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Kein Familiendrama: Berichterstattung über Femizide und der Umgang mit Überlebenden und Angehörigen

Eine Initiative aus Investigativjournalistinnen hat einen Leitfaden herausgegeben, wie Medien mit dem Thema Femizid umgehen können. (Bild: journalist)

Femizide – die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist – sind ein globales Problem. Im Durchschnitt werden den Vereinten Nationen zufolge jede Stunde mehr als fünf Frauen oder Mädchen weltweit von ihren Partnern oder anderen Familienmitgliedern getötet. In Deutschland tötet durchschnittlich alle zwei Tage ein Mann seine (Ex-)Partnerin. Eine Initiative aus Investigativjournalistinnen hat einen Leitfaden herausgegeben, wie Medien mit dem Thema Femizid umgehen können. Der journalist dokumentiert hier diesen Leitfaden.

15.06.2023

Das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt ist immens, dennoch haben Journalist*innen und Redaktionen oft Schwierigkeiten, den richtigen Zugang zu diesem Thema zu finden. Femizide als “Familientragödien” oder “Eifersuchtsdramen” einzuordnen, verharmlost Gewalt gegen Frauen und macht aus Femiziden schicksalhafte Einzelfälle. Medien sollten stattdessen regelmäßig den Kontext von geschlechtsspezifischer Gewalt und Femiziden beleuchten, strukturelle Probleme offenlegen und auch die Rolle von Akteuren wie Staat, Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft und Medien bei der Prävention und Aufarbeitung von Femiziden analysieren – nicht nur bei besonders brutalen Morden oder einmal im Jahr zum Frauentag. Medien sollten zudem geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide bei allen Frauen, auch nicht-weißen bzw. migrantischen Frauen analysieren – und nicht nur intensiv und überproportional berichten, wenn junge, weiße Mädchen oder Frauen aus der Mittelschicht vermisst oder getötet werden (Missing White Woman Syndrome). Was Journalist*innen beachten können, um angemessener über Femizide und geschlechtsspezifische Gewalt zu berichten und was im Umgang mit Überlebenden sowie Angehörigen wichtig ist, beschreibt dieser Leitfaden.

Eine Initiative der Investigativjournalistinnen Margherita Bettoni, Karen Naundorf, Sonja Peteranderl sowie von Henriette W., Überlebende eines Femizidversuchs; mit Unterstützung von Asha Hedayati (Anwältin), Christina Clemm (Rechtsanwältin), Sylke Gruhnwald (Investigativjournalistin, Initiatorin Stop Femizid), Gabriela Keller (Investigativreporterin Correctiv), Inga Pöting (Ein Team gegen digitale Gewalt), Gilda Sahebi (Journalistin), Nathalie Brunneke (Frauenhauskoordinierung).

1. Die Macht der Sprache: Das Framing von Femiziden

• Journalist:innen beeinflussen mit ihrer Berichterstattung über geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide, wie diese Probleme gesellschaftlich, aber auch von Betroffenen wahrgenommen werden. Eine unangemessene Berichterstattung, die Betroffenen etwa implizit oder explizit eine Teilschuld zuschreibt, kann dazu beitragen, dass andere Betroffene emotionale sowie physische Gewalt relativieren, sich schämen oder sie nicht anzeigen – unter Umständen mit tödlichen Folgen.

• Jeder Fall ist einzigartig, dennoch handelt es sich nicht um Einzelfälle: Die Berichterstattung sollte Femizide nicht als privates Beziehungsproblem darstellen, sondern verdeutlichen wie weit verbreitet Gewalt gegen Frauen ist. Sie sollte strukturelle Probleme und Ungleichheiten in der jeweiligen Gesellschaft klar benennen.Daten können dabei helfen, das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen zu verdeutlichen – in vielen Bereichen fehlen noch Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt, besonders wenn migrantische bzw. nicht-weiße Frauen betroffen sind (siehe Punkt 5).

