Wie machen das die jungen Leute?

Über den Tellerrand hinaus

12.02.2021

Felix Friedrich und Dario Nassal haben im Mai 2020 Buzzard auf den Markt gebracht. Die App fasst journalistische Artikel zu aktuellen Themen zusammen, immer aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven. Das soll Menschen helfen, sich eine eigene, differenzierte Meinung zu bilden – die Macher sprechen von einem Diskurswandel. Text: Kristina Wollseifen

Buzzard-Gründer: Dario Nassal (l.) und Felix Friedrich (Foto: Buzzard)

Ratingagenturen senken die Bonität Athens. EU-Staaten beschließen Hilfspakete. Die Regierung verschärft ihren Sparkurs. Vor fünf Jahren hielt die Staatsschuldenkrise in Griechenland ganz Europa in Atem – und die Medienwelt auf Trab. „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“, titelte damals die Bild-Zeitung. Und der Spiegel fragte in einer Titelstory: „Die Schuldenfalle – wie viel Griechenland können wir uns noch leisten?“

Die Schuldenkrise spaltete damals die Nation, die Gemüter der Bürger waren erhitzt, und daran war die Berichterstattung nicht ganz unschuldig. So haben das zumindest Felix Friedrich und Dario Nassal (beide 29) damals wahrgenommen. „Die öffentliche Debatte war viel zu einseitig und die mediale Debatte auch“, ärgert sich Friedrich heute noch. Was die Griechen zur Krise zu sagen hatten, stand nach seinen Recherchen nur selten in der Zeitung, nur wenige schafften es ins Fernsehen. 

Die Schuldenkrise ist vom Tisch, das Problem aber bleibt: „Wir leben in einer Zeit, in der Debatten polarisiert geführt werden, in der Schwarz-Weiß-Denken vorherrscht“, sagt Friedrich: „Um wirklich eine differenzierte politische Meinung zu einem aktuellen Thema zu entwickeln, ist das zu wenig. Dazu braucht es Einblicke in die Perspektiven verschiedener Akteure.“ Und dabei, sagt er, haben Medien eine Schlüsselfunktion.

So entstand die Idee für Buzzard. Das Onlinemedium soll Nutzern helfen, sich zu orientieren und das ganze Bild zu sehen – so wie der namensgebende Bussard über die Felder kreist, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Wir verstehen unser Angebot als Medienspiegel, wollen Nutzern einen Überblick über die wichtigsten Themen des Tages liefern. Und zu diesen Themen vielfältige Medienstimmen von links bis rechts auf einen Blick“, sagt Gründer Friedrich. „Jeden Tag werden zig gute Texte verfasst, die durch Algorithmen und Mechanismen wie Clickbaiting in der täglichen Flut an Informationen untergehen.“ Die Bergungsarbeit der Buzzards findet Zuspruch: In einer Crowdfunding-Aktion sammelten die Gründer im vergangenen Winter innerhalb eines Monats 165.000 Euro ein. Um sich auf lange Sicht auf dem Markt zu behaupten, suchen die Meinungsmacher nun Kooperationspartner. 

Von der Wirklichkeit eingeholt

Felix Friedrich und Dario Nassal haben Buzzard im Sommer 2015 gegründet. Die beiden studierten damals Politik in Mannheim und sammelten erste journalistische Erfahrungen. Eigentlich hatten die beiden geplant, sich nach ihrem Masterstudium – Friedrich machte seinen Abschluss in politischer Philosophie in Barcelona, Nassal in internationalen Beziehungen in Amsterdam – an einer Journalistenschule zu bewerben oder ein Volontariat zu absolvieren. Doch dann kam Buzzard – und die Idee, das Angebot nach dem Studium weiterzuentwickeln und zu professionalisieren und sich damit selbständig zu machen. „Wir dachten, dass wir einen größeren Beitrag für Meinungsvielfalt leisten können, indem wir versuchen, das System, in dem wir arbeiten, zu reformieren“, erzählt Friedrich im Telefoninterview. Eigentlich wollte Mitgründer Nassal auch an dem Gespräch teilnehmen, doch er musste kurzfristig das Redaktionsteam unterstützen. Die beiden Geschäftsführer von Buzzard fungieren nämlich auch als redaktionelle Leiter: Nassal führt die Debattenredaktion, Friedrich verantwortet die Schlussredaktion.

