False Balance

Verzerrte Darstellung

23.04.2021

Die Debatte um eine "False Balance" im Journalismus reißt nicht ab. Wie bei der Berichterstattung über den Klimawandel zeigt sich auch in der Corona-Pandemie: Unbelegte Behauptungen werden zu oft gleichberechtigt neben wissenschaftlichen Erkenntnissen abgebildet.Text: Michael Kraske Illustration: Francesco Ciccolella

Was soll Priorität haben: Ausgewogenheit oder Wahrhaftigkeit? (Illustration: Francesco Ciccolella)

Mitte Oktober vergangenen Jahres lief in der ARD-Infonacht ein Interview des MDR mit Sucharit Bhakdi. HR Info wiederholte das Gespräch am nächsten Morgen und stellte den pensionierten Epidemiologen der Universität Mainz vage als eine „in Wissenschaftskreisen umstrittene“ Person dar. Die Moderatorin versprach ihren Hörern „einen ganz anderen Blick auf die deutsche Corona-Politik“. Bhakdi war da längst kein Unbekannter mehr, sondern ein prominenter Kritiker, auf den sich sogenannte Querdenker gern beriefen. Im März hatte Bhakdi behauptet, dass sich Covid-19 lediglich in eine Liste von Erregern einreihe, die tödliche Atemwegserkrankungen bewirken können. Vergleichbar mit einem Grippevirus also. „Nicht weniger, aber auch nicht mehr“, so Bhakdi damals. Auf die Frage, ob mit einer zweiten oder dritten Welle zu rechnen sei, antwortete er seinerzeit: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Epidemie wieder aufflackert.“ Faktenchecker von Correctiv und ZDF bewerteten mehrere seiner Aussagen als unbelegt oder falsch. Trotzdem war er für den MDR einige Monate später wieder ein gefragter Experte.

In dem Interview im Oktober behauptet Bhakdi, das Coronavirus sei zwar noch da, verursache aber „keine schweren Erkrankungen“. Die Zahl von Menschen mit Covid-19 auf den Intensivstationen sei „verschwindend klein“. Es gebe überhaupt kein Infektionsgeschehen: „Also wie kann man sagen, die Epidemie ist noch da?“ Nur drei Wochen später begann in Deutschland der zweite Lockdown. Immer mehr Covid-Patienten mussten auf Intensivstationen behandelt werden. Mitte November starben dann hierzulande täglich mehr als 300 Menschen, die mit dem Virus infiziert waren. Mitte Dezember waren es an einigen Tagen sogar mehr als 900. Die tödliche zweite Welle der Pandemie, vor der zahlreiche Forscher:innen seit Monaten gewarnt hatten, war da. Sucharit Bhakdi aber durfte kurz vorher im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Entwarnung geben.

Der Kommunikationswissenschaftler Sven Engesser von der TU Dresden, der zum Thema False Balance forscht, hält es trotzdem nicht per se für falsch, einen prominenten Abweichler wie Bhakdi zu Wort kommen zu lassen: „Wenn man das aber macht, muss man auch zwingend sagen, dass es für viele Behauptungen keine Evidenz gibt.“ Wichtig sei, dass mangelhaft belegte Minderheitenmeinungen „kontextualisiert“ werden. Redaktionen müssten klarstellen, ob und wie solche Aussagen belegt sind. Außenseiterpositionen sollten unbedingt als solche benannt und eingeordnet werden. Der HR bat seine Hörer nach dem Interview mit Bhakdi öffentlich um Entschuldigung. Nicht nur, weil der Sender irreführenderweise die Fragen neu eingesprochen hatte: „Wir hätten darüber hinaus Herrn Bhakdi und seine Aussagen kritisch hinterfragen und einordnen müssen.“ Wobei offen bleibt, welche Relevanz ein solches Interview überhaupt hat. Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat dafür geworben, vernünftigen Stimmen künftig mehr Aufmerksamkeit zu geben.

