Daniel Drepper

"Unsere Recherchen zum Fall Rammstein"

10.10.2023

Protokoll einer umkämpften Recherche: Daniel Drepper, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, berichtet für den journalist über die Recherchen seiner Redaktion im Fall Rammstein. Und wie es ist, mit seiner Arbeit in einen Kulturkampf zu geraten. Text: Daniel Drepper

Vorwürfe und Rechtsstreits: Daniel Drepper erklärt die Rammstein-Recherchen

Manche Recherchen machen nach der Veröffentlichung deutlich mehr Arbeit als davor. Die Recherchen zu Till Lindemann und zur Band Rammstein gehören definitiv dazu.

Als die Nordirin Shelby Lynn an einem Donnerstag Ende Mai auf Twitter und Instagram schreibt, sie sei im Umfeld eines Rammstein-Konzerts unter Drogen gesetzt worden, ist sehr schnell klar, dass das eine Recherche wert ist. Innerhalb weniger Tage gehen ihre Beiträge nicht nur viral, es äußern sich auch zahlreiche Menschen in den sozialen Medien mit Hinweisen auf ältere Äußerungen im Netz, mit Andeutungen oder mit anonym veröffentlichten eigenen Erfahrungen.

Am 29. Mai, am Pfingstmontag, habe ich deshalb auf Twitter Frauen dazu aufgerufen, sich mit ihren Erfahrungen bei uns zu melden. Ich habe öffentlich gemacht, dass wir zu Rammstein recherchieren, bevor wir überhaupt angefangen haben zu recherchieren. Weil ich mir sicher war, dass wir nur so eine Chance haben, der Wahrheit möglichst nahezukommen. Und weil ich glaube, dass „Hilf mir recherchieren“ drei der mächtigsten Worte im Journalismus sind.

Das hat sich in diesem Fall bestätigt: Ich hatte vor meinem Tweet noch nie etwas mit Rammstein zu tun, ich hatte keinerlei Hinweise, ich hatte noch nie zur Musikindustrie recherchiert. Trotzdem dauerte es vom Tweet bis zur ersten Veröffentlichung am 2. Juni im NDR und in der Süddeutschen Zeitung nur wenige Tage.

Das lag neben der enormen Bereitschaft der Frauen, mit uns zu sprechen, vor allem daran, dass wir innerhalb weniger Stunden ein großes, schlagkräftiges Team aus Redakteur*innen beider Medien zusammenhatten. Ein Team, das verschiedene Fähigkeiten vereinte: Kontakte in die Musikbranche im Feuilleton der SZ, Recherche-Handwerk in den Investigativ-Teams, Recherche im Netz, Quellengespräche, schnelle Umsetzung fürs TV. Und vor allem: Ein Team, das mit mehr als einem halben Dutzend Personen die ganze Woche lang Tag und Nacht und Hand in Hand an der Recherche arbeitete.

Was seitdem passiert ist, hat uns alle überrascht – und zeigt auf mehreren Ebenen, wie wichtig investigative Recherche auch als Katalysator für gesellschaftliche Diskussionen sein kann.

Der Fall Rammstein macht deutlich, dass Verdachtsberichterstattung immer stärker als Teil eines Kulturkampfs gesehen wird. Da die Vorwürfe, die juristische Aufarbeitung und das journalistische Handwerk oft kompliziert sind, zeitaufwändig und nur schwierig zu erklären, geht in der Diskussion vieles durcheinander. Das wird immer häufiger befeuert von einer Gegenseite, die durch aggressive Pressearbeit und das Erwecken falscher Eindrücke nicht nur rechtlich gegen die Recherchen vorgeht, sondern aktiv versucht, diese in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Auch deshalb sprechen wir derzeit vermehrt über unsere Arbeit.

Vermischung von Straf- und Presserecht als Verteidigungsstrategie

Die Kanzlei, die kurz nach Veröffentlichung der ersten Recherche das Mandat für Till Lindemann – aber nicht für die Band – übernimmt, ist die Kanzlei Schertz Bergmann. Schon die Übernahme des Mandats begleitet die Kanzlei mit einer Pressemitteilung, in der die Anwälte ankündigen, sie würden „wegen sämtlicher Anschuldigungen dieser Art umgehend rechtliche Schritte einleiten“. Die Pressemitteilung kommt auch bei den Frauen an, die mit uns sprechen – und die uns teilweise fragen, was das für sie bedeute und ob sie jetzt Angst haben müssten. In den kommenden Wochen wird Lindemanns Kanzlei die Teilerfolge in verschiedenen presserechtlichen Verfahren stets zeitnah veröffentlichen. Andere Medien greifen die Pressemitteilungen von Schertz Bergmann auf und verbreiten darin enthaltene verkürzte und teilweise sogar falsche Darstellungen. Keine*r der Kolleg*innen hat bei der Gegenseite, etwa bei uns, nachgefragt oder eine Stellungnahme eingeholt.