Seit 2017 widmen sie sich ihrem Start-up in Vollzeit. Im ersten Jahr präsentierten sie auf dem Demo-Day des Media Lab Bayern einen Prototyp für die heutige App. Der Ideen-Inkubator fördert Projekte rund um digitale Medien. Zeitgleich verkündeten die Gründer, dass die Google-News-Initiative die Weiterentwicklung ihres Projekts mit 50.000 Euro unterstützen würde. Mit dem Geld wollten sie testen, ob sie die Suche nach Themen und Perspektiven für das Angebot auch einem Algorithmus übertragen könnten. Damit wollten sie den Buzzard über ganz Europa kreisen lassen, später auch nach Süd- und Nordamerika expandieren. Sie träumten von einem Millionengeschäft. 

Längst hat die Gründer die Wirklichkeit eingeholt. Sie wollen Buzzard zwar nach wie vor auf die internationale Bühne bringen, aber zunächst einmal für den deutschen Markt fit machen: Nach einer zweijährigen Testphase, in der es Buzzard nur als Desktopversion gab, ist die App erst seit Mai 2020 auf dem Markt. Die beiden entwickelten sie letztlich mithilfe ihrer Crowdfunding-Kampagne. Die andere Hälfte der damaligen Idee aber scheiterte: In der täglichen Arbeit muss das Team ohne Algorithmen auskommen. Mit dem Google-Geld hatten sie zwar einen Prototyp entwickelt, der Argumente in Texten nach Pro und Contra sortieren kann. Der Algorithmus lag damit aber selbst im besten Fall nur bei vier von fünf Texten richtig. „Das ist zwar schon ein guter Wert“, sagt Friedrich. Aber längst nicht ausreichend für einen automatisierten Prozess. Deshalb setzen sie weiterhin auf menschliche Intelligenz: 14 Leute arbeiten zurzeit bei Buzzard im Schichtsystem, jeden Tag sind rund fünf Leute in der Berliner Redaktion im Einsatz. 

Und so funktioniert ihr Job: Die Redakteure filtern jeden Werktag drei Top-Themen aus deutsch- und englischsprachigen Medien. Dafür greifen sie auf eine selbst aufgebaute Datenbank mit rund 1.700 Quellen zurück – mit von der Partie sind bekannte Zeitungen wie FAZ und New York Times, aber auch Fachblogs wie Netzpolitik und Makronom, zudem einige wissenschaftliche Publikationen. In die engere Wahl fallen nur Nachrichten, über die in mindestens fünf überregionalen Medien diskutiert wird – und die gesellschaftspolitisch relevant sind. „Wir konzentrieren uns auf die Themen, von denen viele Menschen betroffen sind und die einen großen Einfluss auf die nationale oder internationale Politik haben“, sagt Friedrich.

Wenn die Themen gesetzt sind, sammeln die Buzzard-Mitarbeiter Stimmen dazu. Dafür nutzen sie erneut die eigene Datenbank sowie RSS-Reader, Social Media und Suchmaschinen. Wichtigstes Kriterium nun: Die Perspektiven sollen so vielfältig wie möglich sein, sich auf keinen Fall wiederholen. Sie scannen teils stundenlang Analysen, Kommentare, Leitartikel, Interviews und Reportagen, bündeln inhaltliche Positionen und Argumente und wählen schließlich bis zu sechs Stimmen aus, die die Vielfalt des Themas nach ihrer Meinung am besten wiedergeben. Besonders geschätzt: Meinungen Betroffener vor Ort und solche, die neue Denkanstöße liefern könnten. 

