Wie machen wir den Journalismus widerstandsfähiger?

Wenn das neue Format der Topfpflanze nicht gefällt

05.08.2021

Wie entstehen neue journalistische Formate? Mark Heywinkel hat die Formatentwicklung zu seinem Beruf gemacht. Heywinkel ist Leiter der Formatentwicklung bei Zeit Online, er sagt: Es braucht Raum, verschiedene Ideen zu entwickeln. Und: Auch die beste Idee kann scheitern. Diese von Matthias Daniel und Stephan Weichert herausgegebene Reihe "Wie wir den Journalismus widerstandsfähiger machen" ist eine Kooperation von Vocer und dem journalist. Text: Mark Heywinkel

"Journalistische Formatentwicklung ist ein interdisziplinärer Job", sagt Mark Heywinkel. (Foto: Bahar Kaygusuz)

Nirgendwo sonst finden Journalist*innen mehr Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, als im Digitalen. Diverse Technologien und Plattformen bieten zig Erzählformen mit neuen Zugängen zu Themen, Protagonist*innen und Handlungsorten. Historische Ereignisse wie die Mondlandung lassen sich per VR-Animation visualisieren, die Folgen von Hurrikans in 3D-Modellen abbilden oder komplexe Wirtschaftsfragen in Newsgames darstellen.

Das Digitale ist ein Spielplatz für Kreative – und in der Regel mangelt es Journalist*innen nicht an Ideen, sich darauf auszutoben. Allerdings können digitale Experimente, die oftmals zusätzlich zum redaktionellen Tagesgeschäft gestemmt werden müssen, mit hohem Aufwand und Kosten und Druck verbunden sein. Hier hilft die journalistische Formatentwicklung: Sie unterstützt und leitet Journalist*innen zielgerichtet durch die Ideenfindung und Produktion neuer Einfälle.

Sollte ein Radiosender ein morgendliches Nachrichten-Update in der Clubhouse-App starten? Kann ein Sportressort Sensordaten sammeln, um eine Geschichte übers Joggen spannend zu erzählen? Ließe sich ein politisches Stück auch als Newsgame für Oculus Rift umsetzen?

Journalistische Formatentwicklung stellt solche Überlegungen auf den Prüfstand. Sie untersucht, auf welchen Plattformen und mit welchen Ressourcen journalistische Erzählungen möglich und überhaupt sinnvoll sind. Sie kundschaftet Zielgruppen aus und analysiert Konkurrenzangebote. Schließlich formuliert sie konkrete Formate, bestimmt Ziele und baut Workflows auf, um den neuen Ideen ein hoffentlich langes Leben zu ermöglichen.

Die Vielzahl der Aufgaben zeigt: Journalistische Formatentwicklung ist ein interdisziplinärer Job. Er bedient sich optimalerweise sowohl des klassischen journalistischen Handwerks als auch des Projektmanagements. Der Umfang der Aufgaben zeigt auch: Formatentwicklung ist kein Nebenbei-Job. Dennoch müssen Redaktionen nicht zwangsläufig Format- oder Innovationsteams gründen sowie aufwendige Design-Thinking-Schulungen durchführen, um Formatentwicklung seriös zu betreiben. Natürlich schadet all das nicht. Aber um eine ressourcenschonende, nachhaltige Entwicklung digitaler Formate aufzusetzen, hilft es zu Beginn bereits, wenn die Verantwortlichen Antworten auf folgende fünf Fragen formulieren können.

1 Wie grün ist unsere Wiese?

Formatentwicklung beginnt nicht erst mit einer Idee, sie forciert bereits deren Entstehung. Wie sich Kreativität anregen lässt, dafür gibt es Vorschläge wie Sand am Meer – und alle sind sie schlecht, und alle sind sie gut.

Für manche Teams ist es aussichtsreich, interaktive Workshops zur Ideenfindung durchzuführen. Sinnvolle Workshop-Formate für Innovationsmeetings hat beispielsweise die Business School Hyper Island in einer frei zugänglichen Toolbox gesammelt. Ein Workshop nach dem „Mash-Up Innovation“-Prinzip etwa fordert die Gruppe auf, zu drei Themenfeldern Assoziationen zu sammeln und die Gedanken später in Kleingruppen zu kombinieren, um neue Dienste zu entwickeln.

Ein anderer Ansatz ist es, auf starre Meeting-Strukturen zu verzichten und Journalist*innen bei einem lockeren Brainstorming das zu ermöglichen, was im Berufsalltag häufig fehlt: uneingeschränktes, freies Denken.

Als die Journalisten Daniel Fiene, Dennis Horn und Sebastian Pähler herausbekommen wollten, wie sie ihren Podcast Was mit Medien weiterentwickeln könnten, holten sie sich Hilfe beim Radio-Trainer Christoph Flach und machten aus dem Brainstorming direkt eine Podcast-Episode. Darin empfiehlt Flach, zu Beginn einer Ideenentwicklung nicht die Machbarkeit zu bedenken: „Ihr dürft alles fordern, ihr dürft alles sagen, ihr dürft eure stillen Träume hier ausleben.“ Ob sich die Einfälle umsetzen ließen, könne man später noch gucken.

