Isabell Beer

Wie sieht junger Investigativjournalismus aus?

01.04.2022

Isabell Beer wollte eigentlich "nur" Investigativjournalistin werden – bis sie merkte, wie hoch die Hürden gerade für Frauen sind, die nicht ins klassische Bild passen. Fast gab sie auf. Inzwischen ist sie auch ohne Studium eine der gefragtesten Undercover-Rechercheurinnen in Deutschland und macht auf Missstände, Doppelmoral und Sexismus innerhalb der Branche aufmerksam. Interview: Annkathrin Weis.

"Es ist total wichtig, dass man jüngeren Kollegen die Hand reicht", sagt Investigativjournalistin Isabell Beer. (Foto: Paulina Hildesheim)

Wer in den vergangenen Jahren Onlinereportagen zu unbequemen Themen gesehen hat, ist an ihr nicht vorbeigekommen. Isabell Beer taucht dort in Communitys ein, wo andere wegsehen: In ihren Geschichten geht es um Extremismus, Frauenhass, Drogensucht. Isabell Beer ist eine der wenigen, die heute vor der Kamera mit traditionellen Ansprüchen brechen. Höchste Zeit, will man im Jahr 2022 sagen. 

journalist: Erst Pandemie, jetzt der Angriffskrieg. Wie fühlt es sich für dich an, 2022 Journalistin zu sein?

Isabell Beer: Ich versuche mich natürlich zu informieren, aber ich bin gerade einfach überfordert. Es treten Leute an mich heran mit Fragen, die ich in dem Moment einfach nicht beantworten kann und auch nicht beantworten möchte, weil ich weiß, dass mein Wissen dazu nicht ausreichend ist. Das ist etwas, da muss man erst hineinwachsen. Das haben wir bei der Pandemie gemerkt, und das wird jetzt auch nicht anders sein.

Prinzipiell ist die Verarbeitung von schwierigen Themen für dich kein fremdes Feld. Du arbeitest zu Frauenhass, Drogensucht, Missbrauch, sexualisierter Gewalt. Kannst du da aus der Bearbeitung solcher Themen etwas mitnehmen in die aktuelle Situation?

Ich habe gelernt, mich ziemlich gut abzugrenzen. Das ist natürlich anders, wenn wir nicht wissen und abschätzen können, wie sich etwas auf unser eigenes Leben auswirkt. Dann merke ich auch bei mir, dass eine Abgrenzung nur bedingt funktioniert. Das ist früher schon mal so gewesen, als ich zum Beispiel zu Voyeuristen recherchiert habe, die sich online vernetzen, Kameras installieren und Frauen heimlich filmen. Da habe ich gemerkt: Ich könnte jederzeit selbst davon betroffen sein. Es könnte passieren, dass ich Videos von Bekannten oder sogar von mir selbst finde. Das ist eine Sorge, die man nicht abschalten kann. Und auch jetzt ist es so, dass man sich nur bedingt von diesen Sorgen, die im Moment doch jeder von uns hat, distanzieren kann.

Ursprünglich wolltest du im Printjournalismus arbeiten, hast ein Volontariat beim Berliner Kurier gemacht. Inzwischen bist du vor allem an Bewegtbild-Formaten beteiligt. War letztlich bei den Zeitungen kein Platz für deine Recherchen und Investigationen?

Mit Sicherheit wäre dort Platz gewesen. Aber man wollte mich nicht ordentlich dafür bezahlen. Ich hätte gerne weitergeschrieben, das war eigentlich mein Ziel. Ich habe mich bei verschiedenen Zeitungen beworben, immer wieder auf Investigativstellen, aber ich habe Absagen bekommen oder gar keine Antwort. Das war irgendwann frustrierend, und ich habe gemerkt, ich kann mir das nicht mehr leisten. Ich habe immer gehofft: Wenn ich noch diese eine Story mache, dann wird man sehen, dass man mich im Team gebrauchen kann. Und habe einige Angebote gemacht, etwa für eine Pauschale von 1.000 Euro im Monat zu arbeiten, Hauptsache, ich habe irgendeine Sicherheit. Aber selbst das hat nicht geklappt. Dann hatte ich das Glück, dass ich mich auf ein Video von Mai Thi Nguyen-Kim gemeldet habe, wo es um Frauen in MINT-Berufen ging. Daraufhin bin ich in Kontakt gekommen mit Funk, die gerade ihr Rechercheteam aufgebaut haben. Ich hatte echt Sorge, ob mein Weg im Journalismus an dieser Stelle auch zu Ende sein könnte. 

