Ukraine-Krieg

Unterschlupf – Kiew unter Tage

27.05.2022

Olga Musafirova, Korrespondentin der Nowaja Gaseta, berichtet von ihrer Zeit im Luftschutzbunker in Kyjiv: von Igor, dem Klempner, der nun als Wachmann arbeitet. Von Tonja, Andrej und Lera, die alle dort unten im Keller wohnen. "Wenn sie mir eine solche Geschichte vor dem Krieg in der Ukraine erzählt hätten, hätte ich sie wahrscheinlich nicht geglaubt."

"Bomboshowyschtsche": Luftschutzbunker in Kyjiv Ende Februar - der Keller eines Plattenbaus.

Dieser Text erschien zuerst in der Nowaja Gaseta Europa. Übersetzung aus dem Russischen von Mariia Kalus.

Ich stieß am Ende der ersten Kriegswoche auf sie.

Der Keller meines zehnstöckigen Plattenbaus war trotz des Wegweisers "Bomboshowyschtsche" (Ukrainisch für Luftschutzbunker) eher ein Loch für in der Kälte streunende Katzen, ein Zufluchtsort für Obdachlose unseres Viertels oder ein Versteck für eine kleine feindliche Sabotage- und Aufklärungsgruppe. Aber sicher kein Ort, an dem sich Menschen während eines Raketenangriffs aufhalten können.  

Die Raketenangriffe auf Kyjiw begannen im Morgengrauen am 24. Februar. Seitdem hörten die Sirenen für lange Zeit nicht auf. Im westlichen Teil der Stadt – genauer in einem Viertel, in dem viele Unternehmen angesiedelt sind – waren die Sirenen besonders oft zu hören. Manchmal erschien ein greller Schweif am Himmel, der in Tropfen auseinanderfiel. Das bedeutete: Die ukrainische Luftverteidigung schoss eine Iskander – oder was zum Teufel auch immer – im Anflug ab. Den Wunsch von Bürgermeister Vitali Klitschko an die Zivilbevölkerung zu erfüllen, wollte mir aus naheliegenden Gründen immer noch nicht gelingen: Leben nicht zu gefährden, in einen Schutzraum zu gehen. Die von der Kyjiwer Stadtverwaltung entwickelte und auf mein Smartphone geladene Karte mit Luftschutzbunkern stimmte in diesem Fall nicht.  

Natürlich war die U-Bahn eine große Hilfe. Die nächste Station ist etwa 300 Meter von uns entfernt, und man erreicht sie zu Fuß durch Durchgangshöfe. Tagsüber ist das noch erträglich. Aber diesen Weg nach Beginn der Ausgangssperre zu laufen, sogar mehrmals pro Nacht – das schien keine gute Idee zu sein. Ein Beispiel: Während der 24-stündigen-Ausgangssperre, die um 20 Uhr am 26. Februar begann und bis 7 Uhr am 28. Februar dauerte, ertönten Explosionen in weiter Ferne und Gewehrsalven unter unseren Fenstern. Die Territorialverteidigung und die Militärpolizei "säuberten" die Stadt von feindlichen Eindringlingen und Plünderern. Wer sich ihrem Befehl widersetzte und sich doch auf der Straße blicken ließ, hatte eine hohe Chance, ebenfalls getroffen zu werden. Im "Manhattan", wie der Gebäudekomplex in der Nähe heißt, kam es regelmäßig zu nächtlichen Straßenschlachten: Minen und Granaten explodierten, Maschinengewehre waren zu hören. Saboteure versuchten, eine Militäreinheit zu erobern, wurden aber auf der Stelle vernichtet.  

"Einer der Luftalarme erwischte mich auf dem Heimweg von einem Laden. Dem Geräusch nach zu urteilen, würde es erneut meinen Heimatbezirk Swjatoschyn treffen."

Es ist nicht leicht für gestern noch in Frieden lebende Menschen, darüber zu schreiben. Und bei diesen Ereignissen dabei zu sein …

Der Strom derer, die aus der Hauptstadt flohen, wuchs. Die Bewohner unseres Hauses wurden immer weniger. Im Haus-Chat bat man mich, auf den Etagen nachzusehen, ob die Wohnungen von Dieben gekennzeichnet wurden. Und wenn ich keine Angst hätte, sollte ich den Zugang zum Dach überprüfen.  