• Der Begriff Femizid sollte in der Berichterstattung verwendet werden, da er die strukturelle Dimension dieser Form von Gewalt aufzeigt: Als Femizid wird die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts oder bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit bezeichnet. Da der Begriff im deutschen Sprachraum noch nicht flächendeckend bekannt ist, sollte er für ein besseres Verständnis jedes Mal definiert werden. Wichtig dabei: Nicht jede Tötung einer Frau ist ein Femizid. Stirbt eine Frau bei einem Amoklauf oder bei einem Raubüberfall, liegt ein anderes Motiv vor. Allerdings kann es auch Grenzfälle geben: Wenn etwa ein Schüler eine Lehrerin aus Frauenhass bei einem Amoklauf gezielt ermordet – oder wenn eine Frau bei einem Raubüberfall zuhause ist und vergewaltigt und ermordet wird. 

Femizide als “Familientragödien” oder “Eifersuchtsdramen” einzuordnen, verharmlost Gewalt gegen Frauen und macht aus Femiziden schicksalhafte Einzelfälle.

• Begriffe und Formulierungen, die Verständnis für den Täter erzeugen oder die Tat vermeintlich erklären, wie “Liebesdrama”, “Mord aus Eifersucht”, “Töten aus Leidenschaft” oder “er liebte sie zu sehr” sollten vermieden werden – den Tätern geht es um Macht und Kontrolle, nicht um Liebe. Gerade Femizide, die sich im Rahmen einer (Ex-)Partnerschaft abspielen, ereignen sich häufig rund um eine Trennung, vor allem, wenn diese von der Frau ausgeht. Für die Täter bedeutet dieser Moment einen Machtverlust, die Tötung der Frau ist der extremste Versuch, wieder die Kontrolle über sie und die Beziehung herzustellen. Ebenso sollten Ausdrücke vermieden werden, die Femizide als schicksalhafte Ereignisse statt als gezielte Tötungen erscheinen lassen, hinter denen ein strukturelles Problem steckt. Dazu gehören Ausdrücke wie “Familientragödie” oder “Beziehungsdrama”.

• Bei der Berichterstattung über andere Länder sollten Journalist*innen darauf achten, die Situation nicht aus eurozentrischer Perspektive, von oben herab zu analysieren, als gäbe es etwa in Deutschland kein Problem mit Gewalt gegen Frauen.

• Auch wichtig: Wie divers sind die Expert*innen, die das Geschehen einordnen? Und werden etwa migrantische Expert*innen nur angefragt, wenn es um Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre geht?   

 2. Wie erzählen – und was?

2.1. Die Tat und die Darstellung von Tätern und Betroffenen

• Journalist*innen sollten einen sparsamen und bewussten Umgang mit Rekonstruktionen des Tathergangs pflegen: Zum einen besteht die Gefahr, durch zu viele Details lediglich das voyeuristische Verlangen eines gewissen True-Crime-Publikums zu befriedigen, zum anderen können solche Rekonstruktionen retraumatisierend wirken. Redaktionen sollten bei der Berichterstattung über Gewalttaten – und auch bei der Verbreitung von entsprechenden Beiträgen in sozialen Netzwerken – diskutieren, ob ein Hinweis notwendig ist, der davor warnt, dass überraschend potentiell traumatisierende Inhalte folgen (Content Note). Teils genügen sorgfältig formulierte Überschriften, Unterzeilen und Vorspänne. So haben Betroffene die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie einen Text oder einen Film lesen oder sehen möchten, oder zum Selbstschutz darauf verzichten.

