Der Sturm ist bereits eingetroffen: Warum Redaktionen neue Regeln für die KI-Ära brauchen

KI-Unternehmer Tor Kielland, CEO des Technologieunternehmens Open Mind.
Der norwegische KI-Unternehmer Tor Kielland, CEO des Technologieunternehmens Open Mind, setzt sich seit Jahren mit den Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf den Journalismus auseinander. In unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus" analysiert er, wie KI-Systeme redaktionelle Prozesse bereits heute verändern.
Text: Tor Kielland
05.08.2025
Noch im Jahr 2023 habe ich in einem Artikel das Szenario der damals noch nahen Zukunft der Medien veröffentlicht. Das „Nachrichtenkarussell“ würde sich mithilfe von Künstlicher Intelligenz immer schneller drehen. Medienhäuser setzen KI ein, um jeden Nachrichteninhalt im Web innerhalb von Sekunden nach der Veröffentlichung zu lesen, Aussagen zu extrahieren, die Vertrauenswürdigkeit zu bewerten und alles, was ihr Publikum wissen muss, sofort wieder zu veröffentlichen. Damals schien es provokativ.
Doch heute ist das bereits Realität! Zahlreiche Unternehmen – von Start-ups über CMS-Anbieter bis hin zu großen Medienunternehmen – verändern mit KI-Systemen die Art und Weise, wie Nachrichten gesammelt, analysiert und verbreitet werden. Gleichzeitig werden auf Branchenkonferenzen immer noch hitzige Diskussionen geführt, ob KI überhaupt in die Redaktionen gehört. Auf dem diesjährigen Internationalen Journalismusfestival in Perugia beobachtete der KI- und Journalismusexperte David Caswell eine tiefe "Bruchlinie" zwischen denjenigen, die KI als existenzielle Bedrohung für den Journalismus ansehen, und denjenigen, die sie akzeptieren. Doch immer mehr übernehmen Pragmatiker die Debatte. Die Frage ist nicht mehr, ob KI in die Redaktionen gehört, sondern wie wir sie verantwortungsvoll einsetzen können.
Denn die Technologie dahinter hat einige paradoxe Effekte:
- Einerseits bedroht sie das traditionelle Geschäftsmodell, bei dem die originale Berichterstattung einen journalistischen und wirtschaftlichen Wert hat. Es kostet Zeit und Geld, bis andere Redaktionen die Fakten gefunden, gelesen und umgeschrieben haben. Wenn KI Tausende von Artikeln pro Minute verarbeiten kann, verschwindet dieser Zeitvorteil. Diese Marktrealität folgt ihrer eigenen Logik, so vorhersehbar wie die Schwerkraft.
- Andererseits verspricht die KI die Befreiung von repetitiven Aufgaben, die die Redaktion einen Großteil ihres Tages in Anspruch nehmen: Screening anderer Medien und neu Aufsetzen der News für die eigene Leserschaft. Wenn das die KI übernimmt, können sich Journalisten auf das konzentrieren, was Algorithmen nicht leisten können: Quellen erschließen, Ereignisse aus erster Hand erfahren, Interviews führen, neue und ursprüngliche Geschichten aufdecken. Auf diese Weise können Journalisten wieder Blickwinkel und Geschichten liefern, wie eine Maschine es nie könnte. Und am Ende müssen Journalisten auch weiterhin die redaktionelle Hoheit behalten, um verantwortungsvollen Journalismus zu veröffentlichen. Dies sind Entscheidungen, die dezentral getroffen werden müssen und die menschliche Werte erfordern.
Dieser Zwiespalt zwischen Bedrohung und Chance bestimmt, wo der Journalismus heute steht. Wir sind über den Punkt hinaus, an dem wir fragen, ob KI die Nachrichtenwelt verändern wird. Die Frage ist jetzt, ob die Branche diesen Wandel durch bewusste Entscheidungen und Prinzipien gestalten oder einfach dem Markt alles überlassen wird. Der Sturm kommt nicht, wir sind schon mitten drin.