Einer der Luftalarme (sie beginnen und enden bekanntlich nicht nach einem bestimmten Plan) erwischte mich auf dem Heimweg von einem Laden. Dem Geräusch nach zu urteilen, würde es erneut meinen Heimatbezirk Swjatoschyn treffen. Der schönen Worte wegen kann man an dieser Stelle hinzudichten: Alles verlief wie in dem alten sowjetischen Actionfilm "Die schwarze Katze", in dem das Foto der geliebten jungen Frau, das an einer Kellertür geklebt wurde, dem Helden das Leben rettet.  

In Wirklichkeit war es so: "SharLen", ein Schild für einen Laden mit heliumgefüllten Ballons an der Vorderfront eines benachbarten Neubaus, war direkt über der Treppe, die in das Kellergeschoss des Gebäudes führte. Unten hing die handschriftliche Notiz: "Der Laden ist vorübergehend geschlossen. Aber wir hoffen auf ein baldiges Wiedersehen!" Die gepanzerte Tür ließ sich öffnen. Es konnte nicht anders sein: Seit einigen Monaten verwaltete eine junge Wohnungsbehörde den Neubau, unser Haus und einige andere benachbarte Gebäude, nachdem sie eine Ausschreibung gewonnen hatte. (Nach ukrainischem Kriegsrecht dürfen Journalisten keine genauen Orientierungspunkte und Namen angeben, um feindlichen vorgeschobenen Beobachtern keine Koordinaten zu verraten.) Hier befand sich ihr "Hauptquartier".  

Hinter mir donnerte es so laut, dass ich selbst wie eine Rakete in das Zimmer der "neuen Wohnungsbehörde" flog, einen aufgeschlagenen Pass in der Hand. (In die Kyjiwer U-Bahn, die als Luftschutzbunker fungiert, lassen Militärpolizei und Territorialverteidigung Menschen erst nach einer ausführlichen Kontrolle von Dokumenten und privaten Gegenständen ein, um Sabotageakte zu verhindern. Leider gab es bereits Versuche, Terroranschläge in der U-Bahn durchzuführen.) Mehrere Mädchen in dem Büro aßen gerade friedlich zu Mittag, ohne ihre Blicke vom Newsfeed ihrer Smartphones zu heben. An der Wand standen Kisten, Tüten mit Müsli, Nudeln, Keksen, Gläser mit hausgemachter Marmelade, Flaschen mit Pflanzenöl und Pakete Mineralwasser. Auf einem Regal, wie in einer Vitrine, standen eng aufgereiht Tee- und Kaffeepackungen ...

"Danke, ich erkenne schon alle an den Gesichtern", winkte der Wachmann mit dem blonden Kurzhaarschnitt, ohne in meinen Pass zu blicken. "Kommen Sie herein. Es gibt viele aus ihrem Haus" – er nannte die Adresse meines zehnstöckigen Gebäudes –, "und von hier sind fast alle weg."

Ich erkannte in dem Blonden Igor, der vor einiger Zeit als Klempner zu uns gekommen war, um den Abfluss unter der Küchenspüle zu reinigen. Er verzichtete auf sein Honorar. Dabei bat er mich, darauf zu achten, die Kommunaldienste richtig zu bezahlen. Er beriet mich damals, wie man eine gemeinsame Erklärung für den Anwalt der "neuen Wohnungsbehörde" vorbereiten könnte, damit der Wasserverbrauch neu berechnet wird. Hier begegneten wir uns nun wieder...

Nein, nicht so. Die "neue Wohnungsbehörde" war zu Kriegsbeginn mit allen Waffen ausgerüstet worden, seitdem übernimmt sie die Verantwortung für die Sicherheit "ihrer" Einwohner. Ich murmelte so etwas wie "Sicher hat Gott Sie geschickt …", ohne zu wissen, wie nah ich der Wahrheit damit kam.  

Bei "null"  

... Hinter der nächsten Tür, in einem schwach beleuchteten, etwa zweihundert Quadratmeter großen Raum, zwischen Geflechten aus mit Folie umwickelten Abwasserrohren und kleineren Kunststoffrohren, wurde auf dem mit Betonstaub bedeckten Boden ein Lager errichtet.

