Jochen Wegner

"Wir wissen es nicht"

24.01.2021

Zeit und Zeit Online wachsen und sind profitabel. Gegen den Branchentrend. Zeit-Online-Chef Jochen Wegner ist seit 2019 auch Teil der Print-Chefredaktion. Ein Gespräch über Chaos und Reichweite, über Demut und Verlässlichkeit und darüber, wie Rezo zu Zeit Online kam. Interview: Jan Freitag

„Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wo unsere Zukunft und die des Qualitätsjournalismus liegen könnte“, sagt Jochen Wegner. (Foto: Andreas Chudowski)

Jochen Wegner ist in einer komfortablen Position. Die Reichweiten von Zeit Online explodieren, und trotz Corona steht die Zeit wirtschaftlich besser da als je zuvor. Kein Grund für Überheblichkeit. Wegner spricht von Demut und Ergebenheit. Auch nach all den Jahren sei es immer noch überraschend, welche Beiträge zu vielen Abos führen und welche nicht.

journalist: Herr Wegner, Sie haben 1998 ihre Diplomarbeit in Physik über die Chaostheorie des menschlichen Gehirns geschrieben.

Jochen Wegner: Über ein kleines Detail, das stimmt. Der Begriff Chaostheorie wird von Physikern nicht so gerne verwendet. An der Uniklinik in Bonn konnte ich damals in einer tollen Arbeitsgruppe zur sogenannten nichtlinearen Dynamik des Gehirns arbeiten. Es geht dabei um Systeme, die zu komplex sind, um ihr Verhalten genau zu berechnen, die aber trotzdem gewisse Regelmäßigkeiten zeigen.

Das wäre eine ganz gute Umschreibung des multipolaren Durcheinanders unserer Tage, das von Covid-19, Donald Trump und der Klimakrise gleichermaßen erzeugt wird. Können Sie als Journalist mithilfe der nichtlinearen Dynamik Strukturen in diesem Chaos erkennen?

Viele Wissenschaftler forschen daran, Regeln in der Wirrnis zu finden, als Journalist habe ich da wenig beizutragen. Das Wissen um die Tücken des Komplexen hilft höchstens, Lagen wie der aktuellen mit einer gewissen Demut zu begegnen. Und diese Demut auch bei anderen und in anderen Situationen wertzuschätzen.

Wessen Demut meinen Sie?

Die Demut der Epidemiologen und Virologen zum Beispiel, die uns erklären, dass eine Pandemie nicht so gut vorhersehbar oder kontrollierbar ist, wie wir uns das wünschen. Aber auch die Demut vieler Politiker, die wissen, dass es keine klaren Ansagen und Regeln geben kann, die für alle Zeit gelten.

Und für Sie als Journalist?

Auch da hilft eine gewisse Ergebenheit. Wir können die Zukunft der Medien nicht gut vorhersehen, bis sie über uns kommt. Wir wissen nicht, welches neue Facebook, Google oder Apple gerade irgendwo geboren wird. Schlimmer noch: Selbst, wenn das nächste große Ding da ist, fällt es uns schwer, seine Auswirkung auf unsere Arbeit zu verstehen, siehe Twitch oder Tiktok. Manchmal dauert es Jahrzehnte, wie bei Podcasts und Newslettern, und plötzlich verändert es die Branche. Deshalb denken wir in möglichst kurzen Zyklen und passen uns der Situation an. Erst recht in Zeiten einer unberechenbaren Pandemie.

Aber diese Demut befindet sich doch im Wettstreit mit den Ansprüchen des Publikums, sich die Welt von Ihnen erklären zu lassen. Wie lösen Sie dieses Dilemma auf?

Indem wir mehr sagen, was ist, und weniger, was wir meinen. Indem wir unseren Lesern und Leserinnen möglichst valide und umfassende Informationen zum Verständnis der Lage geben, aber uns mit Theorien und Spekulationen zurückhalten. Wir versuchen, den Eindruck zu vermeiden, jemand könne genau wissen, was in einer nie dagewesenen Situation zu tun sei. Dieser Versuchung erlagen leider sogar manche Wissenschaftler. Der Physikerin Angela Merkel aber hat man zu Beginn der Pandemie angemerkt, dass sie kommunizieren wollte: Wir wissen es doch auch nicht. Und wir müssen uns dennoch für einen Weg entscheiden, um es herauszufinden.