Jeden Tag ein Debattenformat

Ein Beispiel: Berlin verbietet Covid-19-Demos. Dazu zeigte die App sechs Meinungsbeiträge an – von Journalisten des RBB, der Frankfurter Rundschau, von ZDF und Bild, aber auch von Autoren der Onlineplattform Netzpolitik, die sich für digitale Freiheitsrechte einsetzt, und von der SPD-Mitgliederzeitung Vorwärts. Unter den Beiträgen stehen Infos zu Medium und Autor. Sie sollen den Nutzern helfen, das Geschriebene einzuordnen. So erfahren sie zum Beispiel, über welche Themen Journalisten schwerpunktmäßig berichten und welche Reichweite und politische Ausrichtung ein Medienhaus hat.

Buzzard stellt jeden Tag ein neues Debattenformat ein, zum Beispiel zur Frage: Gehen die Umweltaktivist*innen von Extinction Rebellion mit ihren Aktionen zu weit? Für diese Debatte des Tages sucht die Redaktion verschiedene Beiträge mit Pro- und Contra-Argumenten aus. „Damit machen wir die Debatten übersichtlich und bieten unseren Lesern zugleich Orientierung“, sagt Friedrich. „Dann können sie sich daraus als mündige Leser eine eigene Meinung bilden.“ 

Wo ist die Grenze?

Aber wie breit darf der Diskurs sein? Im vergangenen Jahr stand Buzzard im öffentlichen Kreuzfeuer, denn die Redaktion hatte auch Texte von rechtspopulistischen Medien in ihre Perspektivenvielfalt aufgenommen. So erschien beispielsweise zur Frage, ob Marine Le Pen eine gute französische Präsidentin wäre, die Meinung einer PI-News-Autorin neben der Einschätzung des etablierten und bekannten US-Mediums Vox. Bei anderen Themen stellte die Redaktion zum Beispiel Perspektiven von Autoren des rechtspopulistischen Blogs Breitbart, des Kreml-nahen TV-Senders Russia Today und der rechtsradikalen Seite Journalistenwatch vor. „Wir hatten es uns ja zum Ziel gesetzt, viele verschiedene Perspektiven vorzustellen und dabei nicht zu zensieren“, erklärt Friedrich rückblickend. Aber: Wo ist die Grenze? 

Ihre Antwort legten sie in Form von überarbeiteten Auswahlkriterien vor. Das heißt: Während etablierte Medienhäuser wie Deutschlandfunk und Süddeutsche Zeitung das Grundvertrauen der Buzzard-Redaktion genießen, schauen sie nun bei Medien, die zum Beispiel von Parteien oder NGOs herausgegeben werden, kritischer hin und machen einen Faktencheck. Das gilt beispielsweise für den Blog NachDenkSeiten, der von dem ehemaligen SPD-Politiker Albrecht Müller betrieben und bestückt wird, sowie für den US-Sender Fox News, dem früheren Lieblingschannel von Donald Trump. Dabei half ihnen auch ihr journalistischer Beirat, in dem prominente Unterstützer wie die Journalisten Alexander von Streit und Richard Gutjahr sitzen. „Wir wissen, dass wir nicht alle Meinungen wiedergeben dürfen. Für Hetze, Hass und Rassismus ist bei uns kein Platz“, sagt Friedrich heute. „Aber es ist wichtig, dass wir immer ein möglichst breites Spektrum abdecken und keine Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums pauschal ausgrenzen. Deshalb prüfen wir das zunächst und entscheiden dann, ob wir den Beitrag empfehlen oder nicht.“

"Wir leben in einer Zeit, in der Debatten polarisiert geführt werden, in der Schwarz-Weiß-Denken vorherrscht."

