles an mir vorbei. Während der Europameisterschaft 2016 in Frankreich hat mich unser Chefredakteur angerufen und gefragt, ob ich auf die Beschimpfungen mit Strafanzeigen reagieren wolle. Der Sender wollte mich juristisch unterstützen. Ich empfand das für mich aber nicht als glaubwürdig. Wenn ich sage, ich lese das nicht, dann beschäftige ich mich damit auch nicht im Detail. Ganz wichtig ist für mich, dass ich mir bewusst mache, dass es nichts Persönliches ist. Ich stehe hier nur stellvertretend für die Frau, die einige an der Stelle nicht haben wollen.

Kaum zu glauben: Sie lesen nichts und haben bis heute niemanden angezeigt?

Nein, ich nicht. Der Sender hat es 2018 gemacht, während der Fußball-WM in Russland. Ich sitze in Moskau im Hotelzimmer und schaue das Heute Journal, als ich plötzlich selbst zu einer Wortmeldung werde. Das ZDF hatte zwei User wegen Bedrohungen gegen meine Person angezeigt. Ein bizarrer Moment, der mich kalt erwischt hat, weil es dadurch eine neue Dimension bekommen hat. Ich wünsche mir, dass wir dem Problem soziologisch auf den Grund gehen: Warum hassen wir so in unserer digitalen Kommunikation? Ich würde das niemals nur auf den Fußball beziehen, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir haben wunderbare soziale Netzwerke, die wir ganz großartig nutzen könnten, in meiner Wahrnehmung aber meist ziemlich mies nutzen. Das spricht für die Unreife einer Gesellschaft. 

Was erleben Sie persönlich an einem gewöhnlichen Bundesliga-Wochenende? 

Ich habe im Stadion noch nie eine unangenehme Situation mit den Menschen gehabt. Nicht eine einzige Beschimpfung! Weder mit einem einzelnen Fan noch mit einer größeren Fangruppe oder einem Vereinsvertreter. Im Gegenteil: Jeder, der mich anspricht, ist extrem freundlich und positiv. "Lassen Sie sich von denen nicht unterkriegen" oder "Alles Deppen", so der Tenor. Wenn ich Post bekomme, ist sie fast durchweg positiv. Und wenn es mal was Kritisches ist, dann ist es sehr freundlich geschrieben. Ein älterer Herr, ein Rentner, hat kürzlich geschrieben, dass er die Beschimpfungen furchtbar fände, seine eigene Frau ihn aber auch beim Fußball schauen störe, weil sie zu viel reden würde. Ich würde das fachlich prima machen, aber er hätte eben lieber eine Männerstimme. Ich habe ihm höflich zurückgeschrieben, dass ich das völlig okay finde, er sei das sicher so gewohnt, vielleicht sehe er das in fünf Jahren anders, wenn der Reporterduktus noch breiter gefächert ist.

Jeder Mensch braucht Anerkennung. Noch mal: Was macht der Hass mit Ihnen?

Ich bekomme jede Menge Anerkennung. Der Hass kommt, meiner Erfahrung nach, von einer kleinen Minderheit. Deshalb sehe ich die ständige mediale Wiederholung auch so problematisch. Aber klar, niemand lässt sich gerne beschimpfen. Ich sehe ja, wer in der Gesellschaft sonst noch für alles mögliche beleidigt wird, das gibt mir einen ganz guten Vergleichsrahmen. Inwieweit mich dieser Netz-Hass verändert hat, kann ich gar nicht genau sagen. Definitiv habe ich den letzten fünf, sechs Jahren gewisse Haltungen verifiziert. Ich habe mich in der Vergangenheit nie so sehr für Frauen- und Emanzipationsfragen interessiert, die sind dadurch zu mir gekommen. Ich bin in eine Gesellschaftsdebatte hineingeraten, aus der ich, so oder so, nicht mehr herauskomme. Also mache ich was draus.

Heute sind Sie Teil der Initiative „Fußball kann mehr“, die sich für mehr Frauen im Fußball stark macht.

Gemeinsam mit vielen fantastischen, im Fußballbusiness bereits sehr erfolgreichen Frauen. Wir alle stehen für zuweilen holprige Wege, die wir, nur weil wir Frauen sind, im Fußball gehen mussten. Schauen Sie sich mal die Zahlen an, der Anteil von Frauen in Führungspositionen bewegt sich im marginalen Bereich. Seit Jahren ist gar keine Entwicklung mehr festzustellen, obwohl längst nachgewiesen ist, dass aus Vielfalt größere Qualität erwächst. Die Führungsgremien der Fußballvereine und Verbände bilden die Diversität unserer Gesellschaft überhaupt nicht ab, die Entscheidungsträger werden immer nach dem gleichen Profil besetzt. Vor allem junge Leute stören sich sehr daran und drängen auf Veränderung. 