Ist der Berufseinstieg in Print, gerade im investigativen Bereich, derzeit unmöglich für den Nachwuchs?

Wenn man studiert hat und auf der Henri-Nannen-Schule war und solche Sachen mitbringt, vielleicht insgesamt ins Bild reinpasst – dann kann es durchaus möglich sein. Aber das kann ich nicht beurteilen. Bei mir war es jedenfalls so, dass mir immer wieder vorgehalten wurde, nicht studiert zu haben. Und ich sollte lieber verschweigen, dass ich mein Volontariat bei einer Boulevardzeitung gemacht habe, obwohl ich mich selbst überhaupt nicht dafür geschämt habe. Ich mochte die Kollegen, habe dort viel gelernt. Außerdem hat mein Aussehen einigen Leuten nicht gepasst. Da kamen Aussagen wie: "Nehmen Sie mal Ihren Nasenring raus." Oder: "Zu diesem Termin ziehen Sie bitte ein Kostüm an." Da dachte ich mir: Sorry, aber ich bin kein Model, das einen Dresscode erfüllen muss. Das war schon ziemlich deutlich spürbar, dass ich nicht reinpasse.

Gibt es immer noch diesen Anspruch, wie Journalistinnen auszusehen haben, um seriös zu sein?

Ja, ich glaube, das spielt noch eine Rolle. Ich merke das manchmal bei Vorträgen, wenn Leute danach aufgebracht zu mir herkommen. Weniger wegen der Dinge, die ich erzähle, sondern weil sie ein bestimmtes Bild von mir haben aufgrund meines Aussehens. Genau deswegen ist es wichtig, das aufzubrechen. Diversität wird im Journalismus einfach nicht zu Ende gedacht. Das ist so viel mehr als nur zu sagen: Wir holen uns Leute mit Migrationsgeschichte ins Team, wenn sie gleichzeitig niemandem haben, der etwa kein Studium oder Abitur hat. Auch das sind Aspekte, die für Diversität stehen, die man den Menschen nicht ansieht. Wir sind im Journalismus noch lange nicht am Ziel. Als ob bestimmte Kleidung etwas darüber aussagen würde, wie gut wir unseren Job machen.

"Es ist eigentlich scheißegal, was man studiert hat. Es juckt niemanden." 

Gibt es diese Hürden bei Funk oder auch bei den Produktionsfirmen, für die du arbeitest, nicht? 

Also ich habe es bei Funk so nicht erlebt. Ich hatte am Anfang schon Sorge, dass es auch wieder in die Richtung gehen könnte, aber eher wegen Kommentaren unter Videos, nicht wegen der Kollegen in der Redaktion. Darum habe ich mich für Drehs neutral angezogen, hab mir schwarze Sachen gekauft. Ich habe aber schnell gemerkt: Egal, was ich anhabe, es kommen sowieso Kommentare zu meinem Aussehen. Und diese Leute, die online so was schreiben, hatten kein Interesse an dem Thema, sondern daran, jemanden abzuwerten. Als ich damals vorhatte, mir noch ein Piercing stechen zu lassen, fragte ich meinen Chef, ob das okay sei. Er erwiderte nur: Warum fragst du mich das? Bei Funk hat nie jemand mein Aussehen kommentiert, und das ist auch gut so.

Bei "Investigation" hat man eventuell noch das Bild im Kopf von rauchenden älteren Männern, die in dunklen Kammern Dokumente sichten und sich den Krawattenknoten lockern. Ist die Investigation im Jahr 2022 immer noch überdurchschnittlich alt und männlich?

Leider schon. Gerade in alteingesessenen Teams ist es auf jeden Fall noch so. Ich finde es interessant, wenn man sich etwa den Tatort anguckt oder andere Filme. Wenn es um investigativen Journalismus geht, sind oft junge Frauen zu sehen, die alternativer aussehen und ein krasses Standing haben. Aber tatsächlich bin ich solchen Frauen in Investigativ-Teams bis jetzt kaum begegnet. Es gibt viele gute, coole Kolleginnen. Aber die sind nicht in den etablierten Teams, sondern frei oder in kleineren Teams. Ich habe von einer jungen Kollegin gehört, dass an ihrer Journalistenschule ein Investigativjournalist meinte, manchmal müsse man sich nachts auch in einem Parkhaus mit einer Quelle treffen oder abends einen trinken gehen. Aber das ist nicht mitgedacht für Frauen. Da muss ein Umdenken stattfinden, wie investigativer Journalismus eigentlich funktionieren und welche Grenzen man nicht überschreiten sollte. Ich hatte selbst das Gefühl, dass man mich manchmal vielleicht deshalb nicht im Team haben wollte, aus der Sorge: Da ist eine Frau, und der könnte was passieren. Als könnte ich als Frau diesen Job nicht so machen, dass ich mich dabei nicht selbst gefährde. 

