Mehr als “Messermänner”, Täter-Obsession und Gewalt: Ein Leitfaden zur Polizei- und Kriminalitätsberichterstattung

Spekulationen über Taten, Copy-and-Paste von Polizeimeldungen, Statistikfehler, Sensationalismus und rassistische Verzerrungen: Fehler und ein eingeschränkter Fokus bei der Berichterstattung über Polizei und Kriminalität sind kein Einzelfall. Dieser journalist-Leitfaden zeigt Ansätze auf, wie Medien ihre Berichterstattung verbessern können. Von: Sonja Peteranderl

28.07.2025

Polizei- und Kriminalitätsberichterstattung ist beliebt, doch Medien berichten über Kriminalität oft in einer dramatisierenden Art und Weise, häufig fehlen eine angemessene Einordnung von kriminellen Phänomenen sowie wissenschaftliche Perspektiven. Medien geben Polizeimeldungen teils ungeprüft oder fehlerhaft wider, gerade bei Gewalttaten wie potenziellen Anschlägen werden Ereignisse zu oft vorschnell eingeordnet. Es kommt vor, dass Kriminalitätsstatistiken verkürzt oder falsch zitiert werden oder Journalist*innen Politiker*innen oder Polizei-Lobbyist*innen medial auch dann Raum geben, wenn diese zuvor wiederholt durch Verzerrungen oder gar Falschaussagen aufgefallen sind. Während über sogenannte “Ausländerkriminalität” im Vergleich zu Delikten, die von weißen Täter*innen deutscher Nationalität begangen werden, unverhältnismäßig oft berichtet wird, fehlt eine tiefergehende Analyse von Diskriminierung und Polizeigewalt gegen marginalisierte gesellschaftliche Gruppierungen. In einem Themenspektrum, das von Rechtsextremist*innen, aber auch Politiker*innen politisch instrumentalisiert wird, und das sich auf das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung auswirken kann, ist diese Nachlässigkeit fatal. Medien müssen aufpassen, sich nicht zum Instrument politischer Interessen zu machen.

Was sollten Medien bei der Berichterstattung über kriminelle Trends beachten? Wie kann der Fokus auf Täter, Gewalt und Terror aufgebrochen werden? Warum sind Polizeimeldungen und Polizeigewerkschaften nicht immer eine verlässliche Quelle? In diesem Leitfaden gibt der Journalist Tipps, wie eine verantwortungsvolle Berichterstattung über Polizeiaktivitäten, Kriminalität, Täter*innen und Betroffene aussehen kann. Journalist*innen sollten ihre Berichterstattung auf Fehler und Verzerrungen wie rassistisch geprägte Bedrohungswahrnehmungen prüfen, sie entdramatisieren und Entwicklungen faktenbasiert und angemessener einordnen. Medien sollten ihre Kriterien bei der Auswahl von Themen, Darstellung und Protagonist*innen stärker hinterfragen und sich bewusst sein, dass sie mit beeinflussen, welche gesellschaftlichen Probleme besonders sichtbar werden, wer für sie verantwortlich gemacht wird und welche eher unsichtbar bleiben. 

Sonja Peteranderl (https://linktr.ee/sonja.peteranderl), die Autorin dieses Leitfadens, berichtet für Medien wie Journalist, Der Spiegel oder SWR Vollbild zu Organisierter Kriminalität, Gewalt, kriminellen Trends, Polizei/Sicherheit und Technologie, unter anderem in Europa, den USA und Lateinamerika; sie ist Gründerin von BuzzingCities Lab, einem Think Tank, der international zu digitaler Innovation und Kriminalität arbeitet. In diesen Leitfaden sind auch Anregungen von folgenden Expert*innen und Journalist*innen eingeflossen: Tobias Singelnstein (Kriminologe und Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Goethe-Universität Frankfurt), Gilda Sahebi (Journalistin und Autorin von “Wie wir uns Rassismus beibringen”/”Verbinden statt Spalten”), Nadia Zaboura (Kommunikationswissenschaftlerin und Medienkritikerin), Mohamed Amjahid (Journalist und Autor von “Alles nur Einzelfälle. Das System hinter der Polizeigewalt”), Aiko Kempen (Investigativjournalist, FragdenStaat), Ann-Katrin Müller (Politikredakteurin, Der Spiegel), Matthias Monroy (Redakteur der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP), Sandro Mattioli (Journalist, Autor von “Germafia”, Vorsitzender von Mafianeindanke e.V.).