Der journalistische Konflikt wird deutlich, wenn der Hessische Rundfunk in seiner Korrektur als Anspruch formuliert, sowohl unterschiedliche Seiten zu Wort kommen zu lassen als auch falsche Behauptungen einordnen zu wollen. Beides zusammen ist schwierig, weil offen bleibt, was Priorität haben soll: Ausgewogenheit oder Wahrhaftigkeit? Derzeit ist in der Branche heftig umstritten, wie viel Raum jenen zusteht, die ihre Meinungen nicht auf empirische Belege stützen oder gar eindeutig falsch liegen. Zuletzt beklagten sowohl renommierte Wissenschaftler wie der Virologe Christian Drosten als auch Wissenschaftsjournalist:innen wie Mai Thi Nguyen-Kim eine False Balance in der Berichterstattung. Wie groß ist also das Problem falscher Ausgewogenheit? Ist dieser Mechanismus nur bei Wissenschaftsthemen fragwürdig, und welche redaktionellen Korrekturen sind notwendig?

Prominent wurde eine journalistische False Balance zunächst in Bezug auf den Klimawandel diskutiert. Zuletzt sorgten die Ergebnisse des Forscherteams um Alexander Petersen von der University of California für Aufsehen. Das Team hatte 100.000 Artikel analysiert. Das Ergebnis: 386 ausgewählte „Klimawandelskeptiker“ waren häufiger Autor oder wurden öfter zitiert als 386 renommierte Klimaforscher:innen – sogar in Qualitätsmedien wie der New York Times. Und das, obwohl etwa US-Wissenschaftsforscherin Naomi Oreskes bereits im Jahr 2004 zeigen konnte, dass in 928 Beiträgen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften kein einziger Autor der Erkenntnis eines durch Menschen verursachten Klimawandels widersprochen hatte. Der Befund scheint eindeutig: Obwohl etwa 97 Prozent der Forscher:innen und Fachautor:innen (laut Fachzeitschrift der Akademie der Wissenschaften der USA) den menschengemachten Klimawandel für gesichert halten, werden regelmäßig sogenannte „Klimaskeptiker“ und „Klimaleugner“ gedruckt oder gesendet. Dadurch kann der Eindruck entstehen: Zwischen beiden Lagern steht es unentschieden, was ja nicht der Fall ist. US-Forscher Petersen fordert: „Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, diesen Leuten eine Sichtbarkeit zu geben, die leicht in falsche Autorität verdreht werden kann.“

Der Dresdner Medienforscher Engesser konnte mit einer eigenen Studie zeigen: Noch immer kommt die falsche Gewichtung beim Thema Klimawandel vor, wenn auch deutlich seltener als noch vor Jahren. Das Problembewusstsein ist offenbar gestiegen – auch durch transparente Selbstkritik. Als sich die BBC vor einigen Jahren für ein Interview mit dem „Klima-Skeptiker“ Nigel Lawson entschuldigte, berichteten darüber auch hierzulande die Medienseiten.

Die Frage, wie inhaltlich richtig zu gewichten ist, stellt sich täglich. Der erfahrene Wissenschaftsjournalist Jan Schweitzer aus dem Ressort Wissen der Zeit berichtet, wie er sich einmal intern gegen eine falsche Ausgewogenheit beim Thema Homöopathie ausgesprochen habe. Denn Homöopathie habe zwar den berühmten Placebo-Effekt, aber „keinen nachweisbaren Nutzen. Die Studienlage dazu ist eindeutig. Darüber zu streiten wäre so, als ob man ernsthaft diskutieren möchte, ob der Mensch fliegen kann oder nicht.“ Schweitzer räumt ein, letztlich selbst inkonsequent gehandelt zu haben, weil dann doch ein Streitgespräch geführt wurde: „Das war aber insofern vertretbar, weil es um die konkrete Frage ging, ob Krankenkassen homöopathische Behandlungen bezahlen sollten.“ Wenn die Evidenz eindeutig sei, dürfte jedoch bereits geklärtes Grundlagenwissen nicht immer wieder infrage gestellt werden, so Schweitzer. Das gelte für die Homöopathie genauso wie für die Schädlichkeit des Rauchens oder den Klimawandel. Der Zeit-Redakteur sieht die Gefahr, ansonsten Alternativen zu verbreiten, „die eigentlich keine sind“. Mit gravierenden Folgen. So würden bei medizinischen Behandlungen immer wieder wirksame Methoden unterlassen, weil sich Patienten für fragwürdige alternative Verfahren entscheiden.