Das wissenschaftliche Prinzip der Falsifikation, von dem viele in dieser Pandemie erstmals gehört haben …

Ja, Karl Popper trendet. Zeit Online ist normalerweise ein sehr meinungsfreudiges Medium, aber zumindest in den ersten Monaten haben wir uns bemüht, nicht gleich in den Wettstreit der Standpunkte einzutreten, sondern in den um Tatsachen. Deshalb haben wir zunächst in Nachrichten- und Wissenschaftsjournalismus und in Datenvisualisierung investiert.

„Wir können die Zukunft der Medien nicht gut vorhersehen, bis sie über uns kommt.“

Ist dieses Investment der Grund für die wirtschaftliche Entwicklung von Zeit und Zeit Online? Während besonders Printmedien in der Pandemie erhöhten Bedarf, aber sinkende Anzeigenerlöse verbucht haben, sind Ihre Zahlen hervorragend.

So zynisch das klingt: Die Corona-Krise hat auch Gutes bewirkt. Sie hat uns etwa gezeigt, wo unsere Zukunft und die des Qualitätsjournalismus liegen könnte. Die gute Entwicklung von Zeit Online hat gewiss mit dem Ansatz zu tun, aktuelle, evidenzbasierte Berichterstattung zu stärken.

Ausgerechnet in der Phase größtmöglicher Unwägbarkeit?

Ich erinnere mich noch genau an mein eigenes Befremden und das meiner Kolleginnen und Kollegen in unserer Ressortleiter-Runde einige Wochen vor dem ersten Beinahe-Lockdown. Wir hatten uns – ganz hypothetisch – gefragt, was wir wohl machen würden, wenn dieser extrem unrealistische Fall eintreten würde und wir wie in China alle ins Homeoffice müssten.

Verrückte Idee.

Die von der Wirklichkeit so radikal eingeholt wurde, dass nun auch viele gute Entwicklungen nicht mehr umkehrbar scheinen. Unser Wissen um die Möglichkeiten etwa, uns außerhalb des Newsrooms zu vernetzen. Auch unserem Journalismus hat die Krise eine Richtung gegeben, die wir weiterverfolgen wollen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir mal als eine Art Primärquelle für Infektionsdaten, Intensivbetten oder Impfquoten dienen. Das Corona-Dashboard unseres Datenvisualisierungs-Teams, für das wir mehrmals am Tag die Zahlen der 400 Stadt- und Landkreise recherchieren, dient nun, wie wir hören, der Bundesregierung, Behörden, vielen Medien und der Johns-Hopkins-Universität als Quelle. Da erbringen wir fast institutionelle Leistungen, weil sie gerade wichtig sind für die Gesellschaft.

Und das hat sich auch betriebswirtschaftlich ausgewirkt?

Die Besuche auf unserer Homepage wachsen gegen den Trend, wir erklären uns das auch mit den Menschen, die zum Teil mehrfach täglich das Corona-Dashboard dort besuchen. Die dahinterliegende, detaillierte Grafik verzeichnete im Jahr 2020 mehr als 50 Millionen Abrufe. Insgesamt hat sich 2020 unsere Tagesreichweite in den Spitzen vervierfacht. Dies alles hat dazu beigetragen, dass unsere Erlöse im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte gestiegen sind – mitten in einer globalen Krise. Das hat bei uns niemand erwartet, wir haben im März mit dem Schlimmsten gerechnet.

Lässt sich das auch damit erklären, dass Sie als Online­medium endemisch sind in dem digitalen Raum, wo sich mittlerweile große Teile der Berufstätigen aufhalten?