Wo siehst du die Stärken von jungen, vor allem weiblichen Kolleg:innen?

Es gibt einige Kolleginnen, die gerade in den vergangenen Jahren sehr viel angestoßen haben, zum Beispiel Juliane Löffler und Pascale Müller. Sie sprechen auch viel über eigene Fehler und setzen sich für eine andere Fehlerkultur ein. Das habe ich zuvor nie erlebt. Aber auch sensibler Journalismus, dass wir anders mit den Leuten umgehen, die uns ihre Geschichte erzählen, dass man wirklich auf Bedürfnisse eingeht und am Ende eine Geschichte eventuell nicht machen kann, weil es der Person nicht mehr gut damit geht. Da fängt ein Umdenken an. Durch Frauen ist auch das Thema Mental Health in den investigativen Journalismus geschwappt. Als ich angefangen habe, war das gar kein Thema. Da hieß es: Sollte es dir mal schlecht gehen, kannst du mit Kollegen drüber reden. Als Freie habe ich das aber nicht getan, weil ich Angst hatte, dass das nur wieder das Bild bestärkt der Frau, die nicht klarkommt. Ich hatte Sorge, dass man mir dann solche Recherchen nicht mehr zutraut. Ich habe also so getan, als wäre alles super, obwohl ich Albträume hatte und mich paranoid fühlte.  

"Diversität wird im Journalismus einfach nicht zu Ende gedacht."

Was reizt dich trotzdem an der Investigation und deinen Recherchen in extremen Bereichen?

Zum einen, dass man in Szenen eintauchen kann, zu denen man davor keinen Zugang hatte. Jedes Mal muss ich verstehen: Wie funktioniert die Szene? Was für Worte nutzt sie? Was sind das für Leute, die dort aktiv sind? Ich finde das spannend. Aber es gibt auch Momente, in denen ich es nicht schaffe, das zu verstehen. Zum Beispiel beim Thema Incels. Da war ich frustriert, weil ich diesen Frauenhass nicht nachvollziehen konnte. Das andere ist, wenn etwas im ganz Kleinen beginnt, man dranbleibt und dann sieht, welche Dimension es hat. Bei der Voyeurismus-Recherche fing alles nur damit an, dass ich an der Kurfürstenstraße in Berlin unterwegs war und ich an einem gesperrten Spielplatz vorbeigelaufen bin, voll mit Kondomen und Spritzen. Da habe ich mich gefragt: Was ist da passiert? Gibt es davon Videos? Was ich gefunden habe, waren heimlich aufgenommene Videos von Prostituierten, die tagsüber an der Straße warten. Absolut nicht das, womit ich gerechnet habe. Darüber bin ich schnell darauf gestoßen, dass nicht nur Sexarbeiterinnen dort gefilmt werden, sondern auch andere Frauen in der U-Bahn sitzend. Mit jedem Tag, den ich online gesucht habe, habe ich gesehen, es geht noch viel tiefer. Zum Ende der Recherche bin ich dann sogar auf Aufnahmen sexueller Übergriffe gestoßen. 

Aufgrund solcher Recherchen wird man schnell selbst zur Zielscheibe. Wie groß ist die Rolle, die Hass im Netz dann für dich in deinem Leben spielt?

Ich habe das Glück, dass mir Hasskommentare zu meinem Äußeren nichts ausmachen. Ich weiß nicht genau, warum. Ich kann darüber lachen, weil ich das einfach so absurd finde und mir denke: Wow, da sitzt jemand, der nichts Besseres zu tun hat, als meine Frisur zu kommentieren. Gleichzeitig weiß ich, dass es anderen damit nicht so gut geht und einen das schwer treffen kann. Das sehe ich auch als große Herausforderung gerade für Frauen im Journalismus. Wenn ich mit männlichen Kollegen einen Film mache, merke ich, dass deren Aussehen so gut wie nie kommentiert wird, das der Frauen aber immer. Da ist es egal, um welches Thema es geht und was man trägt. Deswegen finde ich es wichtig, dass mehr Unterstützung von Redaktionen kommt, um auch junge Frauen darauf vorzubereiten. Inzwischen zeige ich auch an, wenn mich jemand beleidigt. Drohungen habe ich bislang zum Glück nur vereinzelt erhalten.

Müssen wir uns trotzdem darauf einstellen, dass das zu unserem Beruf gehört wie der klassische Leserbrief?