Interessant war die Europameisterschaft in diesem Jahr auch deshalb, weil man sich durchaus an den KommentatorInnen und ModeratorInnen reiben konnte: ARD-Mann Tom Bartels kommentierte stellenweise parteiisch, Ihr ZDF-Kollege Béla Réthy verwechselte reihenweise Spieler, die größte Kritik entzündete sich aber wieder an einer Frau: Für ihr Interview mit Joachim Löw nach dem Ausscheiden des DFB-Teams und seinem letzten Spiel als Bundestrainer musste ARD-Moderatorin Jessy Wellmer reichlich Kritik und Häme einstecken. Gibt es gar keine Diskursebene, auf der man eine Fußball-Reporterin inhaltlich kritisieren kann, ohne dass es gleich am Geschlecht festgemacht wird? 

Die muss es selbstverständlich geben, da müssen wir hin. Aber leider gibt es in der Draufsicht so viele thematische Vermischungen, auch bei Medienkritikern, dass es schwer ist, eine sachliche Ebene zu finden. Ich bin ein großer Fan von Wellmers beschwingter Art zu moderieren. Das heißt aber nicht, dass sie nicht auch mal einen schwachen Tag haben darf. Ich will über ihre Auftritte bei der Europameisterschaft gar nicht urteilen, ich war unterwegs und habe das meiste nicht gesehen. Über die Agenturen habe ich die Wellen der Kritik an ihr natürlich mitbekommen, und es war, wie es immer ist bei Frauen im Fußball: An einem einzigen Beispiel wurde alles in Frage gestellt. Es muss möglich sein, dass man das kritisieren darf, wenn das Interview mit Löw, gut belegt durch Beispiele, nicht gut war. Es darf aber nicht wieder gleich die ganze Person, die Journalistin an sich in Frage gestellt werden. Und es darf ganz sicher nicht sein, dass es zu Hass und Morddrohungen kommt. Das ist nämlich auch passiert, und das ist eine unfassbare Entartung eines Fußballspiels.

Da haben Sie völlig recht. Dennoch: ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky empörte sich über die öffentliche Kritik an Wellmer und lobte ihren respektvollen Umgang mit Herrn Löw. Das wirkte auf mich weltfremd, tatsächlich war der Auftritt von Frau Wellmer kritikwürdig. Sie wirkte mit der Situation überfordert, ihrem Experten Bastian Schwein­steiger das Händchen zu halten und gleichzeitig Löw mit kritischen Fragen aus der Reserve zu locken. 

Wenn jemand öffentlich so zerrissen wird, dann ist der erste Reflex der, die eigene Mitarbeiterin zu schützen. Da gibt es meiner Ansicht nach auch eine Fürsorgepflicht. Ich bin sicher, dass intern anders gesprochen wurde. Natürlich muss es möglich sein, das auch öffentlich einzugestehen, wenn man es an dem Tag nicht so hinbekommen hat. Aber solange Hass und Kritik in der öffentlichen Debatte nicht sauber voneinander getrennt werden, solange eine Vielzahl von Medien nur auf Schlagzeile oder Klickzahl aus ist, sehe ich die Bringschuld nicht bei den Betroffenen.

"Manchmal sieht es so aus, dass wir bei gewissen gesellschaftlichen Entwicklungen wieder rückwärts laufen."

Die journalistische Einordnung der EM-Spiele haben bei ARD und ZDF nicht mehr Journalisten übernommen, sondern eine Schwemme von ExpertInnen, aktuelle und ehemalige SpielerInnen, die, wie Bastian Schweinsteiger, stellenweise überfordert wirkten. Ohne Schweinsteiger hätte Jessy Wellmer mutmaßlich ein besseres Löw-Interview hinbekommen. Schärft das öffentlich-rechtliche Fernsehen so das eigene journalistische Profil?

Ich finde nicht, dass die journalistische Einordnung von den Experten übernommen wurde. Themensetzung, Themengewichtung, Einordnungen, Spieleinschätzungen kamen in meiner Wahrnehmung schon von den RedakteurInnen der Sender in ihren unterschiedlichen Funktionen. Die ExpertInnen haben mit ihren Erfahrungen als ehemalige Spieler- oder TrainerInnen eine zusätzliche Perspektive eingebracht. Eine wunderbare fachliche Bereicherung, in meinen Augen ein absoluter Mehrwert für die ZuschauerInnen.