Auch das kann zielführend sein. Eine ressourcenschonende Formatentwicklung kennt ihre Redaktion und weiß, mit welcher Methode sich am besten Ideen sammeln lassen. Ebenso weiß sie einzuschätzen, wie grün die Wiese sein sollte, auf der das Ideensammeln stattfindet. In Redaktionen existieren grüne Wiesen selten, Umsetzbarkeit spielt leider doch von Beginn an eine essenzielle Rolle. Deshalb ist die Formatentwicklung gut damit beraten, bereits in der Einladung zu einem Workshop die Wiese klar abzustecken – etwa so: „Wir wollen ein Angebot für eine junge Zielgruppe zwischen 16 und 20 Jahren entwickeln. Dafür wollen wir einen Instagram-Kanal starten. Er soll sich mit dem Thema Film und Serien beschäftigen.“

Erwartungsgemäß werden an einem solchen Workshop vor allem Journalist*innen teilnehmen, die sich mit Filmen und Serien auskennen, die Instagram kennen und sich für die Lebenswelt junger Menschen interessieren – oder gezielt zu diesen Themen herumnörgeln wollen. Und genau mit diesen Leuten – den Expert*innen wie den Kritiker*innen – will man für eine ergiebige Ideenfindung auf einer Wiese stehen.

2 Die gleiche Vorstellung von einem Fahrrad?

2009 begann der italienische Künstler Gianluca Gimini, Freund*innen und Unbekannten auf der Straße den Auftrag zu geben: Zeichne ein Fahrrad! Das Überraschende an dem Projekt: Obwohl natürlich jede*r Fahrräder kennt oder eines besitzt und regelmäßig fährt, entstanden die kuriosesten Zeichnungen.

Manchmal glaubt der Mensch, eine klare Vorstellung von etwas zu haben, obwohl die Realität deutlich davon abweicht. So ist es mit Fahrrädern ebenso wie mit Ideen. Sobald ein Team eine Idee für ein neues journalistisches Format ausgearbeitet hat, ist es essenziell zu prüfen, ob die Teammitglieder tatsächlich die gleiche Vorstellung von dieser Idee haben.Ein guter Weg, die Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen, ist es, ein gemeinsames Mission Statement zu formulieren: „Was wollen wir machen? Für wen machen wir es? Welchen Zweck erfüllt es?“

Gibt die Formatidee es her, wie im Fall des Instagram-Accounts über Filme und Serien, kann das Team sie auch zeichnen: Jede*r aus der Gruppe visualisiert, wie er*sie sich zwei, drei Posts für junge Filmfans vorstellt – und die Symbiose dieser Zeichnungen wird in A1 gedruckt und in der Redaktion aufgehängt.

3 Eine Topfpflanze namens Nora?

Je tiefer man in der eigenen Idee versinkt, desto besser kennt man sie – und desto intensiver ist man auch davon überzeugt, dass die Idee gut ist. Die Formatentwicklung überlässt die finale Bewertung einer Idee aber nicht den Ideengeber*innen, sondern der Zielgruppe.

Man stelle sich vor: Das Team, das am Instagram-Account für Film- und Serienfans werkelt, versteift sich auf die Idee, Filmklassiker vorzustellen, die man gesehen haben muss: Citizen Kane, Der Pate, Metropolis. Das Team hat dabei völlig aus den Augen verloren, dass die Zielgruppe zwischen 16 und 20 womöglich mit dem klassischen Filmkanon nur noch wenig anfangen kann und möchte. Dieses Projekt wird voraussichtlich scheitern.

"Die Formatentwicklung muss Journalist*innen dabei helfen, sich immer wieder in die Schuhe der Zielgruppe zu stellen."

Die Formatentwicklung muss Journalist*innen dabei helfen, sich immer wieder in die Schuhe der Zielgruppe zu stellen. Das kann gelingen, indem man wie im Marketing einen Persona-Steckbrief entwickelt, sich also eine durchschnittliche Person aus der Zielgruppe imaginiert. Am besten geschieht das auf Basis von Daten, welche die Formatentwicklung zuvor gesammelt hat: „Wir wissen, dass sich unter unseren User*innen vornehmlich weibliche Serienfans befinden. Als unsere Persona für die Formatentwicklung legen wir daher Nora fest, sie ist 18 Jahre alt, fängt gerade an zu studieren, streamt am liebsten ab 20 Uhr, vor allem auf Netlix, am liebsten Horrorserien …“

Um immer wieder an die Persona Nora und ihre Bedürfnisse zu denken, hilft es, Nora an Meetings teilhaben zu lassen – nicht nur als Gedanken im Hinterkopf, sondern materiell und möglichst prominent. Eine große Topfpflanze kann da Wunder wirken: Wenn sie zu jeder Runde mitgenommen und auf einen Platz neben das Team gesetzt wird, können die Kolleg*innen gar nicht anders, als sich ständig zu fragen: Machen wir hier tatsächlich etwas, das unserer Topfpflanze respektive Persona Nora gefallen würde?