„,Hilf mir recherchieren‘ sind drei der mächtigsten Worte im Journalismus.“

In der Öffentlichkeit wird das teilweise offenbar fehlende Verständnis rechtlicher Zusammenhänge besonders deutlich, als die Berliner Generalstaatsanwaltschaft ihr Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann am 29. August, nach rund sieben Wochen einstellt. In zahlreichen Kommentaren aber auch Artikeln von Kolleg*innen wird die Einstellung des Verfahrens gleichgesetzt mit einem Freispruch für Lindemann – und es wird impliziert, damit sei auch unsere Berichterstattung entwertet. Dabei stehen die staatlichen Ermittlungen nur mittelbar im Zusammenhang mit unseren Recherchen und denen etwa des Spiegels.

Die Staatsanwaltschaft schreibt das auch selbst in ihrer Pressemitteilung. „Die Möglichkeit, etwaige Tatvorwürfe ausreichend zu konkretisieren, bestand daher ebenso wenig wie die, einen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Geschädigten und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Rahmen von Vernehmungen zu gewinnen.“ Kurz: Die Presseberichte können wir nicht bewerten. Doch dieser Satz geht unter, stattdessen wird in der Diskussion oft auf den folgenden Satz verwiesen: „Die in der Presseberichterstattung wiedergegebenen Angaben von Zeuginnen und Zeugen haben sich durch die Ermittlungen nicht bestätigt.“ Diese Formulierung, aus dem Kontext gerissen, wird als Beleg dafür hergenommen, unsere Arbeit sei damit widerlegt. Perfektes Material für Rammstein-Fans und Presse-Kritiker*innen.

Aber nicht nur extrem rechte Seiten wie etwa Tichys Einblick werfen uns eine Kampagne vor, auch Kolleg*innen renommierter Medien wie etwa der FAZ oder des Mediendiensts Horizont schreiben, unsere Recherchen seien auf ganzer Linie fehlgeschlagen, wir wären Aktivist*innen, die Verdachtsberichterstattung sei aus dem Ruder gelaufen. Die Kanzlei Schertz Bergmann befeuert diese Interpretation mit einer eigenen Pressemitteilung. So schreibt die Kanzlei, mit der Einstellung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zeige sich, dass die „schwerwiegenden Vorverurteilungen unseres Mandanten in den sozialen Netzwerken und in den Medien keine Grundlage hatten“.

Das ist natürlich Unsinn. Die Grundlage unserer Berichterstattung konnte die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht prüfen. Und ob sie vorverurteilend gewesen ist, beurteilen die Pressekammern der Gerichte, nicht die Ermittler*innen der Staatsanwaltschaft. Auch als Reaktion auf diese inhaltlich falschen Vorwürfe entscheiden wir uns, in den kommenden Tagen über die Einstellung der Ermittlungen zu sprechen, geben einmal mehr in zahlreichen Medien Interviews – um den Unterschied zwischen Strafrecht und Presserecht deutlich zu machen.

Hunderte Seiten Schriftsätze behindern weitere Recherche

So wie die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen begleitet Schertz Bergmann auch jeden Teilerfolg in presserechtlichen Verfahren mit entsprechenden Mitteilungen, egal ob gegen die Youtuberin Kayla Shyx, den Spiegel oder unsere Recherchen bei NDR und Süddeutscher Zeitung.

Wir haben zwei größere Recherchen veröffentlicht, jeweils beim NDR und in der Süddeutschen Zeitung, es geht also um vier unterschiedliche Veröffentlichungen. Insgesamt bestreiten wir in den Wochen danach mehr als ein halbes Dutzend Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Kanzleien von Lindemann und den anderen Bandmitgliedern. Oft werden in solchen Auseinandersetzungen pro Verfahren von jeder Seite zwei oder mehr Schriftsätze formuliert. Und die sind in solchen Streitigkeiten oft 20 oder 30 Seiten lang. Die Dokumente werden zwar von unseren Anwält*innen erstellt, aber unter Beteiligung und inhaltlicher Prüfung der Reporter*innen. In den Wochen nach den Veröffentlichungen haben wir deshalb hunderte Seiten für diese rechtlichen Auseinandersetzungen gelesen und auf inhaltliche Fragen geprüft, haben selbst eidesstattliche Versicherungen zu unserer Arbeit abgegeben, haben intensiv mit den Quellen kommuniziert. Die Verteidigung der bereits veröffentlichten Geschichten frisst so unglaublich viel Zeit.