• Bei der Beschreibung des Tathergangs sollten Journalist*innen vorsichtig abwägen: Was ist für die Straftat relevant? Auf Angaben zum Verhalten, Aussehen oder zur Kleidung von Frauen, Spekulationen über einen vorangegangenen Streit oder darüber, ob eine Frau Alkohol oder Drogen konsumiert hat sowie auf Bewertungen ihrer sexuellen Vorlieben oder ihres Lebensstils sollten Journalist*innen verzichten – solche Einschätzungen verschieben die Verantwortung von den Täter zu den Betroffenen und schreiben ihnen eine Teilschuld zu. Jede Form des Victim-Blamings soll vermieden werden: Dies geschieht auch durch Nebensätze wie “Sie trug an diesem Abend einen sehr kurzen Rock, als sie nach Hause ging”, oder: “Oft kam sie nicht sofort nach der Arbeit nach Hause und erklärte ihm nicht warum. Das ärgerte ihn sehr.”

• Manche Femizid-Überlebende begrüßen es, wenn die Tat detailliert beschrieben wird, damit das Ausmaß der Gewalt für die Öffentlichkeit ersichtlich wird. Geht es bei der Berichterstattung um einen Femizid-Versuch und hat man einen Zugang zu der Betroffenen: Am besten fragen, inwiefern die Tat in Details beschrieben werden soll. 

• Journalist*innen sollten auf die strukturelle Dimension von Femiziden hinweisen. Hinter Femiziden steckt ein gesamtgesellschaftliches Problem, das unter anderem auf ungleichen Machtverhältnissen, falsch verstandenen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit und verankerten Rollenbildern basiert.

• Alle Frauen können von Beziehungsgewalt und Femiziden betroffen sein, von Armut und/oder Rassismus und verschiedenen Formen von Diskriminierung betroffene Menschen haben aber noch weniger Möglichkeiten, sich zu schützen. Geflüchtete Frauen, Frauen mit Behinderung oder schwarze Frauen erleben etwa besonders häufig geschlechtsspezifische Gewalt, haben aber gleichzeitig einen schlechteren Zugang zu Polizei und Justiz. Zudem können diese Frauen aufgrund von struktureller Diskriminierung Misstrauen gegenüber Polizei und Justiz haben oder bereits selbst Diskriminierung erlebt haben. Solche Dimensionen sollten in der Berichterstattung über Femizide berücksichtigt werden – ebenso wie bei der Auswahl von Protagonist*innen, Symbolbildern und -aufnahmen. Sind alle Protagonist*innen (bzw. alle ausgewählten Fälle) blond, weiß und gut situiert? Oder bezieht sich die Berichterstattung nur auf Frauen oder Täter, die ärmer, migrantisch oder BIPoC sind und verbreitet implizit Klischees, geschlechtsspezifische Gewalt komme nur in bestimmten “Milieus” vor? 

• Auch LGBTQIA+-Personen können Opfer von Femiziden werden. Es gibt aktuell kaum Zahlen im deutschsprachigen Raum über Femizid(-versuche) an ihnen, auch in der Berichterstattung finden solche Tötungen kaum Platz. Femizid(-versuche) an LGBTQIA+-Personen sollten mehr Raum in der medialen Berichterstattung erhalten.

• Frauen werden Studien zufolge bei Sexualdelikten oder Femiziden häufig als passiv und schwach dargestellt – mit negativen Folgen für die Selbst- sowie Fremdwahrnehmung von Menschen, die geschlechtsspezifische Gewalt erleben. Der Begriff  “Opfer” kann die Frau objektivieren. Er sollte daher sparsam verwendet werden oder kann durch den (ggf. abgekürzten oder anonymisierten) Namen der Frau oder Begriffe wie “Betroffene” oder “Überlebende” ersetzt werden. Besteht die Möglichkeit (etwa wenn eine Frau einen Femizidversuch überlebt hat), sollte die Protagonistin gefragt werden, in welcher Bezeichnung sie sich am ehesten gespiegelt sieht – manche Menschen möchten nicht als “Opfer” bezeichnet werden, andere finden, die Bezeichnung “Betroffene” werde der Schwere der Tat nicht gerecht.