"Natürlich war den meisten Erwachsenen klar, dass dieses technische Kellergeschoss den Anforderungen eines Luftschutzbunkers nicht ganz entsprach."

Zwei Schlafsofas (– ich kann mir nicht vorstellen, wie sie geschleppt und runtergebracht worden waren, da man die Aufzüge nicht benutzen sollte). Etliche Klappbetten. Ein Strandliegestuhl. Paletten aus einem nahe gelegenen Geschäft. Eine aus den Angeln gehobene Sperrholztür. Teppiche, Isomatten. Einfache Stücke Pappe und Styropor. Darüber wurden Decken, Wintermäntel, Jacken und Kissen geworfen. Es gab sogar ein paar Kindertische mit Stühlen. Kurz gesagt: Alles, was den Anschein eines akzeptablen Alltags erwecken könnte – hauptsächlich für Frauen jeden Alters und Kinder.

Natürlich war den meisten Erwachsenen klar, dass dieses technische Kellergeschoss den Anforderungen eines Luftschutzbunkers nicht ganz entsprach – hier gab es keinen Notausgang, der im Falle eines direkten Treffers einer Luftbombe auf das Haus, eines Einsturzes oder eines Brandes die Möglichkeit auf Rettung ohne Verluste hätte bieten können. Dafür gab es ein kleines, momentan mit Sperrholz verstopftes und mit Sandsäcken verbarrikadiertes Fenster unter der Decke, und darunter stand eine Trittleiter.

Von den Rohren war im Ernstfall ebenfalls nichts Gutes zu erwarten, wovon das Blubbern zeugte: Entgegen der Annahme des Klempners Igor waren doch nicht alle Einwohner des Neubaus evakuiert. Manche hatten ihre Wohnungen in den oberen Stockwerken nicht einmal verlassen, in der Hoffnung auf die Regel der zwei Wände ohne Fenster. (Diese besagt: Es müssen zwei Wände zwischen Menschen und der Richtung sein aus der ein Projektil kommen kann. Diese Anforderungen werden beispielsweise durch einen internen Korridor erfüllt.) Aber niemand versuchte, darüber nachzudenken, ob wir alle mit Scheiße und kochendem Wasser überflutet werden könnten.  

In unserem Unterschlupf war es im Vergleich zur Straße nicht kalt. Hinter den Sperrholzplatten mit dem Flickenvorhang versteckte sich eine Toilettenschüssel. Daneben ein Waschbecken. Nach militärischen Maßstäben die Bedingungen eines Fünf-Sterne-Hotels, wenn nur die Mücken, Urbewohner des Kellers, nicht gewesen wären.

"Suchen Sie sich einen Platz aus. Machen Sie es sich bequem", befahl ein Mann mit einer Baseballkappe, dessen "Trumpf"-Bett an der Kreuzung der silbern umwickelten Rohre lag.

"Der Hausverwalter, Wasja mit Vornamen. Er kehrt den Chef raus", flüsterte mir eine Frau in einem Mohairpullover zu. "Und ich bin Tonja."  

Tonja  

Woran sollte man sich abends in einem Luftschutzbunker erinnern, wenn nicht an ein Leben, das vor dem Krieg normal schien?

Antonina ist 68. Sie hat ein rundes, freundliches Gesicht, ihr Ukrainisch ist von einem Dialekt durchzogen, der für die Region Chmelnytskyj charakteristisch ist. Seit ihrer Jugend ist sie in Kyjiw, in einer Werkzeugmaschinenfabrik tätig, im Werkzeugbau, an der "heißen Leitung". Dort lernte sie ihren verstorbenen Mann kennen, an den sie sich zärtlich so erinnert:

"Er hat andere nie beleidigt! Nicht getrunken! Geld verdient! War ein geschickter Handwerker! Wir haben niemals fremde Leute beauftragt, unsere Wohnung renovieren zu lassen. Er zog sich allerdings gerne schön an. Er hatte dunklere Haut und schwarze Haare und wenn wir jemanden besuchen gingen, zog er seinen bordeauxroten Pullover an ..."

– "Warst du eifersüchtig?"