Die Erosion ist spürbar
Unter dem starken Marktdruck der letzten 25 Jahre sind Medienhäuser verständliche, aber bedenkliche Kompromisse eingegangen. Dabei handelt es sich nicht um ein ethisches Versagen, sondern um rationale Reaktionen auf den Wettbewerb. Das Offensichtliche mag wohl sein, zu polarisieren und Kontroversen zu verbreiten, um Reichweite und damit Gewinne zu erziehlen. Das ist aber ein komplexeres Thema, das durch KI nicht so stark akzentuiert wird wie einige andere Herausforderungen:
KI ermöglicht eine nie dagewesene Personalisierung. Schon seit einiger Zeit nutzen große Medienhäuser die Vorlieben ihres Publikums, um den Titel oder die Startseite anzupassen. Bald ist es möglich, die Überschrift und den Teaser individuell anzupassen. Wenn Algorithmen die Leser in ihrer Komfortzone gefangen halten und Echokammern entstehen, verlieren wir eine der wesentlichen Funktionen des Journalismus: das Publikum inhaltlich und intellektuell herauszufordern, um zu wachsen. Die Frage ist nicht, ob dies das Engagement fördert (das tut es), sondern ob wir wollen, dass redaktionelle Nachrichten den Weg von Netflix und Co. gehen, auf dem jeder seine eigene Version der Realität sieht.
Dies ist die Variante, wenn Verlage und Medienmanager KI für Personalisierung bedenkenlos steuern können. Doch was wäre, wenn KI-Labors und Tech-Unternehmen dies steuern? Der aktuelle Goldrausch bei der Lizenzierung von Inhalten zeigt, in welche Richtung es geht. Wenn Associated Press, The Guardian und Axel Springer Verträge mit OpenAI abschließen und wenn kleinere Redaktionen ähnliche Verträge mit Tollbit und ProRata eingehen, dann monetarisieren sie nicht nur ihre Inhalte. Sie übertragen stillschweigend Werte an die Publikumswächter der Zukunft, die persönlichen KI-Assistenten. Die Personalisierung wird den Nutzern immer das geben, was sie wollen, und zwar auf Kosten der Offenlegung verschiedener Standpunkte. Persönliche KI-Assistenten könnten die ultimative Personalisierung darstellen: Perfekte Relevanz führt zu perfekter Fragmentierung. Wenn jeder seinen eigenen KI-Kurator hat, verlieren wir das gemeinsame Narrativ, das erst den demokratischen Diskurs möglich macht. Für Medienunternehmen heißt das: Vertrauen und Markenbekanntheit werden sich verschlechtern. In Folge werden sie mehr und mehr zu einer Inhaltsfabrik.
Hinzu kommt der Druck durch programmatische Werbung. Die Redaktionen (vor allem kleinerer Zeitungen) überlegen, welche Schlüsselwörter höhere Anzeigenpreise anziehen, und ändern die Auswahl und die Formulierung der Beiträge auf subtile Weise. KI kann das 10 Mal effizienter anbieten, untergräbt damit aber den Journalismus noch weiter.
Ein weiterer beunruhigender Trend sind die Angebote von PR-Agenturen, die gegen eine Gebühr die Platzierung in großen Medien garantieren. Wenn der Rolling Stone die "Top 10 PR-Agenturen im Jahr 2025" veröffentlicht, ist das im Grunde genommen eine Werbung für die eigenen Dienstleistungen mancher Agenturen. Die Leser können dieses Content Marketing kaum von echter redaktioneller Berichterstattung unterscheiden – und KI wird die Masse dessen im Zweifel noch weiter erhöhen.
All das zeigt, wie sehr die redaktionelle Unabhängigkeit unter Druck steht. Im digitalen Zeitalter gibt es viele dieser Angriffe auf die traditionellen Werte des Journalismus. Kompromisse wurden geschlossen, um das Überleben zu sichern. Und jetzt kommen KI-Lösungen dazu, die den bestehenden Herausforderungen eine neue Dimension hinzufügen. Auf den Gesetzgeber braucht man auch nicht zu warten, denn rechtlich gesehen haben Nachrichtenorganisationen kaum Schutz. Fakten können nicht urheberrechtlich geschützt werden. Das Feist-Prinzip in den USA, die Beschränkungen der Datenbankrichtlinie in der EU und das Fehlen einer Absicherung für "Hot News" in den meisten Rechtsordnungen lassen nur einen Schluss zu: Jedes KI-System kann Fakten aus jeder Nachrichtenquelle extrahieren und veröffentlichen, und zwar sofort, legal und in großem Umfang.