Frauen werden Studien zufolge bei Sexualdelikten oder Femiziden häufig als passiv und schwach dargestellt. Der Begriff  “Opfer” kann die Frau objektivieren und kann durch Begriffe wie "Betroffene" oder "Überlebende" ersetzt werden.

• Auch visuell sollten klischeehafte Darstellungen von Frauen vermieden werden, die den Täter als den Stärkeren und die Frau als die Schwache, als passives Opfer, darstellen – wie Aufnahmen, auf denen die Frau in einer Ecke kauert und der Mann mit erhobener Hand vor ihr steht. Medien sollten generell auf explizite Gewaltdarstellungen verzichten – bereits ein Symbolfoto, auf dem ein Mann etwa einer Frau die Hände um den Hals legt und sie würgt, kann Betroffene wie Rezipient*innen triggern.

• Oft drehen sich gerade längere Reportagen über Femizide um die Täter. Die Autor*innen analysieren das Verhalten des Täters, rekonstruieren sein Leben und seine Hobbys, oft auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum er das getan hat. Somit rücken aber Betroffene in den Hintergrund. Ihre Sicht sollte eine zentrale Stellung im Beitrag haben, entweder durch die eigene Darstellung (bei Femizid-Versuchen) oder über die Worte von Angehörigen (wenn die Frau nicht überlebt hat).

• Der Gewalt, im schlimmsten Fall dem Mord, geht häufig eine lang anhaltende Situation physischer und/oder psychischer Gewalt durch den Täter gegenüber dem Opfer voraus. Wenn Informationen vorliegen, sollte dies Teil der Berichterstattung sein. Beispiel: Demütigungen, soziale Isolation, übermäßige Kontrolle.

• Falls Informationen zu einer gewaltgeprägten Vorgeschichte des Täters vorliegen, können diese relevant sein, um eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob Präventionsmechanismen versagt haben.

• Bei den Angaben zum Täter ist die Wortwahl wichtig: Wurde er am Tatort gefasst, ist geständig, oder es liegen konkrete Hinweise für seine Beteiligung an der Tat, ist er zunächst einmal ein “mutmaßlicher Täter”. Wurde ein Strafverfahren eingeleitet, aber es liegt noch kein Urteil vor, ist er ein “Angeklagter” bzw. ein “Beschuldigter”. Liegt ein Urteil vor, dann kann der Begriff “Täter” oder auch “Mörder” verwendet werden. 

2.2. Präventionsmechanismen

• Die Berichterstattung sollte über den Tatmoment hinausgehen und Missstände ausleuchten: Warum haben Präventionsmaßnahmen versagt – oder gab es gar keine? Wurden Überlebende oder Angehörige nach der Tat unterstützt? Wie haben Polizei und Justiz auf den Fall reagiert? Hatte der Täter unberechtigt Zugang zu Waffen? Hat er digitale Hilfsmittel wie Spionageapps oder Tracker zur Überwachung von Frau oder Kindern genutzt, um die Tat vorzubereiten?

• Konstruktive Berichterstattung zeigt Verbesserungsbedarf und mögliche Lösungsansätze auf: Journalist*innen können analysieren, welche Präventionsmaßnahmen in einer Region oder bundesweit bereits existieren, wie effektiv diese sind, welche Strategien sinnvoll wären, um Gewalt rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern, ob es – auch international – erfolgreiche Pilotprojekte gibt, die Gewalt gegen Frauen und misogyne Einstellungen eindämmen. Wie könnten Angehörige und Überlebende besser unterstützt werden? Was bräuchten lokale Hilfsangebote, um Betroffene besser zu unterstützen? Was müsste sich bei Polizei und Justiz im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt ändern? Wie reagiert die Zivilgesellschaft, gibt es Proteste? Was fordern Expert*innnen und Initiativen?