Sie blinzelt, lacht ein junges Lachen. Und stockt sofort, als wäre es etwas Unzüchtiges: Von draußen ist ein Grollen zu hören, gedämpft von den Wänden des Unterschlupfs. Sie legt eine Hand auf ihr Herz. Sie hat Todesangst. Schüchtern bringt sie das Gespräch auf eine neue Ebene:

"Haben wir Wolodja noch nicht verpasst? Schau auf deinem Handy, meins zeigt nichts an."

Mit Wolodja meint sie Präsident Selenskyj. Dessen Fernsehansprachen werden hier unabhängig von der Tageszeit mit voller Lautstärke angehört.

"Nur einmal ist sie ans Meer gefahren, nach Odessa, ihre Kinder hatten sie überredet, aber gefallen hat es ihr nicht: heiß, teuer, laut. Sie mag und kann singen."

Tonja hat die übliche Drei-Zimmer-Wohnung und eine kleine Rente. Dort wohnt sie mit Sohn und Schwiegertochter und ihrer erwachsenen Enkelin, ihrer unverheirateten Tochter Natascha und zwei Hunden, die ihr Ein und Alles sind. Mit ihrer Schwiegertochter kommt sie nicht gut aus – der Klassiker.

Sie verlässt nur selten ihren Mikrobezirk, am Chreschtschatyk, der Hauptstraße von Kyjiw, war sie zuletzt vor fünf Jahren:

"Ja, da gibt es alles für Reiche – Geschäfte, Restaurants."

Nur einmal ist sie ans Meer gefahren, nach Odessa, ihre Kinder hatten sie überredet, aber gefallen hat es ihr nicht: heiß, teuer, laut. Sie mag und kann singen. Sie erzählt, wie sie vom Werkschor zu verschiedenen Wettbewerben mitgenommen wurde, die goldene Zeit ... Nach Maßstäben russischer Propagandisten hätten Menschen in Tonjas Alter, mit ihrer Bildung und ihrem sozialem Status die Hauptunterstützer der russischen Invasion in der Ukraine sein müssen: sowjetische Mentalität, gewohnt, einer siegreichen Regierung nicht zu widersprechen und nur ein Minimum an Fragen zu stellen. Kurz gesagt: "kleine Leute". Aber sie überraschte:  

"Wir brachten Tüten mit Essen und warmer Kleidung zum Maidan, und wir lassen uns jetzt doch nicht unterkriegen?! Wir haben damals Molotow-Cocktails in Flaschen gegossen, so dass die ganze Hütte danach roch", ruft Tonja aus. "Sie werden daran ersticken!" (Es folgen Schimpfwörter.)

Sie erhebt sich, um Pfannkuchen für den ganzen Keller zu braten, den sie als "Speicher" bezeichnet. Ihre Pfannkuchen sind göttlich.

Vor Beginn der 24-stündigen Ausgangssperre kommt schweigend und düster Tonjas Sohn Andrej. Gemeinsam mit der Territorialverteidigung trägt er Betonklötze, lädt unzählige Sandsäcke auf Traktoren. Sie werden über die Fahrbahn des Siegesprospekts, eine der längsten Straßen der Hauptstadt, und auf umliegende Straßen gelegt und lassen nur eine Fahrbahn für Krankenwagen und Kleinlaster frei, die Lebensmittel in Geschäfte liefern. Barrikaden mit Schlupflöchern werden für den Fall gebaut, dass der Feind in die Stadt einbricht. Ihre Tochter Natascha verbringt die Nächte immer häufiger bei der Arbeit, einer privaten Nähwerkstatt. Nach einer Schicht nach Hause zu gehen, ist zu weit und zu gefährlich. Inzwischen näht die Werkstatt kugelsichere Westen nach Muster und steckt Titanplatten hinein.  

Andrej

Und jetzt zu der göttlichen Vorsehung, die ich zu Beginn erwähnt habe. Die Einzelunternehmerin Aljona, Direktorin der neuen Wohnungsbehörde, und ihre jungen Mitarbeiter sind Mitglieder einer der evangelischen Kirchen. Und um sie geht es.  