In einer gewissen Weise schon. Besonders gefährdet sind leider muslimische Kollegen und Kolleginnen. Das ist etwas, was ich immer mehr sehe, dass geguckt wird, was sie vor vielen Jahren auf Twitter geschrieben haben. Das gibt es bei anderen Kollegen in diesem Ausmaß nicht. Auch da muss man genauer drauf schauen, weil dahinter oft rechte Leute stecken, die versuchen, muslimische Kollegen und Kolleginnen zu diskreditieren. Das andere ist, dass jeder von uns etwas für den Selbstschutz tun kann. Ich bin oft entsetzt, wenn ich sehe, dass Kollegen oder Kolleginnen private Instagram-Accounts nutzen, um ihre Recherchen zu promoten. Wo man dann auch sieht: Das ist der Partner, die wohnen dort und dort. Es werden Sachen gepostet, wie zum Beispiel über den eigenen Geburtstag. Mit dem Datum kann man eine Melderegisterabfrage machen, die Adresse herausfinden. Es gibt viele Kollegen, die immer noch ihr Privathandy nutzen, um mit Informanten Kontakt zu halten, genauso wie den privaten Laptop. Das ist alles fahrlässig. 

Haben Redaktionen das überhaupt auf dem Schirm? 

Vielen ist nicht bewusst, welcher Gefahr man sich aussetzen kann, wenn man so arbeitet. Und da ältere Kollegen das nicht wissen, werden auch die jüngeren Kollegen nicht dafür sensibilisiert. Wir leben aber leider in einer Zeit, in der man damit rechnen muss, dass es Leute gibt, die einem nichts Gutes wollen. Gerade Doxing halte ich für eine große Gefahr. Da ist es total wichtig, sich so gut es geht abzusichern.

"Ich glaube, die jüngere Generation ist ganz anderen Gefahren ausgesetzt als die Generation davor."

Heißt das, der Nachwuchs muss eine natürliche Resilienz oder ein anderes Bewusstsein zum Berufsstart mitbringen?

Ich glaube, die jüngere Generation ist ganz anderen Gefahren ausgesetzt als die Generation davor. In der Generation davor waren es die, die im Fernsehen gearbeitet haben, ein bisschen präsenter waren, deren Gesichter man kannte. Aber bei uns haben eigentlich alle einen Social-Media-Auftritt, egal wo sie arbeiten. So können schnell Hasskommentare reinkommen. Um unsere Arbeit zu promoten, sind viele von uns auf Twitter unterwegs und geben dort ihre Meinung ab, was ja auch durchaus sinnvoll ist. Aber wo man auch aneckt und es dazu führen kann, dass einem Leute nichts Gutes wollen. Früher gab es die Leserbriefe, bei denen man das Porto bezahlen musste. Aber einen Hasskommentar zu schreiben, ist kostenlos und wird noch viel zu selten verfolgt.

In einem viel gelesenen Twitter-Thread hast du letztes Jahr über das Leben und Arbeiten als lesbische Frau gesprochen. Auch über die Diskriminierung, die du im Arbeitsalltag trotz der vermeintlichen Progressivität in unserer Branche erlebst. Was hat dich dazu gebracht, das öffentlich zu machen?

Ich weiß gar nicht mehr genau, was der Auslöser war. Aber es war ein Thema, das mich schon sehr lange begleitet hat. Ich habe in Redaktionen immer wieder überlegt, ob ich etwas sage oder lieber schweige. Was viele nicht verstehen: Sich zu outen bedeutet ja nicht, dass ich das jedem auf die Nase binde, den ich sehe. Es ist eher so, dass ein Kollege erzählt, er fahre in den Urlaub mit seiner Frau. Dann fragt er: Und was machst du in deinem Urlaub? Wenn ich sage, ich fahre mit meiner Freundin weg, ist das schon ein Outing. Das habe ich mir oft verkniffen und sehr allgemein geantwortet. Denn zum einen gibt es Diskriminierung, die man erleben kann. Und zum anderen: Wenn man in irgendeiner Form divers ist in der Redaktion, kann es sein, dass die Leute auch erwarten: Dann musst du aber etwas zu diesem oder jenem Thema machen. Und genau darauf hatte ich keine Lust, weil ich nicht die sein wollte, die jetzt nichts anderes als Homosexualität macht oder auf einmal Expertin sein soll. Nur weil ich lesbisch bin, kann ich nicht für jede Lesbe auf dieser Welt sprechen. Und da finde ich es total wichtig, dass Redaktionen den Druck rausnehmen und dass Leute nicht dazu gedrängt werden. Ich finde, es kann auch tatsächlich schon übergriffig sein, das anzufragen, wenn die Person es selbst nicht angeboten hat. 