• Die Berichterstattung sollte auch über digitale Gewalt und Schutzmaßnahmen aufklären und die Tech-Konzerne dazu anhalten, nachzubessern – denn technische Hilfsmittel spielen vor und bei Femiziden eine wachsende Rolle. Insbesondere die Cloud-Funktionen von Apple und Google ermöglichen leicht Missbrauch und Überwachung. Auch praktisch wirkende Einstellungen, zum Beispiel das Verbinden von Geräten oder vermeintliche Schutzfunktionen wie die Diebstahlfunktionen können gefährlich sein, da sie die Ortung der Nutzerin aus der Ferne ermöglichen. 

• Die Berichterstattung sollte – falls möglich – auf Beratungsstellen wie Weißer Ring und dessen “Opfer-Telefon” 116 006, Hotlines wie das Hilfetelefon 116 016 „Gewalt gegen Frauen”, die Beratungsangebote-Datenbank des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) oder die Online-Suche für Frauenhäuser und Fachberatungsstellen der Frauenhauskoordinierung verweisen. In der Schweiz sind unter www.stopfemizid.ch Hilfsangebote zu finden, in Österreich unter www.frauenhelpline.at

2.3.  Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre

• Auch Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre (in der Berichterstattung oft als “Ehrenmorde” bezeichnet) sind Femizide. Journalist*innen können also auf den Begriff “Femizid” zurückgreifen, um über eine solche Tat zu berichten.

• Der Begriff “Ehrenmord” vermittelt Verständnis für den Täter, denn er verschafft den Eindruck, dieser habe seine Frau bzw. seine Familienangehörige getötet, weil er sich in seiner Ehre verletzt gefühlt habe. “Mord im Namen einer vermeintlichen Ehre” ist laut den Neuen Deutschen Medienmacher*innen eine reflektierte Alternative.

“Mord im Namen einer vermeintlichen Ehre” ist laut den Neuen Deutschen Medienmacher*innen eine reflektierte Alternative zum Begriff "Ehrenmord".

• Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre sind äußerst selten: Einer Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht im Auftrag des BKA zufolge, die “Ehrenmorde” zwischen 1996 und 2005 analysiert hat, kommt es durchschnittlich zwölf Mal im Jahr zu Morden im Namen einer vermeintlichen Ehre, davon zwei im engeren Sinne, also Taten, bei denen eine Frau getötet wurde, um die vermeintliche Familienehre wiederherzustellen. Dennoch finden sie immer wieder mehr Platz in der Berichterstattung als andere Formen von Femiziden, die hingegen viel häufiger vorkommen. Daten können dabei helfen, die Häufigkeit der Phänomene besser einschätzen zu können (siehe Punkt 5).

3. Der Umgang mit Betroffenen bzw. Angehörigen

3.1. Kontaktaufnahme

• Bei Interviewanfragen sollten Journalist*innen keinen Druck aufbauen; das geschieht auch schon durch Sätze wie etwa: “Der Täter hat sich entschuldigt und sich bei den Rettern bedankt, jetzt haben Sie Gelegenheit dazu”. 

• Statt Betroffene bzw. Angehörige am Tatort, im Krankenhaus, bei ihren Wohnsitzen bzw. an Arbeitsplätzen direkt anzusprechen, sollte zunächst eine sanftere Art der Kontaktaufnahme versucht werden, wie etwa über einen Brief oder eine E-Mail, oder über die Anwält*innen, die sie vertreten. Wenn Überlebende oder Angehörige die Öffentlichkeit suchen und zum Beispiel auf Demonstrationen präsent sind, kann ein vorsichtiges, respektvolles Ansprechen sinnvoll sein, bei dem Journalist*innen sich und ihr Vorhaben kurz vorstellen können. Dann haben die Angesprochenen bereits eine Person vor Augen, wenn sie danach etwa eine Anfrage per E-Mail erhalten.