2014 erfuhr die Ukraine von Pastor Peter Dudnik. Seine Glaubensbrüder und er brachten unter Kanonendonner mit ihren eigenen Autos viertausend Anwohner der von Militanten der "russisch-orthodoxen Armee" eroberten Stadt Slowjansk in der Region Donezk an einen sicheren Ort. Die in den besetzten Gebieten verbliebenen Landsleute unterstützten sie nicht nur mit Gebeten, sondern auch mit Lebensmitteln und Medikamenten. Alles angesichts einer drohenden Rache. "Wir haben lange überlegt: Welche Prüfung, welchen Dienst hat Gott für uns persönlich vorbereitet, um unsere Kraft des Glaubens und der Liebe zu prüfen? Wir haben dem Waisenhaus, dem Hospiz geholfen", erzählte mir damals der Pastor. "Nein, zu wenig, nicht genug! Der Krieg hat seine Antwort gegeben."

Hinter der Tür mit dem Warnschild "Zutritt für Unbefugte verboten" (Schaltschrankraum) steht ein kleiner Elektroherd. In Schichten, morgens und abends, kochen Aljonas Kollegen warmes Essen: Oft Suppe, Borschtsch, Nudeln mit Schmalzfleisch, Buchweizen. Einen Teil der Vorräte brachten Einwohner des Kellers für den gemeinsamen Kessel mit, den Hauptteil aber stellten humanitäre Hilfen ausländischer Gemeinden der Kirche dar.

"Mehrere Abende hintereinander brachte das Militär, bis zu dem das Gerücht über unseren "Speicher" durchdrang, die Geretteten aus Butscha und Irpin hierher – um Atem zu holen."

"Aaaalso, meine Lieben, bitteschön!", verkündete Klempner-Koch Igor lautstark. Und vor der Tür stellte sich eine Reihe von Wartenden mit Schüsseln auf: die Kinder ganz vorne. Nicht alle Mütter haben die Kraft und das Geld bei Luftangriffen zum Einkaufen und dann nach Hause in die Küche zu rennen. Die Verpflegungsabteilung arbeitete während der Wochen der Evakuierung aus den durch die russische Armee zur Hölle gemachten Vorstädten Irpin und Butscha besonders aktiv.

Mehrere Abende hintereinander brachte das Militär, bis zu dem das Gerücht über unseren "Speicher" durchdrang, die Geretteten aus Butscha und Irpin hierher – um Atem zu holen. Eine Autobahn führt direkt von den geliebten Kurorten durch unseren Mikrobezirk. Auch dem Militär wurden fast gewaltsam "Bergmannspeisen" – belegte Brote – aufgenötigt. Für Flüchtlingskinder hielten wir vorgewärmte Betten bereit. Sie fielen hinein und schliefen ein, wie sie waren – in Jäckchen und Stiefeln. Die Suppe wurde kalt. Die Erwachsenen redeten halblaut, sie redeten und redeten:

"Im Keller ohne Licht, ohne Mobilfunkverbindung. Wasser knapp auf dem Eimerboden. Welcher Wochentag, welches Datum? Eine Granate traf das Haus, das Haus des Nachbarn brannte vollständig ab. Sie haben unser Versteck entdeckt … (nicht druckreif) ... sind gekommen, ich habe sie gebeten: ‚Lassen sie uns wenigstens zu Fuß raus, durch den Wald, wir haben doch ein Kind!‘ Sie antworteten: Man habe es ihnen nicht befohlen. Dann haben Unsere den ‚grünen Korridor‘ ausgehandelt. In meinem Hof, direkt am Tor, zwei … (nicht druckreif) … eingescharrt … Was bin ich denn, ein Bestattungsunternehmen?! Ich bringe meine Familie nach Tschop – dann habe ich Luft. Und sofort ins Militärkommissariat, in die Territorialverteidigung, wo man mich nur aufnimmt."

Andrej, den Sohn Aljonas, der Direktorin der "neuen Wohnungsbehörde", Student im zweiten Studienjahr an der Fakultät für Informatik der Nationalen Technischen Universität Kyjiw, beobachtete ich in verschiedenen Gestalten: Beim Dienst in der Küche, bei der Essensausgabe oder mit einem Buch. Er hatte bislang keine Gelegenheit, seine Studienzeit in ihrer ganzen Vielfalt zu erleben: zwei Jahre Fernunterricht, Covid.