Nur ein Ausschnitt der Realität: Filter bei der Polizei- und Kriminalitätsberichterstattung erkennen 

  • Das Bundeskriminalamt veröffentlicht einmal jährlich die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die von den 16 Landeskriminalämtern gelieferte Landesdaten zusammenfasst. Daten in tabellarischer Form sowie Informationen zu bestimmten Deliksbereichen können auf der Webseite des BKA heruntergeladen werden (https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html). Die PKS bildet jedoch nur die polizeilich registrierten Fälle ab, das sogenannte “Hellfeld” – also Taten oder mutmaßliche Taten, die entweder bei der Polizei angezeigt wurden oder der Polizei durch Ermittlungen bekannt geworden sind. Belastbare Schlüsse auf Kriminalitätstrends abzuleiten ist auf Grundlage dieser Datenbasis nicht möglich, da sie nicht das tatsächliche Kriminalitätsgeschehen abbbilden. Zudem werden nur Tatverdächtige und nicht tatsächlich verurteilte Täter*innen erfasst. Die PKS ist also nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Dies sollte kontextualisiert werden, wenn PKS-Daten bei der Berichterstattung verwendet werden.
  • Journalist*innen sollten zudem daran denken, dass die Anzeigebereitschaft von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird und auch von den jeweiligen Täter-Opfer-Konstellationen sowie dem Deliktbereich abhängt. Einbrüche werden etwa häufiger angezeigt als schambehaftete Gewalt wie sexualisierte Übergriffe oder Vergewaltigungen. Übergriffe innerhalb von Familien werden seltener zur Anzeige gebracht als ähnliche Straftaten, bei denen Fremde Täter*innen sind. Menschen, die diskriminiert werden, sind verletzlicher: Geflüchtete Menschen, Personen mit Behinderung, Schwarze Menschen oder Personen, die mehrfach diskriminiert werden, haben ein höheres Risiko, Gewalt zu erleben, haben aber gleichzeitig oft einen schlechteren Zugang zu Polizei und Justiz. Zudem können sie aufgrund von struktureller Diskriminierung Misstrauen gegenüber Polizei und Justiz haben oder bereits selbst schlechte Erfahrungen mit Sicherheitskräften gemacht haben (https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Rassismus_Polizei_MDI.pdf). Studien wie die regelmäßig durchgeführte repräsentative Opfer-Befragung “Sicherheit und Kriminalität in Deutschland”(SKiD) von BKA und Länderpolizeien können das Dunkelfeld ein Stück weit erhellen, indem sie Opfererlebnisse aus der Bevölkerung, Anzeigeverhalten sowie Kriminalitätsfurcht und Einstellungen gegenüber der Polizei analysieren (https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebnisse/Dunkelfeldforschung/SKiD/skid_node.html).