In Krisen sind alle online. Wenn wir nerdig werden wollen, können wir jetzt unsere digitalen Erlösmodelle durchgehen, die zu diesem Wachstum beigetragen haben. Das klassische Displaygeschäft zum Beispiel: Hier haben wir einerseits das Glück, in der gemeinsamen Vermarktung mit anderen – ich mag den Begriff eigentlich nicht – Qualitätsmedien wie Süddeutscher Zeitung, FAZ, Handelsblatt und Tagesspiegel zu sein. Unser Vermarkter iq digital hat in der Krise Marktanteile gewonnen. Offensichtlich suchen auch Werbekunden verstärkt nach seriösen Medien. Hinzu kam, dass zeit.de auch Reichweiten-Marktanteile gewonnen hat. Beides spiegelt sich in den Anzeigenerlösen wider, die bei uns im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gewachsen sind. Noch erfreulicher hat sich die zweite tragende Erlössäule entwickelt, die digitalen Abonnements. Sie sind um 80 Prozent gestiegen. Zu unserem Glück hatten wir in Verlag und Redaktion in den vergangenen Jahren viel mit unserem Abomodell experimentiert. Als sich die Zahl der Leser plötzlich vervielfachte, wussten wir so ungefähr, was zu tun ist.

Und was?

Die Print-Artikel der Zeit waren zu Beginn die einzige Säule unseres Abomodells. Das Blatt ist sehr umfangreich, trotzdem haben wir festgestellt, dass wir Onlinelesern noch mehr verschlossene Inhalte anbieten können, sie zeigen ungebrochenes Interesse. Inzwischen gibt es einige Kolleginnen und Kollegen, die sich hauptberuflich um kostenpflichtige Digitalinhalte kümmern. In der Krise haben diese nun besonders gut funktioniert – etwa aus den Gebieten Bildung und Erziehung, Familie, Arbeit oder Psychologie. So wurden im Oktober zwei Drittel der Digitalabos über Beiträge generiert, die nur online erschienen sind. Und das, obwohl wir jene Themen frei zugänglich gelassen haben, die für die Orientierung in einer Pandemie besonders wichtig sind – die aktuellen Stücke unseres Politik-Ressorts und die der Wissens- und Medizinredakteurinnen etwa.

Verbuchen Sie die Erlöse der Digital-Abos bei Zeit Online oder im Gesamtverlag?

Sie werden Zeit Online zugerechnet, aber wir führen einen wachsenden Anteil ans gesamte Haus ab. So können wir hoffentlich bald den beträchtlichen Vorschuss zurückzahlen, den wir über zwei Jahrzehnte bekommen haben. Erst seit ein paar Jahren ist Zeit Online profitabel.

Zeit Online hat ein Dreifachangebot verschiedener Zugangsarten: frei zugänglich, kostenpflichtig und für die Gegenleistung der persönlichen Registrierung.

Stimmt. Der Anteil abopflichtiger Artikel, die mit einem roten „Z+“ gekennzeichnet sind, lag Anfang des Jahres vielleicht bei zwei, Ende des Jahres gerade einmal bei um die zehn Prozent. Für Texte mit grauem „Z+“ benötigen Sie nur einen Log-in und müssen nicht bezahlen, deren Anteil dürfte heute noch deutlich geringer sein. Wir hatten diese Variante ursprünglich eingeführt, um besonders unsere vielen jungen Leser und Leserinnen mit einem Bezahlmodell nicht vor den Kopf zu stoßen und ihnen einige abgeschlossene, aber kostenlose Inhalte anbieten zu können. Die Sorge aber war wohl unbegründet, es gab und gibt zu unserer Aboschranke nicht sehr viel kritisches Feedback.

Betrachtet das Publikum Inhalte nicht als weniger wertvoll, wenn sie kein Geld kosten?

Das klingt plausibel, ich glaube es aber nicht. Die meisten Leser und Leserinnen kommen schließlich wegen der wertvollen offenen Inhalte zu uns – und bleiben als Abonnenten dank der wertvollen geschlossenen Inhalte. Wir machen keinen Unterschied in der Qualität, das wäre selbst aus einer zynischen, rein geschäftsmäßigen Sicht nicht rational. Die Abonnenten lesen schließlich auch die offenen Geschichten. Manchmal ist beim Entstehen eines Beitrags auch noch unklar, ob er später einmal „rot“ wird. Viele unserer aufwendigsten Inhalte lassen wir ganz bewusst offen, und wir entscheiden uns auch immer öfter im laufenden Betrieb um.