Andrej ist einer von denen, die "politische Jungs" genannt werden. Geschichte, Philosophie sowie der Wunsch zu verstehen, warum die Ukraine als Staat seit dreißig Jahren nach ihrer Identität sucht: Sollen wir den westlichen Weg wählen? Oder im russischen Einflussbereich bleiben? Wie haben Oligarchen wie Kolomojskyj und Achmetow die Macht beeinflusst? Warum hat der "orangefarbene" Maidan zuerst gewonnen und später trotzdem gegen Janukowytsch verloren? Warum sind Massenproteste in Moskau jetzt unmöglich? Und was wäre, wenn Nemzow nicht getötet worden wäre, was wäre wenn Wjatscheslaw Tschornowil nicht getötet worden wäre? ...

Und ich erinnere mich: Im Herbst 2004 erblühte Kyjiw in orangen Farben, Hausmeister rissen diese Bänder von den Bäumen ab, sie sägten sogar ganze Äste ab, wenn sie die Bänder nicht entfernen konnten ...

"Ich war damals ein einjähriges Kind. Aber meine Mutter hat mir davon erzählt", nickt Andrej.

Er ist sich sicher, dass der Krieg gegen Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion "über dem Kopf der Unabhängigkeit der Ukraine schwebt":

"Nicht unter Putin, sondern unter Jelzin hat das alles begonnen, in einer versteckten Form. Jetzt haben wir vielleicht unsere letzte Chance. Es ist gut, dass die Ukrainer moralisch für die Herausforderungen bereit sind."

– "Es gibt auch genügend Menschen, die nicht bereit sind", merke ich an. "Die Angst vor dem Tod kann einen Menschen in ein Tier verwandeln ..."

– "Im Krieg ist es die Pflicht eines jeden Gläubigen, seine Nächsten zu trösten, egal ob sie gut oder böse sind."

An dieser Stelle endet das Gespräch. Der vierjährige Tollpatsch Wowa, der immer zuhört, rennt auf Andrej zu und umarmt ihn: "Und bin ich gut?"

Einander zu umarmen, wenn man Angst hat, das hat Andrej ihm beigebracht.

Lerotschka und andere Kinder

Von Woche zu Woche ändert sich die "Mannschaft", aber der Kern der ständigen Mitglieder ist aus einem Guss. Ein Teil der Leute ging und ließ Paletten, Decken an den Wänden und andere Schätze, die ihren Wert verloren haben, zurück: "Hurra, wir sind in Polen! In Bonn, noch auf der Durchreise, wir warten auf eine Entscheidung. Wahrscheinlich nach Kanada, Europa ist überfüllt ... Vielleicht sollen wir zurückkommen?"

Sie rufen ihre Nachbarn an, bei Handys ist meistens der Vibrationsmodus aktiviert. Laute Klingeltöne schrecken alle auf. 

Unfreiwillige Anwesenheit bei Dramen am Telefon erfordert Fingerspitzengefühl. Diejenigen, die Kyjiw verlassen haben, das im Vergleich zu Mariupol, Charkiw oder Tschernihiw sicher ist, gelten, wenn nicht als "Vaterlandsverräter", dann zumindest als Schwächlinge: "Meine Kleinen sind auch gestresst, na und?!"

"Sie rufen ihre Nachbarn an, bei Handys ist meistens der Vibrationsmodus aktiviert. Laute Klingeltöne schrecken alle auf."

Eine Zeit lang zählte ich mehr als zehn Kinder unterschiedlichen Alters in unserem "Speicher". Die lockige Sascha lernte neben dem Kinderwagen laufen und krächzte einer französischen Bulldogge und einem Jack Russell zu, die herumliefen. Zwei Teenager mit Kapuzen über dem Kopf, Rücken an Rücken sitzend, lasen demonstrativ pausenlos. Ihre Mutter (sie sind aus einem Villenviertel, also von weither angereist) holte aus ihrer Tasche eine Tüte Kekse, eine Flasche Wasser, einige Bücher – aus ihrer Hausbibliothek? Graham Greene, Der stille Amerikaner, erspähte ich auf einem Buchdeckel. Ein weiterer Teenager hatte ständig Kopfhörer auf: Damit ihn ja niemand belästigen würde. Eine Clique Rabauken aus der Grundschule spielte Verstecken und rannte hinter den bunten Vorhang, wo die Toilette war. Der Hausverwalter war empört: Gar keine Erziehung!