Halten wir also etwa auf Twitter einfach gerne dieses Label von Progressivität hoch?

Ein bisschen schon, will ich mal behaupten. Man muss sich klar machen: Twitter ist nicht ein Spiegel unserer Medienbranche und auch nicht ein Spiegel unserer Gesellschaft. Überhaupt nicht. Wenn man sich selbst oder seine Arbeit promoten will, ist Twitter total wichtig, gerade im Journalismus. Aber ich finde, es ist eine Plattform, die sehr ungesund sein kann für jeden von uns. Zum Beispiel wurde früh gesagt, wir brauchen mehr Frauen im Journalismus und mehr Frauen im Investigativen. Und dann wurde auf Konferenzen geklatscht, und alle fanden die Idee supergeil. Aber wenn du als Frau in die Redaktion kommst und merkst, wie mit dir umgegangen wird, dann ist das etwas ganz anderes. In manchen Redaktionen habe ich schnell gemerkt: Hier bin ich nicht willkommen. Manchmal hatte ich echt das Gefühl, man versucht mich zu brechen. Durch die zunehmende Vernetzung kommt es jetzt zu einem ganz anderen Austausch. Ich weiß inzwischen, ich bin mit diesen Erfahrungen nicht allein, und es hatte auch nichts mit einer einzelnen Redaktion zu tun, sondern darunter leiden sehr viele Frauen, gerade wenn sie in den investigativen Bereich einsteigen.

Gibt es da einen Generationenkonflikt? Haben die Jüngeren das besser drauf als die Älteren?

Was die Jüngeren mitbringen, ist auf jeden Fall, dass sie nicht mehr denken: Ich bin der einsame Wolf, der da reingeht und selbst eine Geschichte macht, sondern dass der Gedanke an die gegenseitige Unterstützung viel stärker ist. Gerade unter Frauen finde ich das enorm. Einfach weil jede von uns weiß, wir sitzen im selben Boot. Bei manchen älteren Frauen hatte ich teilweise das Gefühl, dass sie sich dachten: Ich hatte es scheiße, dann soll die nächste es auch nicht einfacher haben. Da ist in der jungen Generation ein anderes Denken. Man weiß einfach, dass keiner von uns so behandelt werden möchte. Wir setzen uns füreinander ein und empfehlen uns gegenseitig weiter, um Strukturen zu durchbrechen. Und es ist auch nicht so, dass nur junge Frauen das tun – auch junge Kollegen haben mich schon weiterempfohlen. 

Diverse Identitäten und Backgrounds sind inzwischen gerne gesehen, zumindest spiegeln das beispielsweise Stellenausschreibungen. Welche Rolle spielt unsere Identität bei der Arbeit?

Ich finde, eine sehr große, und um die Gesellschaft wirklich zu erreichen, muss das auch so sein. Worauf wir uns konzentrieren sollten, sind Leute, die eben nicht studiert haben, die aus Arbeiterfamilien kommen, die einen schwierigeren Start ins Leben hatten und vielleicht kein Abitur gemacht haben. Solche Leute brauchen wir viel mehr im Journalismus, weil sie andere Perspektiven mitbringen. Was mich manchmal sehr stört, ist dieser Blick von oben herab. Etwa wenn Leute eine gewisse Meinung haben, die man gar nicht versucht zu verstehen und sie direkt abgestempelt werden. Das führt nur dazu, dass sie sich ausgeschlossen fühlen. Da ist in den letzten Jahren enorm viel schiefgelaufen, was einfach damit zu tun hatte, dass Journalismus an sich nicht so divers ist und das Verständnis für viele Bevölkerungsgruppen fehlt. Was ich auf eine gewisse Weise auch nachvollziehen kann. Das heißt nicht, dass man auf einmal Sachen gutheißt, die nicht in Ordnung sind. Es heißt einfach, dass man versucht zu verstehen: Was ist da eigentlich los? Was sind die Gründe aufgrund der Prägung oder durch Erfahrungen von Menschen, dass sie für solche Sachen anfälliger sind? Das gehört für mich dazu, wenn wir sagen, wir sind als Journalisten neutral. 

"Es gibt viele gute, coole Kolleginnen. Aber die sind nicht in den etablierten Teams, sondern frei oder in kleineren Teams."

Du selbst arbeitest daran, Einstiegshürden ein wenig einzureißen, indem du beispielsweise in Twitter-Threads Infos für Volo-Bewerbungen oder Praktika ohne Studium sammelst. Bewirken solche Beiträge etwas?