Wenn also die Produktion von KI-Inhalten auf Hochtouren läuft und das Geschäftsmodell der Erstellung von Originalinhalten in Frage gestellt wird, wird die Branche in Zukunft ihre Einnahmen durch Agenturen und algorithmisches Keyword-Stuffing erzielen?
Wenn Maschinen alles lesen
Die Antwort auf diese Frage liegt in der Erkenntnis, was KI für den Journalismus leisten kann.
Redaktionelle Veröffentlichungen stehen vor existenziellen Herausforderungen. Der Analyst Benedict Evans dokumentiert einen starken Rückgang der Pro-Kopf-Ausgaben für Nachrichten in den vergangenen 75 Jahren. Was als allmähliche Erosion begann, wurde ab der Jahrtausendwende zu einer Krise, als die Einnahmen weltweit einbrachen. Der Reuters Digital News Report vom 17. Juni 2025 bestätigt dies: Das Publikum zieht heute soziale Medien, Videoplattformen und Influencer den traditionellen Nachrichtenquellen vor. Schwindende Einnahmen, vernichten also Arbeitsplätze im Journalismus. Was die Branche jetzt braucht, ist eine gesteigerte Produktivität, um zu überleben. KI kann genau das liefern.
Doch darüber hinaus, kann KI auch bei der Überprüfung von Fakten unterstützen. Wo Menschen Stunden damit verbringen, ein einziges Zitat zurückzuverfolgen, findet KI innerhalb kürzester Zeit durch Dutzende von Nacherzählungen die ursprüngliche Quelle. Sie kann die heutigen Aussagen mit jahrelangen öffentlichen Aufzeichnungen abgleichen und Widersprüche aufdecken, an die sich kein Reporter erinnern würde. Es geht nicht nur um eine schnellere Überprüfung der Fakten, sondern um eine grundlegende Qualitätsveränderung. Anstatt sich auf "glaubwürdige Quellen" zu verlassen, können Journalisten jede Aussage anhand ihrer gesamten Historie überprüfen. Anstatt Fehler erst nach der Veröffentlichung zu entdecken, können sie sie verhindern. Und anstatt von den Lesern zu verlangen, dass sie ihrem Urteilsvermögen vertrauen, können sie ihre Arbeit zeigen: Diese Behauptung stammt von hier, widerspricht diesen früheren Aussagen und wurde über diese Kanäle verbreitet. Das ist heutzutage wichtiger denn je. 47 % der Weltbevölkerung sorgt sich laut dem Reuters Reporting über falsche Informationen durch Influencer. Das sind dieselben Persönlichkeiten, die zunehmend den Nachrichtenkonsum bestimmen.
Daneben kann KI auch verborgene Narrative in unterschiedlichen Quellen aufdecken. Zum Beispiel, wenn Zeitungen in verschiedenen Regionen anfangen, identische Formulierungen über ein kontroverses politisches Thema zu verwenden, was auf koordinierte PR-Kampagnen oder gemeinsame Eigentümerstrukturen schließen lässt. Oder sie kann dabei helfen, Indizes zu erstellen, die politische Positionen über Zeit und Geografie hinweg verfolgen, und so potenziell Analysen auf der Grundlage riesiger Mengen an glaubwürdigen Informationen erstellen.
Die größte Herausforderung für den Journalismus könnte jedoch die Zersplitterung der Wahrheit selbst sein. Es brauchte 400.000 NASA-Mitarbeiter, um Neil Armstrong auf den Mond zu bringen, aber nur eine Person, um die Idee zu verbreiten, dass es sich um einen Schwindel handele. Soziale Medien fragmentieren Standpunkte, was für die demokratische Vielfalt wertvoll ist, aber unkontrolliert zerstörerisch wirkt. Früher sorgten die Massenmedien für die Konsolidierung, die für die demokratische Stabilität notwendig war. Heute sind wir gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten. KI allein wird das Problem nicht lösen, aber sie kann dem traditionellen Journalismus helfen, in dieser zerklüfteten Landschaft besser zu bestehen.