"Was soll Priorität haben: Ausgewogenheit oder Wahrhaftigkeit? Derzeit ist in der Branche heftig umstritten, wie viel Raum jenen zusteht, die ihre Meinungen nicht auf empirische Belege stützen oder gar eindeutig falsch liegen."

Auch Medienwissenschaftler Engesser warnt vor Fehlentwicklungen. So führe eine falsche Gewichtung dazu, „dass sich falsche Vorstellungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen bilden und verfestigen“. Zudem sei es berufsethisch geboten, dass der Journalismus seine Funktion als Einordner erfülle: „Genau davor scheuen sich aber viele in den Redaktionen, weil sie glauben, eine notwendige Neutralität aufzugeben, wenn sie Auffassungen unterschiedlich gewichten.“ Den Ansatz, immer neutral sein und alle zu Wort kommen lassen zu wollen, nennt Engesser „zwar gut gemeint, aber nicht wirklich gut“. Redaktionen dürften sich nicht scheuen, sachlich und nüchtern Informationen zu prüfen, einzuordnen und zu erklären. Anfällig, falsch zu gewichten, sei nicht der harte Kern gut ausgebildeter und informierter Fachjournalist:innen, sondern die vielen Generalisten: „Da werden komplexe Themen oft so behandelt, dass vorherrschenden Thesen möglichst extreme Gegenpositionen entgegengehalten werden.“ Mangelnde Sachkenntnis, Zeitdruck und der Ansatz, in einer polarisierten Gesellschaft keinen ausschließen zu wollen, begünstigen diesen Trend.

Gerade bei komplexen oder emotional aufgeladenen Themen ist die Versuchung groß, einfach das ganze Spektrum von Meinungen abzubilden. Um verlässlich zwischen richtigen und falschen Informationen unterscheiden zu können, bedarf es ausreichender Ressourcen. Vivian Pasquet kann es sich als Geo-Redakteurin leisten, tief in Recherchen einzutauchen und Themen breit auszuleuchten. Als sie anfing, eine große Geschichte über das Impfen zu recherchieren, dominierten in der Tagespresse vor allem Service-Artikel mit dem Tenor, Impfen sei ohne größere Risiken möglich. In der angeblichen Fachliteratur sei False Balance, also ein Nebeneinander von Fakten und unbelegten Meinungen, „erschreckend weit verbreitet“. Pasquet: „Angesichts der weit verbreiteten Zweifel und Kritik am Impfen war klar, dass ich mich auch damit beschäftigen muss.“

"Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, diesen Leuten eine Sichtbarkeit zu geben, die leicht in falsche Autorität verdreht werden kann." US-Forscher Alexander Petersen

Ihr sei es aber darauf angekommen, nur nachvollziehbare Zweifel zu berücksichtigen. Also nicht, ob es die Masern wirklich gibt, sondern ob es gute Gründe dafür gibt, auf spezielle Impfungen zu verzichten. Bei ihrer Recherche stieß Pasquet im Dokumentarfilm Eingeimpft auf einen spannenden Gesprächspartner, der als ehemaliger Mitarbeiter des Paul-Ehrlich-Instituts zunächst seriös wirkte. „Im Film taucht er mit einer Aussage auf, wonach es aufgrund bestimmter Impfungen Todesfälle gegeben habe“, sagt Pasquet. Ein starker Kronzeuge für alle Impfskeptiker. Die Geo-Redakteurin ging dem Vorwurf nach, befragte Experten, unter anderem von der Ständigen Impfkommission, die den Vorwurf plausibel entkräften konnten: „Der harte Vorwurf hat sich durch Recherche als falsch erwiesen, so dass ich diese Quelle schließlich als Experten gestrichen habe.“

Zeit-Redakteur Schweitzer ergänzt, erfahrungsgemäß lägen extreme Außenseiterpositionen meistens daneben. Gleichwohl sind gerade die besonders gefragte Gesprächspartner für Interviews und Talkshows. Schwierig werde es, so Schweitzer, wenn in Talkshows nur noch bestimmte Positionen oder Rollen besetzt werden. Auch Medienforscher Engesser kritisiert die gängige Praxis bei der Expertenauswahl. Bevorzugt würden jene, die in ähnlichen Formaten schon mal gut performt hätten: „Ko-Orientierung ist mitunter also wichtiger als Expertise.“ Das heißt: Journalist:innen orientieren sich bevorzugt an anderen Journalist:innen.