Wer trifft denn letztlich die Entscheidung, was frei sichtbar bleibt und was nicht?

Es gibt jede Woche eine Runde zwischen Print und Online, in der unsere CvDs die Farbe der Print-Beiträge festlegen. Das hat sich eingespielt, dauert zehn bis zwanzig Minuten. Die letztgültige Entscheidung treffen im Live-Betrieb dann aber die sogenannten Dirigentinnen und Dirigenten, sie sind gleichsam Chefredakteure vom Dienst, stehen noch über den CvDs und steuern den ganzen Newsroom, die Homepage und alle Kanäle.

Ließe sich der Prozess auch automatisieren?

Wir können qualifiziert sagen, dass das nicht einfach ist. Bei uns arbeitet ein größeres Engagement-Team an derlei Fragen, dazu auch eine Mathematikerin und ein Mathematiker. So haben wir mit allen denkbaren statistischen Verfahren versucht, gleichsam Regeln im Chaos zu finden, mit denen wir aus den zahlreichen Eigenschaften eines Beitrags die Zahl der Abos prognostizieren können, wir haben sogar ein neuronales Netz trainiert. Nichts hat funktioniert. Das erinnert mich ironischerweise ein wenig an meine Diplomarbeit.

„Ich finde es beruhigend, dass sich das Themengespür von Journalisten nicht seinfach an Maschinen delegieren lässt.“

Und woran liegt das?

Wir wissen es nicht. Womöglich auch daran, dass sich der gefühlte Wert einer bestimmten Art von Inhalt schnell ändern kann. Themen haben eine zeitlich begrenzte Konjunktur. Vielleicht ist es wie an der Börse, deren einzelne Aktienwerte auch so schwer zu prognostizieren sind, weil sich die Randbedingungen ständig ändern. Ich finde es beruhigend, dass sich das Themengespür von Journalisten nicht so einfach an Maschinen delegieren lässt. Wir haben dafür andere Regeln gefunden.

Nämlich welche?

Wir können mit erstaunlicher Präzision sagen, welche Nutzer auf unserer Website heute ein Abo abschließen werden. Eine so genannte User-Journey weniger Tage reicht aus, um zu sagen, wohin die Reise morgen geht – wenn wir wissen, was jemand auf Zeit Online gelesen hat, wann, wie oft und so weiter.

Als klassische Medienhäuser vor drei Jahrzehnten Onlineredaktionen aufgebaut oder abgespalten haben, dienten sie oft als Schaufenster für den Printbereich. Dienen Inhalte diesseits der Paywall heute entsprechend als Schaufenster für die jenseits davon?

In einem Haus, in dem sich Print und Online gleichermaßen gut entwickeln, gilt vielleicht eher, dass wir uns wechselseitig ein Schaufenster sind. Dass das Digitale zulegt, ist ja auch den Zeitläuften geschuldet, die Wachstumsraten der gedruckten Zeit aber sind komplett antizyklisch. Ich pendle als Mitglied beider Chefredaktionen zwischen den Welten und habe den Eindruck, dass wir uns gegenseitig inspirieren. Wir arbeiten an vielen Stellen eng zusammen, an anderen sind wir recht autark. Wir können online auch mal ganz gut unser Ding machen.

Ein anderes also als die gedruckte Zeit?

Im Großen nein, im Kleinen schon. Unseren Leserinnen und Lesern ist sehr wichtig, dass ihr Anspruch an ihre Zeit auf Papier und Display gleichermaßen erfüllt wird. Im Detail sind die Erwartungen an ein Medium, dessen Inhalte sekündlich aktualisierbar sind, natürlich andere, als wenn man sich damit samstags auf die Couch legt und bei einem grünen Tee das Papier ausbreitet oder durch die – soeben aufwendig neu gestaltete – Zeit-App blättert. Besonders Jüngere wissen genau, wie die Mechanik digitaler Medien funktioniert. Das Feedback der Rezipienten zeigt, dass sie uns in unserer Komplexität durchaus wahrnehmen. Es ist nicht mehr so wie früher, als der Online-Traffic donnerstags hochging, wenn die Zeitung erschien.