Noch ist die App ein Nischenangebot. Bisher zahlen rund 2.000 Nutzer pro Jahr rund 60 Euro für ihr Buzzard-Abo, also fünf Euro pro Monat – dieser Umsatz reicht bei weitem nicht aus, um die Redaktion zu finanzieren. Friedrich bereitet allerdings weniger die Zahl der Nutzer Sorgen als ihre Struktur: „Bisher werden wir etwa zu zwei Dritteln von einem liberal-kritischen Publikum mit akademischem Hintergrund gelesen und etwa zu einem Drittel von Menschen, die sich selbst als mittig oder rechts der Mitte verorten. Optimal wäre es, wenn es ausgeglichen wäre“, sagt er. Denn im besten Falle soll Buzzard einmal Mitglieder aller Gesellschaftsschichten erreichen, Akademiker wie Arbeiter, Konservative wie Ökos, Stadt- und Landmenschen. Um Nutzer gezielter zu erreichen, können sich die Gründer vorstellen, das Angebot zu regionalisieren. Das hieße: Die Redaktion könnte zum Beispiel für jedes Bundesland die wichtigsten Themen und Debatten des Tages bereitstellen. 

Die Rechnung geht nicht auf

Doch solche Pläne hat das journalistische Start-up erst einmal zurückgestellt. Stattdessen hat Buzzard jüngst ein Medienkompetenz-Projekt gestartet: Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich mit verschiedenen Positionen auseinanderzusetzen – und Strategien zur politischen Meinungsbildung entwickeln. Bisher können Schüler und Lehrer in Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Baden-Württemberg und Bayern dazu die Buzzard-App kostenlos nutzen. Unternehmen machen das Projekt mit einem Sponsoring zwischen 10.000 und 20.000 Euro möglich, für die übrigen Bundesländer sucht das Team noch Kooperationspartner. 

Allem Idealismus zum Trotz: Das Buzzard-Team braucht dringend höhere Umsätze, um sich weiter zu finanzieren. Bisher geht die Rechnung nicht auf. Das Start-up setzt monatlich über die App knapp 10.000 Euro um, die Kosten für Redaktionsräume und Mitarbeiter liegen aber bei rund 20.000 Euro. „Allein um die Kosten zu decken, muss die Community bis Ende des Jahres auf 3.000 Mitglieder wachsen“, erklärt Friedrich. „Schaffen wir das nicht bis zum Sommer 2021, wäre es das Aus für Buzzard.“

Dafür setzen Friedrich und Nassal nun alles daran, dass Buzzard mehr Reichweite erlangt. „Wir sind keine Marketing-Experten und experimentieren deshalb viel, welche Vermarktungswege funktionieren“, sagt Friedrich. Sie haben ein Profil auf Linkedin und bei Twitter eingerichtet, posten auf Instagram und Facebook und schalten dort auch Werbeanzeigen. „Wir setzen aber vor allem auf unsere bereits bestehende Community“, sagt Friedrich. Wer die App gut findet, soll sie weiterempfehlen. 

Anzeigen kommen nicht infrage

Darüber hinaus will das Buzzard-Team eine zweite Einnahmesäule entwickeln, die unabhängig von zahlenden Abonnenten laufend für Umsatz sorgt. Das sollen erstens Unternehmen sein, die die Idee unterstützen und als Sponsoren auftreten. Zweitens hofft die Redaktion auf Medienkooperationen. Die würden nicht nur die Reichweite der Meinungsmacher enorm vergrößern, sondern auch einen Zusatznutzen für die Leser darstellen, sind die Gründer überzeugt: „Zurzeit verlinken wir nur auf Artikel, die ohne Bezahlschranke für unsere Nutzer im Netz verfügbar sind“, sagt Friedrich. Buzzard würde auch gerne Inhalte hinter Paywalls in den Medienspiegel aufnehmen. „Wir hoffen, dass andere Medienhäuser mit uns kooperieren und unseren Nutzern ihre kostenpflichtigen Inhalte freigeben.“ Klassische Werbeanzeigen kommen für die Gründer nicht infrage. „Wer Anzeigenkunden hat, muss auch hohe Klickzahlen vorweisen können“, sagt Friedrich. „Davon wollen wir uns aber nicht abhängig machen.“ 

Kristina Wollseifen ist Redakteurin in der Kölner Wirtschaftsredaktion Wortwert.  

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