4 Wie die Lust am Weitermachen bewahren?

Ist die Geburt einer Idee bewältigt und ihre serielle Produktion gewährleistet, ist der Job der Formatentwicklung nicht erledigt. Im Gegenteil müssen die Formatentwickler*innen ein neues Produkt wie den Film- und Serien-Account nun gemeinsam mit dem Team regelmäßig evaluieren: „Haben wir die prognostizierten Abonnent*innenzahlen erreicht? Funktionieren Einzelbilder oder Karussellposts im Feed besser? Wie kann die Click-Through-Rate der Storys gesteigert werden?“

Gegebenenfalls muss die initial entwickelte Strategie nachjustiert werden. Das gelingt nur, wenn sich keine träge Routinestimmung einschleicht und sich das Team die Lust am Weitermachen bewahrt. Um die Gruppe zu motivieren, den Wissenstransfer zu fördern und Erkenntnisse zu dokumentieren, bietet es sich an, dass die Formatentwicklung regelmäßige Rückblicke anstößt – im Fall des Instagram-Accounts zu Beginn wöchentlich.

Wie sich ertragreiche Retrospektiven gestalten lassen, zeigt die Scrum- und Kanban-Expertin Corinna Baldauf auf der Website Retromat. In dem Archiv lassen sich 140 Ideen für Team-Updates finden. Für die Gruppe, die den Film- und Serien-Account auf Instagram bespielt, bietet sich unter anderem das Format Nummer 54 an, der „Oscar für Storys“. Das Team kann dabei in drei Kategorien zum Beispiel den gelungensten oder den nervigsten Post auf dem Account in der vergangenen Woche nominieren, anschließend werden die Gewinnerposts diskutiert.

Die Formatentwicklung protokolliert die Retrospektiven. Einerseits, um Erkenntnisse für die Anpassung der Strategie zu sammeln. Andererseits, um die Infos für die beim Termin abwesenden Teammitglieder festzuhalten. Wenn alle die Möglichkeit zur Teilhabe bekommen, ein Format aktiv weiterentwickeln und fortlaufend Ideen einbringen dürfen, kann auch die Motivation lange aufrechterhalten werden.

5 Ein guter Verlierer sein?

Eine kluge Formatentwicklung macht sich von Anfang an Gedanken über den gewünschten Output eines Formats und legt Key Performance Indicators (KPIs) fest: „Unser Film- und Serien-Format auf Instagram soll bis Ende des Jahres 100.000 Abonnent*innen gewinnen, von denen mehr als 60 Prozent weiblich sein sollen“ – und so weiter. Wenn Ziele nicht erreicht werden, justiert sie auf Basis von Analysen und Retrospektiven nach.

Die Formatentwicklung weiß aber: Auch die größte Motivation, die beste Arbeit und eine ausgeklügelte Strategie sind keine Garanten für Erfolg. In einer Episode der Serie Star Trek: The Next Generation formuliert es Enterprise-Captain Jean-Luc Picard wunderbar: „It is possible to commit no mistakes and still lose. That is not a weakness. That is life.“

"Eine kluge Formatentwicklung bereitet sich darauf vor, dass Persona Nora trotz passgenauem Instagram-Produkt keine Abo hinterlässt, keinen Post liket und kommentiert."

Eine kluge Formatentwicklung bereitet sich darauf vor, dass Persona Nora trotz passgenauem Instagram-Produkt keine Abo hinterlässt, keinen Post liket und kommentiert. Die Formatentwickler*innen notieren daher für sich selbst auch immer dieses Ziel: Wir wollen alle Erfahrungen dokumentieren, um künftige, ähnliche Projekte begleiten zu können.

Das Wissen aus Analysen und Retrospektiven zu sammeln, hat einen weiteren Vorteil: Die Leistung eines Teams kann zum Beispiel in Trello-Boards, einem internen Wiki oder in Form von Präsentationen festgehalten werden. Auf diese Weise bleibt – selbst wenn der Instagram-Account irgendwann eingestellt wird – etwas von der Arbeit übrig, auf das später alle zurückblicken und hoffentlich mit Stolz sagen können: Das war eine gute Zeit.

Mark Heywinkel ist Leiter Formatentwicklung bei Zeit Online.

Tipps und Tools

- Inspiration für spannende journalistische Erzählformen:

- Toolbox von Hyper Island

- Pitching-Canvas von Board of Innovation

- Ideen für Retrospektiven von Corinna Baldauf

Dieser Beitrag ist in einer Kooperation von Vocer und dem journalist entstanden.Vocer ist eine gemeinnützige Organisation für Medieninnovation und journalistische Bildungsprogramme. Der Beitrag wird in dem Buch "Wie wir den Journalismus widerstandfähiger machen" erscheinen. Herausgeber sind Vocer-Mitgründer Stephan Weichert und journalist-Chefredakteur Matthias Daniel.

Übersicht: Alle Folgen

Newsletter

Cookie Einstellungen

Statistik-Cookies dienen der Analyse und helfen uns dabei zu verstehen, wie Besucher mit unserer Website interagieren, indem Informationen anonymisiert gesammelt werden. Auf Basis dieser Informationen können wir unsere Website für Sie weiter verbessern und optimieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz