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Neue Talk-Ideen
Melanie Stein sagt: Gerade junge Leute interessieren sich nicht mehr für die eingefahrenen Talkshow-Formate (Foto: Romy Geßner)
Bei der Journalistin Melanie Stein dreht sich ganz vieles um Talkshows. Eigene Ideen, wie Polittalks anders und besser funktionieren können, setzt sie als Moderatorin des Online-Debattenformats Diskuthek um – und trifft damit vor allem den Nerv der jungen Generation. Von Kristina Wollseifen
25.06.2020
Vor einigen Monaten erhielten die vier wichtigsten politischen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – Hart aber fair, Maischberger, Anne Will und Maybrit Illner – einen denkwürdigen Preis: Der Verein Neue deutsche Medienmacher*innen verlieh ihnen die Goldene Kartoffel, einen Preis für „besonders unterirdische Berichterstattung“. Jury-Vorsitzende Sheila Mysorekar fand dazu deutlich Worte: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte sich an alle Bürger*innen richten. Wenn aber ausgerechnet die Talkshows unserer ARD und unseres ZDF Rechtsradikalen und Rassisten immer wieder Sendezeit schenken, hingegen nur selten ernstzunehmende Vertreter und Vertreterinnen ethnischer und religiöser Minderheiten einladen, dann werden sie ihrem Auftrag nicht gerecht.“Kritik dieser Art erreicht die etablierten Talkshows immer wieder. So meldete die „Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit“ namens CLAIM kürzlich, dass in den Sendungen des Jahres 2019 viele Bevölkerungsgruppen unterrepräsentiert gewesen seien, darunter Ostdeutsche, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Ausländer. Das wünschen sich viele anders – allen voran Melanie Stein. Die Moderatorin und Journalistin ist seit ihrer Kindheit Talkshow-Fan, damals flimmerten die Talkrunden von Arabella Kiesbauer und Bärbel Schäfer über ihren Fernsehbildschirm. Später fand Stein Interesse am Presseclub, an den Talkrunden von Sabine Christiansen und Frank Plasberg – und irgendwann stellte sie sich die Frage, ob und wie Polittalks anders und besser funktionieren könnten. „Gerade die junge Generation ist nicht interessiert daran, sich Talkshows nach dem immer gleichen Prinzip und mit einer vorgefertigten Dramaturgie anzuschauen, in denen die Gäste vorab geplante Statements abspulen“, sagt Stein. Bereits während sie im Psychologie-Studium steckte, entwickelte sie Ideen für neue Formate. Dabei sollten neben Politikern auch Wissenschaftler eine wichtige Rolle spielen. Doch bevor Stein ihre Talk-Pläne weiterverfolgen konnte, beendete sie ihr Studium und volontierte beim NDR. Danach arbeitete sie als On-Air-Reporterin für das NDR-Vorabendprogramm und als Autorin für das Medienmagazin Zapp, für die ZDF-Sendung heuteplus und für die ARD-Nachrichten. Nebenher entwickelte Stein eine Format-Idee weiter: Darin sollen Wissenschaftler statt Journalisten Fragen stellen, auch das Publikum will Stein stark einbinden. Kurz vor der Europa-Wahl 2019 konnte sie ihre Idee erstmals umsetzen – dank der Unterstützung der Zeit-Stiftung ist ein Probelauf im Kasten. In der Diskussionsrunde war unter anderem der griechische Politiker Yanis Varoufakis mit von der Partie. Ihr Wunsch: Das Format auch fürs Fernsehen aufzubereiten – in einer online-tauglichen Variante, versteht sich. Denn auch die Videoplattform YouTube würde sich aus ihrer Sicht für solch alternative Polittalk-Formate gut eignen.Das hat Stein auch als Moderatorin des Online-Debattenformats Diskuthek erfahren. Das Wochenmagazin Stern startete es im vergangenen Sommer. Dafür hatte der Stern im Rahmen der Google News Initiative eine Anschubfinanzierung von YouTube erhalten. Die Google-Initiative soll Innovationen im europäischen Journalismus fördern. Bei einem Casting konnten sich Stein und der Journalist Aimen Abdulaziz-Said durchsetzen – und wurden als Moderatoren für das Format engagiert. „Es war mir aber auch ein Anliegen, nicht nur Moderatorin, sondern Teil der Redaktion zu sein“, sagt Stein. „Gemeinsam haben wir die Show weiterentwickelt.“ Inzwischen hat die Diskuthek-Redaktion rund 30 Folgen konzipiert, abgedreht und auf der Stern-Webseite sowie auf YouTube veröffentlicht. Das Prinzip: In jeder Folge sitzen sich zwei Menschen mit gegensätzlicher Meinung gegenüber und diskutieren aktuelle gesellschaftspolitische Themen. Eine Kurdin trifft auf einen Türken, ein Fleischesser auf eine Veganerin, ein Polizist auf eine Aktivistin – oder Politiker auf Politiker. Zum Schlagabtausch in der ersten Folge traf der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert auf CDU-Jungpolitiker Philipp Amthor. Die beiden stritten über soziale Marktwirtschaft, Wohnungsnot und Klimaschutz. Auf YouTube kommt die Pilotfolge mittlerweile auf mehr als eine Million Aufrufe. Im Schnitt werden die Folgen jeweils 290.000-mal aufgerufen, teilt Gruner+Jahr mit. Die Diskuthek kommt vor allem bei jungen Menschen an: Rund zwei Drittel der Zuschauer sind zwischen 18 und 24 Jahre alt, der Rest des Publikums ist meist zwischen 25 und 34 Jahre alt. „Damit erreichen wir genau jene, für die die Diskuthek konzipiert wurde“, sagt Stein. Sie moderiert das Onlineformat im Wechsel mit Aimen Abdulaziz-Said. Was sind die Erfolgsrezepte des Formats? „Um anders als Talkformate im Fernsehen die junge Generation zu erreichen, ist zunächst die Themenauswahl essenziell“, sagt Stein. Was steckt hinter dem Start-up-Hype? Killt Feminismus die Männlichkeit? Ist das Abitur in Deutschland zu leicht? „Auf solche Fragen geben klassische Polit-Talks kaum Antworten, aber es sind Themen, die die junge Generation bewegen.“Dazu kommt eine besondere Art der Gesprächsführung. So ist es ein Ziel jeder Folge, die Gäste gemeinsam mit dem Moderator in eine offene Diskussion zu führen. Neben dem ehrlichen Interesse daran, was das Gegenüber zu sagen hat, sollen im Gespräch auch neue Gedanken und möglicherweise konstruktive Lösungsansätze für Probleme entstehen, sagt Stein. „Bei klassischen Talkshows im Fernsehen ist dafür selten Zeit. Unter Live-Druck punkten vor allem Gäste mit rhetorischem Geschick. Nach dem Motto: Wer die meiste Sendezeit hat, gewinnt“, sagt die Journalistin. „Da wir viele Folgen aufzeichnen und schneiden, können wir den Gästen mehr Raum und Zeit lassen, sich auszutauschen.“