Noch schwieriger als bei Themen mit eindeutiger Evidenz ist es im Tagesgeschäft mit hochkomplexen, dynamischen Prozessen. In der Corona-Pandemie zeigt sich das in besonderer Weise. Der Journalismus wolle stets Einfachheit und Sicherheit, so Engesser. Bei Corona müsse er dagegen mit großer Tragweite bei maximaler Unsicherheit berichten. Das macht anfällig für Fehler und falsche Schwerpunkte. Dagny Lüdemann leitet bei Zeit Online die Ressorts Wissen und Digital. Beim Thema Corona sieht sie die Aufgabe darin, „die Komplexität in verständliche Beiträge umzusetzen und den Userinnen und Usern Rat und Orientierung zu geben“. Mit analytischen Erklär­stücken, aber auch mit ganz anschaulichen Grafiken, Videos und Artikeln, die das Grundwissen wiederholen, weil neue Debatten immer auch neue Zweifel aufkommen lassen. Sogar an Tatsachen, die längst unstrittig sind. Von Anfang an sei auch wichtig gewesen, transparent zu machen, was noch nicht bekannt ist. Immer wieder versuchten Forschende, Politiker oder Journalistinnen, Wissenslücken mit unbelegten Behauptungen aufzufüllen. „Unser Job ist es, öffentlich geäußerte Thesen aufzugreifen und vermeintlich einfache Antworten mit Fachwissen zu überprüfen. Häufig entpuppt sich dann eine starke Minderheitenmeinung als Falschinformation“, so Lüdemann. Medienforscher Engesser kritisiert, dass Spekulationen in der Corona-Berichterstattung zu viel Raum einnehmen: „Das A und O ist, Fakten und Meinung strikt zu trennen.“ Wenn Expert:innen das unterlassen, sind Journalist:innen gefragt.

"Der Spiegel kultiviert in besonderer Weise den Ansatz, alle zu Wort kommen zu lassen. So auch Attila Hildmann, der in der Pandemie durch Verschwörungs­erzählungen und antisemitische Aussagen bekannt wurde und gegen den die Polizei ermittelt."

Der Redaktionsleiter des Science Media Centers Germany, Volker Stollorz, hat in seiner Analyse des medialen Pandemie-Jahres für die Zeit betont, dass sorgfältige Recherchen und die strenge Suche nach echter Expertise verlässliche Orientierung garantieren – und eben nicht starke Meinungen. In vielen Ländern habe sich geradezu eine „Kakophonie der Stimmen“ erhoben, die mehr verwirrt als aufgeklärt hätten. Abweichende Meinungen vermeintlicher Experten würden so lange medial verstärkt, bis bei einer wachsenden Minderheit wichtige Gewissheiten wankten. Journalist:innen seien zudem stets versucht, dem Publikum Forschende mit erwünschten Botschaften zu präsentieren, die emotional „attraktive Minderheitenpositionen“ vertreten dürfen. Als Beispiel nennt er den Virologen Hendrik Streeck.

Auch Dagny Lüdemann beobachtet mediale Dynamiken, die eher verwirren als aufklären. Jemand sage beispielsweise in einer Talkshow, dass Kinder offenbar seltener an Covid-19 erkranken, was ja insbesondere für jüngere Kinder nicht falsch sei. Darauf folgten dann aber Agenturmeldungen und Tweets mit der Botschaft, Kinder spielten bei der Ausbreitung des Virus kaum eine Rolle. Daraus leiten Politiker bisweilen die Forderung ab, Schulen auch deshalb zu öffnen, weil das nach Ansicht von Forschern ja ziemlich sicher sei. „Spätestens ab diesem Grad der Verkürzung und Zuspitzung wird das Ganze zu einer Falschinformation“, so Lüdemann. Der Journalismus sei gefordert, solche Aussagen mit Evidenz zu flankieren und einzuordnen, damit der Kontext klar wird. Gefährlich werde es, wenn derartige Fehlinterpretationen der Forschungslage in die politische Debatte einfließen und als angeblich wissenschaftlich belegtes Argument etwa für Schulöffnungen missbraucht werden. Wie groß der Anteil von Schulkindern am Infektionsgeschehen wirklich ist – dazu ist die Datenlage bis heute ungenügend.