In der zweiten Recherche, in der es vor allem um Christian „Flake“ Lorenz geht, müssen die Süddeutsche Zeitung und der NDR nach Entscheidungen des Landgerichts Hamburg derzeit vorläufig eine Passage zu einer der mutmaßlich Betroffenen offline nehmen. Der Rest der Texte zu Christian „Flake“ Lorenz bleibt unverändert. In der ersten Recherche, in der es vor allem um Lindemann geht, muss in einem Beitrag auf tagesschau.de im Kern ein Satz aus dem Vorspann geändert werden. Das ärgert uns, ist aber bei solch aufwendigen Verfahren auch keine Überraschung: Die Verdachtsberichterstattung hat Leitplanken, aber jeder Fall ist unterschiedlich und muss neu abgewogen werden. Manchmal kommen Richter zu einer anderen Abwägung als wir Reporter*innen und unsere Justiziare. Gegen alle drei gegen uns ergangenen Beschlüsse legen NDR und Süddeutsche Zeitung Widerspruch ein.

„Ich hatte vor meinem Tweet noch nie etwas mit Rammstein zu tun, ich hatte keinerlei Hinweise, ich hatte noch nie zur Musikindustrie recherchiert.“

Den Rechtsstreit um die erste große Veröffentlichung der Süddeutschen Zeitung vom 2. Juni 2023 – „Am Ende der Show“ – gewinnt dagegen Anfang September nach einer mündlichen Verhandlung in Frankfurt die Süddeutsche Zeitung. Der Text bleibt komplett unverändert. Das Gericht macht deutlich, dass alle Voraussetzungen einer Verdachtsberichterstattung erfüllt seien. Es habe genug Belege gegeben, das öffentliche Interesse sei gegeben, die Berichterstattung sei nicht vorverurteilend geschrieben und Lindemann habe ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt. Für unsere zwischendurch in der Öffentlichkeit hart angegriffene Berichterstattung – und besonders für die Frauen, die sich uns anvertraut haben – ist das eine wichtige Entscheidung und eine hilfreiche Bestätigung. Auch hier gilt: Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.

Selbstverständlich haben Till Lindemann und Rammstein das Recht, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen. Aber ein Ziel der Gegenseite scheint es auch zu sein, uns mit den presserechtlichen Verfahren von unserer eigentlichen Arbeit abzuhalten: der Recherche. Zudem haben die presserechtlichen Verfahren auch einen Effekt auf unsere Quellen, so berichten sie es zumindest in Gesprächen mit uns. Einige sind verängstigt, andere fühlen sich jetzt herausgefordert und melden sich erst recht bei uns. Seit Beginn der Recherche bekommen wir zahlreiche Hinweise zu Rammstein, zur Musikindustrie insgesamt, aber auch zu ganz anderen Themen. Die Reaktionen bestätigen: Wenn man nach außen signalisiert, dass einem Recherche wichtig ist, wenn man präsent ist, wenn man für seine Arbeit auch rechtlich einsteht – dann schätzen das gerade auch potenzielle neue Quellen.

Chronologie #Rammstein #RowZero #MeToo

25. Mai

Am 25. Mai postet die Nordirin Shelby Linn auf Twitter Videos und Fotos ihrer Erlebnisse während und nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius, bei dem sie, wie sie vermutet, unter Drogen gesetzt wurde.

2. Juni

Am 2. Juni erscheint nach einer Recherche der Beitrag „Am Ende der Show“ in der Süddeutschen Zeitung, der Beitrag auf tagesschau.de trägt den Titel „Neue Vorwürfe gegen Till Lindemann“.

8. Juni

Am 8. Juni macht die Kanzlei Schertz Bergmann per Pressemitteilung öffentlich, dass sie ab sofort Till Lindemann in äußerungs- und presserechtlichen Angelegenheiten vertritt. Ebenfalls im Juni nimmt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft ihr Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann auf, das sie Ende August wieder einstellt, weil die Vorwürfe nicht ausreichend konkretisiert werden konnten.

17. Juli

Am 17. Juli erscheint der SZ-Beitrag „Im Feuer“, in der es vor allem um den Rammstein-Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz geht. Den zwei großen Recherchen und vier Veröffentlichungen folgen mehr als ein halbes Dutzend juristische Auseinandersetzungen.

10. August

Nachdem das Landgericht Hamburg in einer Entscheidung vom 10. August auf Antrag von Lindemann untersagte, von sexuellen Handlungen zu schreiben, denen die Frauen nicht zugestimmt hätten, wurde der Beitrag über den Rammstein-Keyboarder auf tagesschau.de leicht angepasst. Der NDR behält sich rechtliche Schritte vor.

Anfang September

Den Rechtsstreit um die SZ-Veröffentlichung vom 2. Juni gewinnt Anfang September die Süddeutsche Zeitung. Der Text bleibt komplett unverändert.

Daniel Drepper leitete die Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Er recherchiert mit seinen Kolleg*innen weiterhin zu Rammstein – und zu Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie.

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