3.2. Vor dem Interview

• Journalist*innen sollten sich im Umgang mit Menschen, die ein Trauma erlebt haben, bewusst sein, dass ihre Fragen jederzeit zu einer Re-Traumatisierung führen können. Bei der Vorbereitung des Interviews sollten Journalist*innen sich daher fragen, wie sie mit den Betroffenen umgehen können, um keine Re-Traumatisierung oder sekundäre Viktimisierung zu erzeugen. Das Dart Center for Journalism & Trauma bietet Richtlinien und Beratungsangebote für Journalist*innen, um den richtigen Umgang mit traumatisierten Menschen zu finden.

• Jede Betroffene ist einzigartig, daher gibt es keine Vorgaben, an die man sich in jeder Situation gleichmäßig halten kann. Was immer gilt ist: Vorwürfe und Victim-Blaming sollten in Interviews vermieden werden. Dafür hilft es, Bewusstsein und Wissen über die Vielfalt der Gründe zu haben, warum Frauen sich oft aus gewalttätigen Beziehungen nicht lösen können, um die Frage zu vermeiden: “Und warum sind sie nicht einfach gegangen?”

3.3. Das Interview

• Wichtig ist, bei den Gesprächen keinen Druck aufzubauen, etwa um die Antwort auf eine bestimmte Frage zu bekommen.

• Schuldzuweisungen oder die Suche nach den Ursachen hinter dem Femizid(-versuch) sollten vermieden werden. Der Grund ergibt sich schon aus der Definition von Femiziden. 

• Es ist oft hilfreich, offen mit den Betroffenen und den Angehörigen umzugehen und ihnen zu erklären, wie man über den Fall berichten möchte. Gerade bei sehr verunsicherten, ängstlichen Personen sollten die „Spielregeln“ des Interviews/der Berichterstattung sehr deutlich erklärt werden. Menschen, bei denen die Berichterstattung so weit in die Intimsphäre hineingeht, sollten zudem die Möglichkeit erhalten (und ausdrücklich darüber informiert werden), ihre Aussagen und Geschichten wieder zurückzuziehen – dies vermittelt ihnen das Gefühl, Kontrolle über den Prozess zu haben.

3.4. Nach dem Interview

• Journalist*innen sollten besonders sensible Stellen oder Aufnahmen vor der Veröffentlichung nochmals mit den Betroffenen oder Angehörigen absprechen.

• Eine Veröffentlichung kann für Betroffene und Angehörige unvorgesehene Folgen haben – vor allem, wenn sie ihre Geschichte noch nie medial erzählt haben und/oder sie keine Medienerfahrung haben. Fair ist, Menschen auf mögliche Folgen von Medienöffentlichkeit hinzuweisen und auch um die Veröffentlichung herum in Kontakt mit ihnen zu bleiben, sicherzustellen, dass sie mit der Öffentlichkeit umgehen können, und sie möglicherweise in Krisen an weiterführende Beratungs- oder Hilfsangebote weiterzuverweisen.

• Wichtig: Der Interviewpartnerin Bescheid sagen, sobald ein Veröffentlichungstermin feststeht und danach einen Link/ein Exemplar der Zeitung oder des Magazins schicken. 

• Über ein traumatisches Ereignis wie einen Femizid zu berichten, kann auch für die Reporter*innen traumatisierend sein. Es hilft, offen über das Erlebte zu sprechen, in der Redaktion bzw. mit Kolleg*innen, aber auch mit Familien und Freund*innen – oder sich an Beratungsangebote zu wenden.

4. Sicherheitsrisiken

• Journalist*innen sollten die Privatsphäre von Betroffenen bzw. Angehörigen sowie die Privatsphäre des (mutmaßlichen) Täters und seiner Angehörigen respektieren und sich versichern, dass ihre Identität geschützt wird, wenn sie sich Anonymität wünschen. 

• Generell sollten Journalist*innen sich bei jedem personenbezogenen Detail, das sie im Text anbringen möchten, fragen, ob es für die Geschichte wesentlich ist oder ob man jemanden unnötig exponiert. Die Hobbys eines Täters oder einer Betroffenen etwa sind nach einem Tötungsversuch erstmal zweitrangig, können aber eine Person schnell identifizierbar machen. Ähnliches gilt für Erkennungsmerkmale wie Tätowierungen oder auffällige Narben.