Höre ich also heraus, dass Zeit Online nicht den Weg des Spiegels gehen und mit der Print-Redaktion rückvereinigt werden wird?

Wer kann das wissen? Wir werden noch enger zusammenarbeiten und weiter zusammenrücken. Der Weg des Spiegels, der seine Ressorts vollständig vereint hat, scheint mir an vielen Stellen nicht so gut zu unserer Kultur und zu unserem bereits ganz erfreulich funktionierenden Modell zu passen. Im Gegensatz zu manchen anderen Häusern geht es nicht nur Online, sondern auch Print gut, die Einzelverkäufe sind in diesem Jahr sehr deutlich gestiegen, unsere Gesamtauflage ist auf Rekordniveau. Das Print-Anzeigengeschäft hat in der Krise zwar auch einen gewissen Rückgang zu verzeichnen, im Branchenvergleich fällt er aber deutlich geringer aus.

Die Zeit ist seit Jahren verlässlich in den Top 5 der deutschen Leitmedien. Wird Zeit Online dabei einfach mitgedacht, oder arbeiten hier aus Sicht der Gesellschaft eher die Geeks und Nerds, die fürs Papier zu jung, zu frech, zu modern sind?

Sie wären erstaunt, wie viele junge Geeks man beim Blatt treffen kann. Falls Zeit Online jemals ein reines Nerd-Projekt war, ist es das heute nicht mehr. Das Versprechen, für das die Zeit seit nun bald 75 Jahren steht, versuchen wir seit nun bald 25 Jahren auch online einzulösen. Die Zahl der Namen im Impressum hat sich verdreifacht, seit ich dort vor fast acht Jahren meinen ersten Arbeitstag hatte. Alleine die Onlineredaktion zählt heute um die 150 Köpfe.

Gibt es da noch Potenzial nach oben oder eher Spardekrete nach unten?

Zeit Online ist spät gestartet. Das redaktionelle Wachstum war daher eher dem Umstand geschuldet, dass wir zu Beginn schlicht zu wenige waren, um unseren Anspruch an einen 24/7-Journalismus erfüllen zu können, der heute das Fundament für unsere gute Entwicklung ist. Es gibt keine Spardekrete, unser Haus denkt aber traditionell frugal.

Frugal?

Wir werden überall da noch enger zusammenarbeiten, wo es irgend möglich ist. Viele unserer Ressorts haben sich bereits eng verzahnt, was dank der pandemischen Kommunikation per Video und Slack nochmals einfacher geworden ist – die Onlineredaktion sitzt ja zum überwiegenden Teil in Berlin, die Printredaktion in Hamburg. Die Investigativ-Teams von Print und Online haben eine gemeinsame Führung, was sinnvoll ist, weil sie in gleichen Rhythmen an gleichen Themen arbeiten. Print und Online können voneinander noch viel lernen.

Mit der Gefahr, sich gegenseitig im Weg zu stehen?

Deshalb ist es wichtig, dass der jeweils eigene Beat erhalten bleibt und in jeweils angemessenen Zyklen gedacht werden kann. Ich kenne beide Sphären ganz gut und sehe, wie unterschiedlich Geschichten zum Teil entstehen und wie wunderbar es ist, wenn Redaktionen für ihr jeweiliges Medium denken. Nehmen Sie den Aerosol-Simulator von Zeit Online, mit dem Sie Ihr Wohnzimmer, Klassenzimmer oder Restaurants interaktiv nachbauen können, um das konkrete Infektionsrisiko zu berechnen. So etwas würde nie entstehen, wenn wir uns zunächst fragen würden, ob man das auch ausdrucken kann

Bezeichnet der Beat abgesehen von der Frequenz also auch eine andere Art von Rhythmus, Musikalität, Unterhaltung?