Die achtjährige Lera – ohnehin eine Primadonna – musste ihren Geburtstag im Keller feiern. Ihre ältere Schwester besorgte festliche Fähnchen, reihte sie an Bindfäden auf und befestigte eine Girlande an einem Rohr. Ihre Großmutter backte zwischen Beschießungen einen Honigkuchen, goss Saftgelee in Plastikbecher – als Bewirtung für die Gäste.

Etwas kapriziös und anspruchsvoll, wie es sich für eine Künstlerin gehört, hatte Lera am Abend angedeutet, dass sie Kosmetik als Geschenk bevorzugen würde, wenn auch "aus zweiter Hand". Sie bekommt fast seit ihrer Geburt Gesangsunterricht und wollte den Unterricht per Zoom mit einem Laptop fortsetzen. (Hier erinnerte ich mich an den neidischen Facebook-Post der russischen Schriftstellerin Tatjana N. Tolstaja: Man habe in Kyjiw, "in den Kellern", besseres Internet, als sie, die Schriftstellerin, in Moskau!) Die Mutter der Künstlerin mischte sich jedoch ein: "Rundherum ist Betonstaub, da reißen dir doch die Stimmbänder!" Aber Lera etwas zu verbieten, war dennoch unrealistisch:

"Gegessen? Wir fangen mit dem Konzert an", befiehlt sie den Gästen. Und singt einen neuen Hit, der jedem den Atem raubt:

"Schließen Sie den Himmel, schließen Sie den Himmel, wir müssen leben, wir müssen lieben! ..."  

Leras jüngerer Bruder ist ein Kind mit besonderen Bedürfnissen. Nachts schreit und krampft er auf der Matratze. Drei Dinge beruhigen ihn: Medikamente, eine magische Laterne, in deren Inneren ein buntes Muster aufblitzt und schimmert, und ein Kuscheltier – irgendetwas zwischen Hase und Katze aus der jüngsten humanitären Hilfe, die Freiwillige gebracht haben – in dessen Innern Xylophon-Melodien erklingen. Die bekannteste davon ist Beethovens "Ode an die Freude", die offizielle Hymne der EU. Der Junge sitzt auf dem Boden und hält den musikalischen Hasen-Kater umklammert.  

Wenn sie mir eine solche Geschichte vor dem Krieg in der Ukraine erzählt hätten, hätte ich sie wahrscheinlich nicht geglaubt. Deshalb glaubt es auch die Moskauer Schriftstellerin Tatjana N. Tolstaja nicht.

Wowa ist ein geselliger pausbäckiger Junge, der Rap und coole Turnschuhe liebt, und sein Vater ist an der Front. Bei Wowas Mutter liegen die Nerven blank, und sie kann ihren Blick nicht vom Smartphone losreißen und scrollt durch ihren Newsfeed. Auch Katjas Verlobter kämpft. Im Prinzip hat jeder jemanden in der Armee, in der Territorialverteidigung, in der Freiwilligenbewegung, in der Freiwilligenbrigade, die die Straßen Kyjiws in befestigte Gebiete verwandeln.

Wowa bittet um ein Blatt Papier und einen Stift: "Lass uns ein Männchen zeichnen!" Mit Ach und Krach bewältige ich die Aufgabe. Wowa fügt dem kleinen Männchen viele Striche hinzu.

"Weißt du, wer er ist? Soll ich es sagen?"

Und listig blickend flüstert er einen bekannten Nachnamen und einen Fluch in mein Ohr.

Wenn ein Tausendstel der Flüche auf Putin und andere Mörder beim Adressaten angekommen wäre, hätte kein Bunker den Präsidenten der Russischen Föderation gerettet. Aber vor Kindern schüttet man Hass weder auf Russisch noch auf Ukrainisch aus. Nur hinter der Eisentür des Schutzkellers, auf den Stufen, wo geraucht wird.  

Olga Musafirova ist Korrespondentin der Nowaja Gaseta in Kyjiv. Dieser Text erschien zuerst in der Nowaja Gaseta Europa, die Anfang Mai erstmals als Printausgabe in Lettland erschienen ist. In Russland hatte die kremlkritische Zeitung ihr Erscheinen vorerst eingestellt. Übersetzung aus dem Russischen von Mariia Kalus.  

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