Zeit-Kollege Schweitzer beobachtet zudem einen zunehmenden Druck auf Journalisten durch soziale Medien, sich auf eine Seite zu schlagen. Wenn etwa auf Twitter vehement eingefordert wird, sich eindeutig für oder gegen einen harten Lockdown auszusprechen. Für oder gegen Schulschließungen. Anders als beim Klimawandel sei das aber bei hochkomplexen Themen mit unterschiedlichsten Faktoren nicht immer möglich: „Natürlich würde ich mich eindeutig für eine Seite entscheiden, wenn auch die Fakten eindeutig wären.“ Als Ausweg rät Medienforscher Engesser dazu, verschiedene Szenarien durchzuspielen und die jeweiligen Folgen aufzuzeigen. Ein Beispiel: Öffnet man die Schulen bei einer Inzidenz von 60, während sich ansteckendere Virus-Mutationen verbreiten, ist folgender Verlauf der Inzidenz-Werte wahrscheinlich. „Solche Projektionen sind eine gute Möglichkeit, das komplexe Themen-Knäuel zu entwirren“, so Engesser.

In einem zunehmend gereizten gesellschaftlichen Klima stürzen sich manche Redaktionen aber lieber auf Widersprüche, die gar keine sind. Ein Kinderarzt, der in seiner täglichen Praxis selten schwer erkrankte junge Covid-19-Patienten erlebt, liefert ganz andere Befunde als ein Modellierer, der Computermodelle über Ausbruch und Verbreitung des Virus erstellt. „Wenn diese Experten zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, dann ist das kein Streit, und es lügt hier auch niemand“, sagt Dagny Lüdemann. „Ich halte es für einen Fehler, daraus zu konstruieren: Forschende streiten über Rolle von Kindern in der Pandemie. Da geht es im Tagesgeschäft manchmal furchtbar durcheinander. Erst in der Gesamtheit von Einschätzungen mehrerer Forschungsfelder entsteht ein wertvolles Bild.“

Die Redakteurin findet es problematisch, wenn in einigen Medien versucht wird, Streit zwischen Befürwortern und Gegnern bestimmter Lockdown-Maßnahmen aufzubauschen oder Forschende und Politiker pauschal verfeindeten Lagern zuzuordnen. „Durch das reflexhafte He­rauskitzeln von Gegenthesen zu jeder Äußerung, die eine Expertin oder ein Politiker macht, wird der Eindruck erweckt, am Ende sei alles nur eine Frage der Haltung. Dabei sollte es vor allem um Evidenz gehen.“ Etwa, dass Abstand, Masken und Kontaktreduktion die Pandemie bremsen. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, ist dann wieder eine ganz andere Frage.

Zu Beginn der Pandemie hat das Publikum das rasant recherchierte Fachwissen begierig aufgenommen. Zwischenzeitlich hatte sich die Berichterstattung über Corona danach stark auf die lauten Zweifler und selbst ernannten Querdenker fokussiert. Während die Zustimmung zu den politischen Corona-Maßnahmen durchweg hoch blieb, konnte durch Medienkonsum der trügerische Eindruck entstehen, eine Mehrheit verhalte sich unvernünftig oder torpediere notwendige Maßnahmen. „Dieser verzerrten Wahrnehmung sind wir bewusst entgegen getreten“, sagt Lüdemann, mit Artikeln, die etwa „die vielen Stimmen der Vernunft“ vorstellten. Sie warnt davor, den lauten, aufgeregten Stimmen zu viel Raum zu geben. Gerade weil die Redaktionen Druck verspüren, wenn alle anderen etwa über die Querdenker berichten, sei es notwendig, richtig zu gewichten, um eine Schieflage zu vermeiden. Also klarzustellen, dass die Mehrheit notwendige Schutzmaßnahmen mitträgt und nur eine kleine Minderheit die Regeln für sinnlos hält. Sie teile den Grundgedanken, dass Meinungsvielfalt die Demokratie stärke, so Lüdemann, aber wenn es um wissenschaftliche Erkenntnis gehe, müsse eine evidenzbasierte Position anders gewichtet werden als eine unbelegte Meinung: „Solche Gegensätze im Verhältnis 50 zu 50 abzubilden, halte ich für eine gefährliche Verzerrung.“