Es gibt immer Leute, die das auch aufregt, weil sie finden, man sollte eigentlich studiert haben, sonst würde der Journalismus ein bisschen verkommen. Aber der Großteil der Leute merkt schon, dass es wichtig wäre, dass wir uns verändern im Journalismus. Mir ist auch erst durch das Sammeln bewusst geworden, wie viele Möglichkeiten es gibt, ohne Studium in den Journalismus einzusteigen. Die Frage ist dann noch, ob man die Stelle wirklich bekommt. Aber ich habe bis jetzt jedem von einem Studium ganz klar abgeraten, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Außer es gibt ein Thema, das einen brennend interessiert. Die meisten studieren ja nur als Mittel zum Zweck. Das finde ich sinnlos. Es ist viel sinnvoller, direkt Berufserfahrung zu sammeln. Deswegen hilft so gesammeltes Wissen schon. Das Absurde daran ist ja: Journalismus ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Es ist eigentlich scheißegal, was man studiert hat. Es juckt niemanden. Es werden immer noch Leute belächelt, die zum Beispiel auf Youtube Content machen oder auf Tiktok. Es wird gar nicht gesehen, wie viel Arbeit dahintersteckt. Dabei sind dort so krasse Talente, von denen wir auch im Journalismus enorm viel lernen könnten, mit denen man junge Leute erreicht, welche Themen sie interessieren, wie man diese Themen transportiert. Zum Beispiel der Youtuber Leeroy, an dem man sieht, dass es jemand auch ohne journalistische Ausbildung schafft, Menschen empathisch zu interviewen und Themen so rüberzubringen, dass sie eine sehr junge Zielgruppe erreichen. Davon kann man sich enorm viel abschauen. Solche Leute brauchen wir viel mehr in unseren Redaktionen. 

Können wir oder auch die Generationen, die nachkommen, das Elitendenken im Journalismus aufbrechen?

Ich denke, schon ein bisschen. Was auf jeden Fall hilft, ist, dass Leute ihre Erfahrungen, die sie in Redaktionen machen, öffentlich machen. Die meisten nennen nicht den Namen, aber ich glaube, dass es trotzdem oft ausreicht. Ich habe immer das Gefühl, die Leute erinnern sich bestimmt und wissen dann, dass sie damit gemeint sind. Was ich total cool und inspirierend finde, ist, dass ich in letzter Zeit oft mit jungen Kolleginnen zu tun hatte, wo ich mir dachte: Wow, ihr bringt so einen Mut mit, in eurem Alter, den ich damals nicht hatte. Einfach so Missstände anzusprechen, dass man das nicht für sich behält, sondern es rauslässt und sich etwas verändert. Ich hatte damals total Angst: Wenn ich das jetzt sage, dann kriege ich keine Stelle mehr, da halte ich mich lieber zurück. 

Das klingt fast so, als ob wir neben dem journalistischen Handwerk auch den journalistischen Blick ein bisschen mehr auf uns selbst und auf unser Arbeitsumfeld richten.

Total. Ich erinnere mich an einen Praktikumsbeginn, als der Chef zu mir meinte: Sie müssen sich drauf einstellen, wenn Sie hier ein Praktikum machen wollen, werden Sie keinen Feierabend mehr haben. Sie werden den ganzen Tag nur noch an Journalismus denken, egal ob Sie unter der Dusche stehen oder joggen gehen. Da habe ich früh eine total ungesunde Arbeitseinstellung vermittelt bekommen, als ob es gar keine Work-Life-Balance mehr gäbe. Das ist eines der größten Probleme. Ich bin letztes Jahr krank geworden und musste ein Interview absagen. Ein Kollege meinte dann, ob wir das nicht trotzdem machen können. Diese Krankmeldung hat einfach nichts bedeutet. Gerade wenn man an freiberuflichen Projekten arbeitet, kann es sein, dass noch im Hintergrund über einen geredet wird. Ich habe mich dann krank hingesetzt und doch noch was geschrieben. Hinterher hab ich das bereut, es hat sich auch keiner dafür bedankt. In einer Redaktion hatte sich ein Kollege auf dem Weg zur Arbeit den Arm gebrochen und hat den ganzen Tag noch gearbeitet. Er brauchte das Geld als freier Kollege, also ist er erst nach Feierabend ins Krankenhaus gegangen. Inzwischen habe ich gelernt: Gerade, wenn man selbst in der Lage ist, sollte man diese Grenzen setzen und das deutlich ansprechen. 

Bei solchen Geschichten drängt sich doch wirklich die Frage auf, inwiefern Journalismus im Jahr 2022 überhaupt noch attraktiv ist.