  • Medien blicken – wie auch die Gesellschaft – durch einen Filter auf Kriminalität: Bestimmte Kriminalitätsformen werden als besonders schwerwiegend und bedrohlich wahrgenommen, andere als weniger problematisch. Über sogenannte “Clan-Kriminalität” wird häufig berichtet, schwerwiegende Formen von Wirtschaftskriminalität wie Korruption, Geldwäsche, Steuerhinterziehung oder Betrug, die von Täter*innen aus einer höheren sozioökonomischen Schicht begangen werden, werden häufig behandelt wie Kavaliersdelikte, als weniger moralisch verwerflich eingestuft und dadurch als weniger berichtenswert. Dabei ist auch der durch Wirtschaftskriminalität verursachte Schaden enorm.
  • Im Bereich der organisierten Kriminalität erschöpft sich die Berichterstattung zu häufig in Drogenrazzien oder einzelne Festnahmen, anstatt die kriminellen Strukturen in den Blick zu nehmen, Aktivitäten in diversen legalen und illegalen Sektoren aufzudecken oder Geldwäsche-Strategien und potenzielle Verbindungen zwischen transnational agierenden Gruppierungen, Sicherheitskräften, Politik und Justiz zu verfolgen. Reporter*innen sollten dabei nicht nur dem politischen Fokus oder Polizeiinformationen folgen. Denn während der Schwerpunkt von Ermittlungen häufig auf der uneinheitlich und unscharf definierten “Clankriminalität” liegt und es teils reicht, einen bestimmten Nachnamen zu tragen, um als “Clan-Mitglied” aufgeführt zu werden (https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Clankriminalitaet_Factsheet_Mediendienst_Integration.pdf), wurden etwa Mafia-Aktivitäten in Deutschland lange vernachlässigt. Zudem ist es juristisch schwierig, in Deutschland Personen überhaupt eine Mafia-Mitgliedschaft oder -Unterstützung nachzuweisen (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/deutschland-mafia-100.html). Unabhängige Wissenschaftler*innen, NGOs oder Expert*innen können bei Einschätzungen helfen – und helfen zu klären, ob vermeintlich neue kriminelle Phänomene tatsächlich neu oder brisant sind. Auch redaktionsinterne Regeln schaffen mehr Klarheit: Die Frankfurter Rundschau entschied 2023 den Begriff der “Clankriminalität” nur noch in Ausnahmefällen zu verwenden, da der Begriff Menschen stigmatisiere und „politisch missbraucht“ werde (https://uebermedien.de/87464/sollten-medien-das-wort-clan-kriminalitaet-streichen/).
  • Sensationalismus führt oft dazu, dass seltene, aber schwere Straftaten wie brutale Gewalt- und Sexualdelikte überproportional häufig dargestellt werden, auch etwa in Form zahlreicher “True Crime”-Formate, die Verbrechen rekonstruieren. Auch sogenannte “Ausländerkriminalität” steht im Fokus der Berichterstattung. Dies verzerrt das Bild von Kriminalität und kann das subjektive Sicherheitsempfinden von Menschen beeinflussen – stärker als eigene, tatsächliche Gewalterfahrungen. Der Kriminalpsychologin Lydia Benecke (https://www.magazin-forum.de/de/einige-wollen-aufmerksamkeit) zufolge führen die häufige Berichterstattung unzähliger Medien über brutale Verbrechen sowie das Internet dazu, dass Menschen den Eindruck bekommen, es gäbe mehr Tötungsdelikte als vor Jahrzehnten, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Denn die Anzahl der Morde ist langfristig seit drei Jahrzehnten deutlich rückläufig.