Zumal falsche Informationen oftmals kein Zufall, sondern beabsichtigt sind. Wie sich Demokratien gegen bewusste Desinformation schützen können, ohne die Meinungsvielfalt einzuschränken, hält der Wissenschaftsjournalist des Jahres 2020, Volker Stollorz, für eine der größten Herausforderungen in der digitalen Öffentlichkeit. Er wertet es als Niederlage, dass es nicht gelungen sei, dem Publikum den breiten fachlichen Konsens über die drohende zweite Pandemie-Welle im Winter zu vermitteln. In vielen Medien sei der Reflex übermächtig gewesen, jede wissenschaftliche Erkenntnis mit einer Gegenposition zu kontern. Immer häufiger würde Wissenschaft populistisch vereinnahmt. Die „Händler des Zweifels“, wie er sie nennt, schafften es, die Suchkosten für verlässliche Information zu erhöhen und gesicherte Erkenntnisse mit gefühlten Wahrheiten zu erschüttern. Im Ergebnis konkurrieren professionelle Rechercheergebnisse mit diffusen Bauchgefühlen.

Seit Jahren wachsen innerhalb liberaler Demokratien Spannungen und Konflikte. Egal, ob es um Migration, Brexit, Trump oder Corona geht. Weltweit nehmen zudem Angriffe auf die Pressefreiheit zu. In den aufgeheizten gesellschaftlichen Debatten entscheiden sich viele Redaktionen für einen vermeintlichen Königsweg: alle zu Wort kommen lassen. Pro-und-Kontra-Formate haben auch deshalb Hochkonjunktur. Der Ansatz kommt aus dem amerikanischen Politjournalismus. „Obwohl es hierzulande diese eindeutige Polarisierung so nicht gibt, hat man das mehr schlecht als recht auf die deutschen Verhältnisse übertragen“, sagt Medienforscher Engesser. Aus Angst, bestimmte politische Gruppen nicht zu hören. Das sei zwar nachvollziehbar, aber letztlich müssten eben doch Relevanz und Faktenlage bestimmend bleiben. „Absolute Neutralität wahren zu wollen, ist der falsche Weg, weil dadurch die Gefahr besteht, Inhalte falsch zu gewichten“, sagt Engesser.

Wie sinnvoll es ist, alle Akteure gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen und differenzierte Positionen auf ein Pro und Kontra zu reduzieren – diese Kernfragen stellen sich nicht nur im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Eher unstrittig ist, dass polarisierende Formate durchaus nützlich sein können – sogar wenn es um ein ethisches Dilemma wie etwa die Zulassung von Sterbehilfe geht. Vor einer politischen Entscheidung ist es unerlässlich, Argumente von Befürwortern und Gegnern abzuwägen und zu diskutieren. Doch Polarisierung funktioniert nicht immer. Vor einiger Zeit machte die Zeit ein Pro und Kontra über private Seenotrettung im Mittelmeer. Ein Foto zeigte Flüchtende auf einem Boot. Darüber der Titel: „Oder soll man es lassen?“ Dafür gab es massive Kritik. Der gravierende Vorwurf: Das Blatt habe Menschenleben zur Disposition gestellt und dadurch die Menschenwürde relativiert. Das verbietet sich im Journalismus. „Journalisten verteidigen die Demokratie und die Würde aller Menschen“, so der US-Journalist Jay Rosen.

Die Berichterstattung über Donald Trump wiederum verdeutlicht, wie fragwürdig das Mantra journalistischer Neutralität ist. Nach dessen Wahlniederlage wiederholte Trump bekanntlich ständig unbelegte Behauptungen über einen angeblichen Wahlbetrug und stachelte seine Anhänger damit zum Sturm auf das Kapitol an. Leitmedien wie MSNBC und CNN reagierten kurz nach der Wahl auf offenkundige Lüge und Propaganda, indem sie beispielsweise die Übertragung einer Pressekonferenz von Trump unterbrachen oder zumindest mit Inserts darüber aufklärten, dass dessen Aussagen von keinerlei Evidenz gedeckt waren. Der scheidende Chefredakteur der Washington Post, Martin Baron, stellt im Spiegel-Interview selbstkritisch fest: „Wir hätten Trumps Lügen schon früher offener ansprechen müssen.“ Zudem erteilte er der populistischen Forderung an seine Zunft nach Neutralität eine deutliche Absage: „Objektivität heißt nicht, neutral zu sein oder immer beide Seiten wiederzugeben.“ Gute Berichterstattung bedeute vielmehr, „direkt, ehrlich und unbeirrt“ die Ergebnisse einer professionellen Recherche zu veröffentlichen.