Ich kann mir gut vorstellen, dass er in der Form, wie er früher gelebt wurde, überhaupt nicht mehr attraktiv ist. Und da muss ich auch sagen: Wenn ich jetzt weiter so arbeiten müsste, wie ich das noch vor ein paar Jahren musste, dann würde ich das nicht mehr lange durchhalten. Einfach, weil die psychische Belastung viel zu groß ist. Mir ist das vor ein paar Jahren bewusst geworden, als ein Kollege auf einem Seminar von seinem Burnout erzählte und ich gemerkt habe, dass ich diese Anfangssymp­tome, die er geschildert hat, ein paar Wochen zuvor selbst nach Ende einer Recherche erlebt hatte. Das hat mir die Augen geöffnet, besser mit mir selbst umzugehen. Da muss noch viel mehr Sensibilität geschafft werden in den Redaktionen. Wir haben Kollegen, die arbeiten zu Themen, die sie sehr berühren. Wenn etwas jemandem sehr nahe geht aufgrund der eigenen Geschichte, sollte man diesen Kollegen nicht allein lassen und sagen: Hier kannst du aufgefangen werden, wenn es zu viel wird. Wenn sich das nicht verändert, kann es schon sein, dass Journalismus auf lange Sicht uninteressant wird. Und nicht ohne Grund sind viele Kollegen, mit denen ich begonnen habe, inzwischen in die Pressearbeit gewechselt oder in die Politik.

Trotzdem bist du geblieben und nimmst dir eher schwierigere Themen vor, als dass du nach einem einfacheren Bereich suchst. Was treibt dich an? 

Ich habe gemerkt, dass es mir leichter als anderen fällt, mir bestimmte Sachen anzugucken, dass es in mir nicht so viel auslöst. Ich bin nicht komplett abgestumpft, aber ich merke, dass ich es über einen sehr langen Zeitraum ertrage. Etwa wenn es um Aufnahmen sexualisierter Gewalt geht. Da habe ich mir gedacht: Wenn ich schon in der Lage dazu bin und gleichzeitig merke, dass dort viel zu wenig hingeguckt wird, dann ist es total wichtig, das zu machen. Hinzuschauen bei diesen Menschen, die vergessen werden, ihnen eine Stimme zu geben und dorthin zu gucken, wo man überhaupt nicht mehr hinschauen will. Das ist etwas, was mich immer weiter antreibt in meiner Arbeit. Zu sehen, dass es für Menschen einen Unterschied macht, wenn sie merken: Es gibt jemanden, der interessiert sich für meine Geschichte und dem ist das nicht egal, obwohl es davor vielen Stellen egal war oder nicht viel passiert ist seitens Polizei und Co. Aber auch ich habe bei meiner letzten Recherche ein psychologisches Coaching in Anspruch genommen. 

"Wenn ich mit männlichen Kollegen einen Film mache, merke ich, dass deren Aussehen so gut wie nie kommentiert wird, das der Frauen aber immer."

Würdest du sagen: Für dich lohnt sich der Aufwand und alles, was du stellvertretend für andere auf dich nimmst?

Ich weiß nicht, ob man da lohnend sagen kann. Aber ich denke, warum viele von uns jetzt in den Journalismus gehen, ist ja, weil man in seiner Arbeit einen Sinn sehen möchte. Den sehe ich auf jeden Fall. Natürlich ist es nicht so, dass ich mir am Ende jeder Recherche denke: Wow, voll geil, weil eben nicht das Happy End wartet, das man sich vielleicht wünscht. Aber ich sehe den Sinn darin. Ich werde manchmal gefragt, ob man nicht den Glauben an das Gute im Menschen verliert, wenn man die ganze Zeit so schlimme Dinge sieht. Das geht mir gar nicht so. Gerade aus Gesprächen mit Betroffenen nehme ich total viel mit. Das gibt mir die Hoffnung daran zurück, dass, selbst wenn etwas Schlimmes passiert, nicht alles zerstört sein muss.

Gilt das generell für unsere Generation, dass wir alle ein bisschen "die Welt retten wollen"? Umfragen legen zumindest nahe, dass Idealismus wieder eine größere Rolle spielt. 