Einerseits die Frequenz, andererseits den journalistischen Ansatz. Der Kern eines digitalen General-Interest-Mediums ist fast zwangsweise aktueller Nachrichtenjournalismus. Das Netz lebt im Jetzt. Wenn jetzt die Pressekonferenz des RKI stattfindet oder die US-Wahl, müssen wir auch jetzt darüber berichten. Direkt danach sollten wir die Lage einordnen. Am Tag nach der US-Wahl etwa verzeichneten wir neun Millionen Besuche, so viele wie nie zuvor. Die vielen Menschen suchten im Jetzt nach den aktuellen Daten unseres Visualisierungs-Teams, nach der Einordnung unseres Politik-Ressorts und unserer Korrespondenten, und vielleicht auch nach einer Art Heimstatt in diesen dramatischen Stunden. Die Moderatoren unseres Nachrichten-Podcasts boten gemeinsam mit der Politik, dem Video- und dem Social-Team einen zwölfstündigen Video-Livestream an, so etwas hatten wir nie zuvor versucht. Und doch war der wohl einer der erfolgreichsten Streams des Jahres, erklärt uns heute Facebook. Solche Angebote ziehen neue Rezipienten an.

„Ein Teil der Medien hat für sich als Geschäftsmodell entdeckt, auf die Spaltung der Gesellschaft zu zielen.“

Welchen Beat schlägt da ein Autor wie Rezo an, der Ende 2019 eine Kolumne bekam – war das eine journalistische oder eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, weil er gerade im jungen Publikum unglaublich zieht?

Wir finden ihn als Stimme wichtig und sind beeindruckt, wie präzise so ein Youtuber recherchieren und schreiben kann. Ich fand es auch angemessen, dass er mit einem Nannen-Preis ausgezeichnet wurde. Rezos Kolumnisten-Vertrag endet übrigens, während wir sprechen, er war auf ein Jahr angelegt. Er bleibt uns aber als Autor verbunden. Wir haben ihn damals auch nicht kontaktiert, wir sind eher beiläufig aneinandergeraten.

Auf einer Cocktail-Party?

Da sind weder er noch ich besonders oft, aber Rezo war schon vorher unser User. Vielleicht sagt das auch etwas über unsere Zielgruppe aus.

Ende 20.

Wir haben viele junge, oft studentische Leser und Leserinnen. Es gibt das Magazin Zeit Campus Online, unser Verlag bietet umfassende Informationen über Studiengänge bis zum Hochschulranking an. Außerdem haben wir Zett.

Das Onlinemagazin der Zeit für junge Erwachsene.

… das gerade zu Zeit Online umgezogen ist. Rezo war keine kalte Business-Entscheidung.

Man kann auch warme Business-Entscheidungen fällen, aber wie beugt denn ein seriöses Onlinemedium wie Ihres der Gefahr vor, Clickbaiting zu betreiben? Schließlich sind auch Sie auf Reichweite angewiesen.

Diese Gefahr besteht im Onlinejournalismus seit Gründung, das direkte Feedback und die Live-Daten entfalten nirgendwo sonst einen vergleichbaren Sog. Journalisten müssen lernen, mit den Zahlen zu arbeiten, sich ihnen aber nicht zu ergeben. Ich habe das Gefühl, in jüngster Zeit ist eine Art Zweiteilung des digitalen Journalismus noch stärker hervorgetreten. Ein Teil der Medien hat für sich als Geschäftsmodell entdeckt, auf die Spaltung der Gesellschaft zu zielen und diese zu verstärken.

Sie sprechen von Bild?

Nicht nur die Medien des Hauses Springer, sondern auch andere nutzen soziale und politische Friktion als Energiequelle. Und wenn es keine Konflikte gibt, inszeniert man eben welche. Eine andere Gruppe wird eher für lösungsorientierten Journalismus belohnt, für verlässliche Informationen und Einschätzungen, für Dialog und Austausch. In dieser Sphäre sehen wir uns.

Als Moderator sozialer Grenzverläufe?

Zumindest nicht als diejenigen, die Grenzen verstärken und Scheinkonflikte erzeugen. Sondern als diejenigen, die eine vertrauenswürdige Plattform für das Selbstgespräch der Gesellschaft bieten. Streit kann viel Gutes bewirken.

„Wir finden Rezo als Stimme wichtig und sind beeindruckt, wie präzise er recherchieren und schreiben kann.“

Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Zeit Online durch diese Mittelposition unanfälliger für die Erregungskultur des Internets ist, also weniger Hass und Shitstorms erntet?