Selten waren die Widersprüche bei einem sportlichen Großereignis so eklatant sichtbar wie bei dieser Europameisterschaft: Autokratische Länder wie Russland, Aserbaidschan und Ungarn erlaubten trotz Corona volle Stadien; auf den Werbebanden russische, chinesische und katarische Staatskonzerne; Verträge verboten, das Münchner Stadion in Regenbogenfarben zu zeigen, und als ein Spieler mit Herzstillstand umfiel, wurde einfach weiter gespielt. In der Summe wurden diese Widersprüche im Programm zu wenig thematisiert. Geben Sie mir recht?

Wenn dieser Eindruck entstanden ist, sollte uns das zu denken geben. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, dass die Berichterstattung so sportpolitisch war wie selten zuvor. Die Frage nach dem Verhalten der UEFA nach dem Kollaps von Christian Eriksen wurde tagelang behandelt, ebenso die Corona-Politik mit den völlig unterschiedlichen Handhabungen. Und auch die Farce um die Münchner Arena in Regenbogenfarben wurde breit aufgegriffen und kritisch hinterfragt. UEFA und DFB haben diesbezüglich ein jämmerliches Bild abgegeben, sich hinter Statuten versteckt, anstatt diese umgehend zu ändern. All die hübschen Wertekampagnen sind für die Katz, wenn die Glaubwürdigkeit im entscheidenden Moment – und die Regenbogendiskussion war einer solcher Moment – untergraben wird. Die anschließenden Rechtfertigungsversuche fand ich unerträglich.

Für die EM haben ARD und ZDF 115 Millionen, für die WM 2022 in Katar gar 214 Millionen Euro an diese "jämmerlichen" Vertragspartner UEFA und FIFA bezahlt. Wenn sportliche Großereignisse an Potentaten jeglicher Couleur verschachert werden, bei gleichzeitiger Verleugnung der eigenen zivilgesellschaftlichen Errungenschaften wie der Gleichstellung von Frauen, Männern und Homosexuellen, von den 6.500 toten Bauarbeitern in Katar ganz zu schweigen – sind solche Verträge noch anständig und geboten?

Interessante Frage. Selbst die ExpertInnen von Amnesty International oder Human Rights Watch sind sich nicht einig, ob es besser ist, diese Länder bei Sportereignissen zu boykottieren oder doch besser in den Fokus zu nehmen, um den Dialog zu suchen. Fakt ist: Vornehmlich zu schweigen, so wie es Bayern München und andere Bundesliga-Klubs lange Zeit während ihrer Trainingslager in Doha gemacht haben, das geht nicht mehr. Seit Katar als WM-Gastgeber feststeht, haben ARD und ZDF unzählige Male über die Menschenrechtssituation in ihren Sportformaten berichtet. Übrigens: Nicht immer goutieren das die TV-Zuschauer, viele wollen diese sportpolitischen Themen, etwa im Sportstudio, partout nicht sehen. Wir machen es dennoch, weil wir es richtig und wichtig finden. Und das, da können Sie sicher sein, wird auch im Winter 2022 passieren. 

Die Geldfrage haben Sie damit elegant umschifft. Im kommenden Jahr also Katar. Das hätte doch was: In einem Land, das Frauenrechte unterdrückt, kommentieren Sie als erste Frau das Finale einer Fußball-Weltmeisterschaft der Männer. Sind Sie dabei?

Eher nicht, das WM-Finale überträgt im nächsten Jahr turnusmäßig die ARD. Aber ich wiederhole es gerne noch einmal: Es ist nicht so wichtig, wer das Finale kommentiert. Wichtiger ist, dass die Selbstverständlichkeit wächst, dass Frauen auch im Fußball alle Jobs machen können. Wir Frauen wollen nicht mehr über unsere Befähigung und nicht mehr über den Hass reden müssen, wir wollen keine Exoten mehr sein. Das wäre doch mal eine völlig neue Perspektive, oder?

Frau Neumann, vielen Dank für das Gespräch.

Thilo Komma-Pöllath ist freier Journalist und Buchautor (Die notwendige Revolution). Er betreibt in München ein Redak­tionsbüro. Felix Schmitt ist Fotograf in Frankfurt am Main.  

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