Ja, das war bei mir auch so. Idealismus ist ein großes Ding. Es ist nur wichtig, dass man drauf achtet, dass es nicht zu Aktivismus wird. Das ist mir auch in meiner Arbeit total wichtig. Wenn ich zu solchen Themen recherchiere, darf ich natürlich nicht blind glauben. Wenn mir eine Frau erzählt, ihr sei das und das passiert, habe ich die Verantwortung, die Fakten zu überprüfen, zu gucken, welche Indizien dafürsprechen. Und auch: Gibt es vielleicht etwas, was dagegenspricht. Gerade junge Kollegen beschäftigen sich viel mit dem Thema Machtmissbrauch, was ich wichtig finde. Oder mit Klima, Rassismus, Feminismus. Ich glaube aber, man muss sich selbst immer wieder kontrollieren, sodass es nicht aktivistisch wird, sondern journalistisch bleibt. Aber solange man das tut, ist es gut, wenn man ein Thema hat, das einen motiviert, antreibt und für das man brennt.

Ich würde die These aufstellen, dass es Funk allgemein, aber speziell auch das Y-Kollektiv oder STRG_F wieder attraktiver gemacht haben, sich mit unbequemen Themen auseinanderzusetzen. Gibt es da so eine Aufbruchsstimmung, ein vermehrtes Interesse, das du wahrgenommen hast?

Das kann ich schwer beantworten. Aber was mir auffällt, ist, dass diese Transparenz und auch die Art, wie wir arbeiten, dazu beiträgt, dass Leute die Arbeit besser verstehen. Und auch offener sind für manche Themen. Gerade beim Y-Kollektiv ist es so, dass die Kollegen und Kolleginnen sehr offen sagen, wie es ihnen bei Recherchen geht, dass sie transparent machen, auf welche Hürden sie stoßen. Im Journalismus ist eben nicht alles geradlinig, man hat die eine Quelle, die tolle Geschichte und alles ist auf einmal supergeil. Sondern dass man eben auch zeigt: Okay, ich scheitere an der Stelle, ich komme nicht weiter, ich muss mir vielleicht einen Kollegen von außen mit reinholen, oder ich merke, dass es mir gerade nicht gut geht mit dem Thema. Das macht Journalismus nahbarer und erfahrbarer und vielleicht tatsächlich für manche Leute interessanter, weil sie merken: Ich muss nicht diese krasse Person sein, um ein Thema abbilden zu können, sondern ich darf weiterhin ein Mensch sein, der Gefühle hat. Ich sage oft auch dazu, es wäre eher seltsam, wenn das alles nichts mit einem machen würde. Das wurde viel zu lange vorgelebt von irgendwelchen Vorgesetzten.

"Da kamen Aussagen wie ‚Nehmen Sie mal Ihren Nasenring raus‘ oder ‚Zu diesem Termin ziehen Sie bitte ein Kostüm an‘."

Eine potenzielle Stärke, diese Subjektivität und das Nahbare. Aber am Ende auch wieder eine Gratwanderung. 

Auf jeden Fall. Da ist es enorm wichtig, im Austausch zu bleiben mit Kollegen und Kolleginnen. Mir hilft es total, gerade wenn ich unsicher bin, nicht allein entscheiden zu müssen, sondern die Meinung von außen einzuholen und eine Redaktion zu haben, von der ich weiß: Die sagen mir ehrlich, wenn sie finden, dass etwas überhaupt nicht zuträglich ist. Und dass man gleichzeitig keine Angst davor hat, dieses Video dorthin zu geben.

Steht es also gar nicht mal so schlecht um den journalistischen Nachwuchs? Sind wir auf dem richtigen Weg?

Auch untereinander ist nicht alles perfekt, nur weil man sich mehr vernetzt, sondern es kommt weiterhin vor, dass andere junge Kollegen sich die eigenen Recherchen aneignen. Das habe ich auch schon erlebt. Auch bei uns ist es so, dass es viele Sachen gibt, an denen wir arbeiten müssen – andere Problematiken als noch in den Generationen vorher. Im besten Fall kann man voneinander lernen. Ich hatte auf meinem Weg auch viele ältere Kollegen, die mich unterstützt haben. Das ist etwas, was jeder von uns mitnehmen sollte. Dass man dann selbst diese Person ist, die man vorher hatte, die einen gefördert und ein wenig Mut gemacht hat. Es ist total wichtig, dass man jüngeren Kollegen die Hand reicht. 

Isabell Beer, Jahrgang 1994, ist über ein Volontariat beim Berliner Kurier zu ihrer ersten Investigativrecherche gekommen: Voyeurismus auf Pornoseiten. Seitdem publiziert sie als freie Journalistin unter anderem für die Zeit, hat 2021 ihr Buch Bis einer stirbt – Drogenszene Internet veröffentlicht und arbeitet vor allem für Funk, etwa beim Recherche­format Ultraviolett Stories oder dem Y-Kollektiv. 

Annkathrin Weis arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main. Sie ist Co-Gründerin des journalist-Podcasts Druckausgleich.  

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