• Besteht seitens einer Betroffenen oder eines Angehörigen der Wunsch nach Anonymität, sollte man auch auf der Bildebene aufpassen: Fotos von Personen sollten gut verpixelt, Fotos vom Wohnort oder Straßennamen vermieden werden. 

• Auch die Adressen von Schutzhäusern für Gewaltbetroffene sollten bei der Berichterstattung geschützt werden – Blicke aus dem Fenster auf die Umgebung, Häuserfassaden oder Straßennamen können Rückschlüsse auf den Standort liefern.

• Bevor etwa mit Digitalkameras oder Smartphones bei Interviews, Haus- oder Frauenhausbesuchen erstellte Aufnahmen an die Redaktion weitergegeben oder online veröffentlicht werden, müssen Metadaten wie Ortsdaten mit geräteeigenen oder externen Tools entfernt werden.

5. Daten zu Femiziden und weitere Leitfaden

• Verschiedene Stellen innerhalb eines Landes wie Deutschland, aber auch Staaten weltweit nutzen unterschiedliche Definitionen für Femizide. Auch die strafrechtlichen Definitionen für Femizide können sich von Land zu Land unterscheiden; in manchen Ländern existiert Femizid noch gar nicht als eigener Straftatbestand. Journalist*innen müssen jeweils sorgfältig prüfen, auf welche Quellen und auf welche Fälle sich Daten beziehen, auch bei internationalen Vergleichen vorsichtig sein – und auch die Unschärfen oder Probleme bei der Datenlage transparent machen.

• Einmal im Jahr, im November, veröffentlicht das Bundeskriminalamt Statistiken zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland. Diese basieren auf den Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und bieten einen Überblick, wie viele Frauen (und wie viele Männer) im Rahmen einer (Ex-)Partnerschaft in Deutschland jährlich getötet werden. Die Zahlen bieten eine erste Orientierung, wenn es um sogenannte Intimizide geht, also Femizide im Rahmen einer Partnerschaft. Sie sind jedoch nicht allumfassend, das Dunkelfeld dürfte weitaus größer sein.

• Das FEM-UnitED-Projekt hat Femizide in Europa und staatliche und gesellschaftliche Reaktionen auf häusliche Gewalt erforscht und einen Leitfaden für Medienschaffende veröffentlicht.

• Auch zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Femiziden an BIPoC fehlen in Deutschland noch Daten und Studien – auf diesen Missstand können Medien zumindest aufmerksam machen.

• Das Rechercheprojekt “Stop Femizid” dokumentiert Femizide in der Schweiz, teilt Wissen über das Thema und hat einen Leitfaden über die Berichterstattung zu Femiziden hergestellt. 

• Die UNO-Organisation UNODC veröffentlicht regelmäßig Berichte mit weltweiten Zahlen zu Femiziden.

• Das European Observatory on Femicide verlinkt unter anderem wissenschaftliche Studien und Artikel zum Thema Femizide. 

• Das Projekt “Femi(ni)cide Watch” bietet Zahlen und Informationen zum Thema Femizide. 

• Das Global Investigative Journalism Network (GIJN) hat einen Guide für Journalist*innen (deutsche Version) erstellt, die zu Femiziden recherchieren wollen.

• Der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF) gibt in seinem Bericht “Gewaltfrei leben” Anregungen zur medialen Prävention von Gewalt an Frauen und ihren Kindern.

• Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung analysiert die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen (Juli 2021).

Dieser Leitfaden (Stand: 15.06.2023, ergänzt am 17.6.2023) erhebt keinen Anspruch, vollständig zu sein und soll regelmäßig aktualisiert werden – bitte senden Sie Hinweise und Ergänzungen an MedienleitfadenFemizide@gmail.com.

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