"Gerade bei komplexen oder emotional aufgeladenen Themen ist die Versuchung groß, einfach das ganze Spektrum von Meinungen abzubilden. Um verlässlich zwischen richtigen und falschen Informationen unterscheiden zu können, bedarf es ausreichender Ressourcen."

Das Tagesgeschäft sieht allzu oft anders aus. Auch nach dem Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol verbreiteten diverse Medien weiterhin unreflektiert die Botschaften des abgewählten Präsidenten. So verpackte der Spiegel Trumps Schutzbehauptung über die eigene Rolle vor den Ausschreitungen, als er seine Anhänger dazu aufgerufen hatte, zum Kapitol zu gehen, in eine Online-Titelzeile: „Trump hält seine Rede für ‚absolut angemessen‘“. Relevanter wäre gewesen zu erfahren, dass sich diverse Angreifer auf den Präsidenten beriefen und bekundeten, dessen Willen zu exekutieren. Auch andere Medien wie FAZ und Zeit gaben Trumps eigene Worte in ihren Online-Schlagzeilen wieder.

Der Spiegel kultiviert jedoch in besonderer Weise den Ansatz, alle zu Wort kommen zu lassen. So auch Attila Hildmann, der in der Pandemie durch Verschwörungserzählungen und antisemitische Aussagen bekannt wurde und gegen den die Polizei ermittelt. Im Sommer widmete das Magazin dem radikalisierten Koch ein Porträt. Formal knüpft der „Waldspaziergang mit Attila Hildmann“ an ein Format an, das der Spiegel bereits mit dem AfD-Politiker Björn Höcke erprobt hat: menschelnde Beobachtungen und Betrachtungen des radikalen Protagonisten bei einem Ausflug im Wald.

In dem Porträt darf Hildmann seinen Hund „Süßer“ und „kleiner Racker“ nennen. Einen markigen Spruch des Verschwörungserzählers hielt die Redaktion sogar für eine gelungene Überschrift: „Seit 75 Jahren hat sich in Deutschland keiner so aus dem Fenster gelehnt wie ich.“ Man kann das als Anspielung auf Adolf Hitler verstehen.

Geo-Redakteurin Vivian Pasquet regt an, dass der Wissenschaftsjournalismus durchaus zum Vorbild für andere Ressorts werden könne: „Ich würde mir wünschen, dass wir so selbstbewusst sind, Spinner zu ignorieren.“ Nicht jede Unmenschlichkeit müsse publiziert werden. Es stelle sich durchaus die Frage, ob Hildmann mit seinen unmenschlichen Aussagen nicht auch wegen der umfangreichen Berichterstattung so groß geworden sei und „ob es sinnvoll ist, über einen Waldspaziergang mit ihm eine Reportage zu schreiben“.

In der digitalen Version gibt der Spiegel implizit die Antwort, warum er das Genre des schaurigen Polit-Porträts vor Waldkulisse pflegt – und dass es dabei eher nicht um Relevanz geht. Der Vorspann preist den Artikel mit dem Slogan an: „Einer der meistgelesenen Spiegel+-Artikel des Jahres.“ Die Debatte um falsche Ausgewogenheit im Journalismus hat gerade erst begonnen.

Michael Kraske arbeitet als Journalist und Buchautor (Tatworte) in Leipzig. Francesco Ciccolella ist Illustrator und Grafiker in Wien.

Hinweis: Die im Text getroffenen Aussagen zur Rolle von Kindern bei der Ausbreitung der Pandemie bilden den Recherchestand bei Redaktionsschluss ab, bevor Fallzahlen und Inzidenz auch bei Kindern stark angestiegen sind.

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