Mal so, mal so. Selbst, wenn wir gar nicht das Ziel verfolgen, zu polarisieren, ernten wir natürlich Widerspruch.

Aber eröffnet sich da nicht ein Dilemma, dass sich ein haltungsstarkes Medium positionieren muss, etwa zur wütenden Seite der Querdenker und Verschwörungsideologen?

Im Wort positionieren schwingt mit, dass es da verschiedene denkbare Standpunkte gäbe. Aber in diesen Fällen gibt es selten ein Sowohl-als-auch. Man kann schon die Frage stellen und auch recherchieren, ob SARS-CoV-2 in chinesischen Laboren designt wurde. Wenn alles dagegenspricht, können wir diese These aber nicht als Meinung akzeptieren, die gleichberechtigt gehört und verbreitet werden muss. Journalismus strebt danach, die Wahrheit herauszufinden und weiterzuerzählen. Auf manche Populisten muss er schon deshalb wie Aktivismus wirken.

Womit wir bei Donald Trump wären.

Die Berichterstattung über ihn war deshalb so schwierig, weil man den ganzen Tag damit zubringen konnte, zu erklären, was an seinen Behauptungen faktisch falsch war. Das ist falsch. Und das. Und das auch. So muss aus Trumpisten-Sicht zwangsläufig der Eindruck entstehen, die New York Times betreibe genau jene Hexenjagd, von der ihr Präsident dauernd erzählt. Dieser Effekt lässt sich kaum vermeiden.

Auch nicht nach dem 6. Januar, als er indirekt zum Putsch aufgerufen hat, dem einige seiner Fans mit dem Sturm aufs Kapitol gefolgt sind?

Selbst Fox hatte sich am Ende emanzipiert, andere füllen nun die Leerstelle. Auch Facebook und Twitter haben sehr spät reagiert und Trump blockiert. Aber der Trumpismus ist nun einmal viel größer als Trump, die Zustimmungsraten unter Republikanern für die Geschehnisse sind besorgniserregend. Ich fürchte, wir haben nicht ein Ende mit Schrecken gesehen, sondern den Anfang von etwas Schrecklichem. Manche Medien tragen daran eine Mitschuld, und das Netz spielt eine zentrale Rolle als Plattform. Aber es sind die vielen Menschen selbst, die den gemeinsamen Diskurs verlassen. Das kann kein Algorithmus bewirken. Auch Journalisten können da viel weniger ändern, als sie manchmal hoffen. Wichtig ist, dass wir Unsinn nicht unkommentiert als gleichwertige Meinung verbreiten, nur weil er von Meinungsführern geäußert wird.

Ausgewogene Berichterstattung hat also nichts mit Arithmetik zu tun?

Nicht im, zum letzten Mal: Qualitätsjournalismus. Journalismus, der den Namen verdient, ist der Wahrheitssuche verpflichtet, auch wenn das natürlich nur ein Ideal ist, nach dem wir streben. Leider gehört dazu auch die Erkenntnis aus der Forschung, dass das Konfrontieren mit Fakten allein Menschen selten dazu bewegt, ihre Sichtweise zu ändern, das gilt unabhängig von Bildungsgrad und Überzeugung, für Sozialdemokraten ebenso wie für AfD-Wähler. Wir ändern ungern unsere Standpunkte.

Was glauben Sie, mal grob in die Glaskugel geblickt, weitere acht Jahre später als Chefredakteur: Kriegen wir die Gräben wieder zugeschüttet?

Wenn die Daten der Soziologie stimmen, sind Deutschlands Gräben zum Glück nicht so tief. Das Fundament der Zivilgesellschaft besteht zu 80 bis 90 Prozent aus Menschen, die weiter gesprächsbereit sind. Das ist in vielen der Länder, wo wir mit unseren Projekten aktiv sind, anders. Deswegen bin ich für Deutschland und große Teile Europas zuversichtlich.

Jan Freitag arbeitet als freier Autor in Hamburg, gelegentlich auch für die Zeit. Andreas Chudowski ist Fotograf in Berlin.

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