Von Konkurrenz zur Kollaboration
Die Technologie wird nicht darüber entscheiden, ob KI dem Journalismus dient oder ihn ausbeutet. Es sind die Grundsätze, die ihre Nutzung bestimmen. Und diese Grundsätze können nicht aus dem Wettlauf einzelner Redaktionen gegeneinander entstehen, sondern erfordern kollektives Handeln.
Betrachten wir die derzeitige Landschaft mit Hilfe der Spieltheorie. Wenn jede Verkaufsstelle fürchtet, abgehängt zu werden, treibt rationales Eigeninteresse zu Kompromissen: Bedingungen von KI-Unternehmen werden akzeptiert, Engagement-Algorithmen implementiert und Keyword-Optimierung vorgenommen. Jede Entscheidung mag für sich genommen sinnvoll erscheinen, verschlechtert aber das Ökosystem in seiner Gesamtheit.
Die erforderlichen Grundsätze sind keine philosophischen Abstraktionen, sondern operative Spezifika. Sollten KI-gestützte Inhalte immer mit menschlichen Autoren versehen werden? Werden Unternehmen den Einsatz von KI transparent offenlegen oder hinter dem traditionellen Impressum verstecken? Wer erhält Zugang zu diesen leistungsstarken Werkzeugen: nur Redaktionen mit redaktionellen Standards oder jeder, der bereit ist, dafür zu zahlen?
Journalismus verfügt über die Infrastruktur für eine kollektive Reaktion, auch ohne Durchsetzungsmechanismen. Globale Organisationen wie die IJF oder UNESCO könnten konkrete KI-Grundsätze definieren, keine vagen Bestrebungen, sondern spezifische operative Standards. Große Nachrichtenmarken können eine Vorreiterrolle übernehmen, indem sie diese Standards dann öffentlich annehmen.
Dieses Modell hat in anderen Branchen Erfolg: Softwareentwickler schreiben keine individuellen Lizenzen, sondern übernehmen MIT-, Apache- oder GPL-Standards, die jeder versteht. Diese schaffen eine gemeinsame Sprache und klare Erwartungen. Der Journalismus braucht ähnliche Verankerungen, anerkannte Standards, die Grundsätze umsetzbar und überprüfbar machen.
Der Reuters-Bericht zeigt, dass das Vertrauen in etablierte Nachrichtenmarken weiterhin entscheidend für die Verifizierung ist, auch wenn sich das Publikum über verschiedene Plattformen verteilt. Dieses Vertrauen ist der Wettbewerbsvorteil des Journalismus, aber nur, wenn die Branche es gemeinsam schützt. Einzelne Unternehmen, die KI verantwortungsbewusst einsetzen, während ihre Konkurrenten an allen Ecken und Enden sparen, werden dieses Vertrauen nicht bewahren.
Das sollte bald umgesetzt werden. Denn fortschreitende KI-Fähigkeiten und zunehmender Wettbewerbsdruck schließen das Zeitfenster allmählich. Schon bald könnten sich die unterschiedlichen Praktiken zu sehr verfestigen. Die Frage ist nicht, ob der Journalismus über KI-Prinzipien verfügen wird – das garantieren die Marktkräfte. Die Frage ist, ob der Journalismus sie gemeinsam aufstellen wird oder ob Technologieunternehmen, Werbetreibende und einzelne Redaktionen unterschiedliche Regeln aufstellen werden.
Werden die Redaktionen ihr gemeinsames Interesse rechtzeitig erkennen? Können sich globale Journalismusorganisationen schnell genug bewegen? Dies sind praktische Herausforderungen, die darüber entscheiden werden, ob KI den Journalismus erweitert oder seine kommerzielle Auflösung beschleunigt.
Tor Kielland ist CEO von Open Mind, einem norwegischen KI-Unternehmen, dessen Technologie in den vergangenen neun Monaten Journalisten in Deutschland und anderen Ländern bei der Erstellung von Zehntausenden von Nachrichtenartikeln unterstützt hat.
In unserer Serie „Mein Blick auf den Journalismus“ fragen wir kluge Köpfe der Branche, wie wir den Journalismus besser machen.
Zur Übersicht: Mein Blick auf den Journalismus