 

Die Verbrechen der Anderen: Kriminalitätsursachen, “Nationalität” als Kategorie und Rassismus hinterfragen

  • Dem Pressekodex (​https://www.presserat.de/pressekodex.html) zufolge sollten Journalist*innen die Nationalität von Verdächtigen oder Täter*innen nur nennen, wenn sie im Zusammenhang mit der Tat steht oder ein begründetes Interesse der Öffentlichkeit besteht, um keine Vorurteile gegen gesellschaftliche Gruppen zu schüren. Dennoch wird medial immer wieder die Nationalität von Täter*innen herangezogen, um deren Gewaltbereitschaft zu erklären – obwohl Ausländer*innen oder Schutzsuchende Wissenschaftler*innen zufolge keine höhere Kriminalitätsneigung haben als demografisch vergleichbare Einheimische.
  • In der PKS 2024 sind “nicht-deutsche Tatverdächtige” zwar überrepräsentiert, doch die Kategorie ist wenig aussagekräftig. Sie beinhaltet so unterschiedliche Gruppen wie Tourist*innen, Pendler*innen, Geflüchtete, aber auch Menschen, die in Deutschland geboren wurden oder seit Jahrzehnten in Deutschland leben.  Die in der PKS als “nicht-deutsche” Tatverdächtige erfassten Personen zählen also nicht zwingend zur ausländischen Wohnbevölkerung laut Melderegister – dennoch instrumentalisieren Rechtspopulist*innen und Rechtsextremist*innen diese bunt zusammengewürfelte Kategorie gezielt, um eine vermeintlich höhere Kriminalitätsneigung von in Deutschland lebenden Ausländer*innen im Vergleich zu Personen deutscher Nationalität zu belegen. Aber auch Medien und sogar einige Behörden verbreiten mitunter falsche Berechnungen (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/kriminalitaet-falsche-berechnungen-100.html).
  • Nach Medienanalysen der Hochschule Macromedia wird die Herkunft besonders häufig bei “nichtdeutschen” Tatverdächtigen genannt und verzerrt dadurch die Wahrnehmung (https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Hestermann_Die_Unsichtbaren.pdf). 2023 waren der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge 33,3 Prozent der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten “Nichtdeutsche” – in den Medien hingegen, soweit die Herkunft angegeben wurde, wurde 2,5-mal so oft über sie berichtet wie über deutsche Tatverdächtige (https://katapult-magazin.de/de/artikel/so-berichten-medien-ueber-gewalttaten). Der Anteil der “deutschen” Tatverdächtigen (laut Polizeilicher Kriminalstatistik 66,7 Prozent) lag in der medialen Berichterstattung bei nur 15,8 (TV) bzw. 18 Prozent (Print), also weniger als ein Viertel. Weiße Täter*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft bleiben in der Berichterstattung demnach fast unsichtbar. So tragen etwa auch viele junge Männer, unabhängig von ihrer Herkunft, Messer bei sich, die Berichterstattung fokussiert sich aber auf als “fremd” gelesene Täter*innen – dies trägt zur Konstruktion einer Bedrohung durch junge, gewaltbereite, ausländische “Messermänner” bei.  
  • (Flucht-)Migration hat einer Studie des Münchener Ifo-Instituts keinen Einfluss auf die Kriminalität im Aufnahmeland: Die Auswertung der PKS nach Landkreisen für die Jahre 2018 bis 2023 (https://www.ifo.de/publikationen/2025/aufsatz-zeitschrift/steigert-migration-die-kriminalitaet-ein-datenbasierter-blick) belegt, dass ein steigender Ausländeranteil an den Zuzugsorten nicht zu einer höheren Kriminalitätsrate führt – auch nicht bei schweren Delikten wie Tötungen oder sexuellen Übergriffen. Stattdessen wird die höhere Kriminalitätsrate von Ausländer*innen vor allem durch ortsspezifische Faktoren, etwa ihre Konzentration in Ballungsräumen mit generell hoher Kriminalitätsdichte, erklärt, ihre Demografie – jünger und männlicher – spielt dagegen eine geringere Rolle. Eine schnellere Integration in den Arbeitsmarkt von eingewanderten Menschen kann den Forscher*innen zufolge das Risiko von Kriminalität senken, etwa in Form einer einfacheren Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder einer Verteilung von Asylbewerber*innen nach regionaler Arbeitsnachfrage. Journalist*innen sollten bei ihrer Berichterstattung daher stärker die sozialen Hintergründe wie auch Bildungs- und Arbeitschancen, Lebensumstände und gesellschaftliche Rahmenbedingungen fokussieren, die entscheidend sind für ein höheres Kriminalitätsrisiko, um einer wahrhaftigen Berichterstattung näher zu kommen.
  • Die Debatte um Migration fokussiert sich generell besonders auf Probleme wie Kriminalität, statt den Alltag und die Chancen der Einwanderungsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Medien lassen sich von extrem verzerrten, politisierten Kriminalitätsdebatten mit Fokus auf sogenannte “Ausländerkriminalität” treiben, die auch durch das Erstarken der AfD in den vergangenen Jahren nochmals massiv an Dynamik gewonnen haben, wie beispielsweise im Wahlkampf 2025. Auch in den Pressemitteilungen der AfD spielt das Narrativ vom “straffälligen Ausländer” eine zentrale Rolle (https://kripoz.de/2019/05/29/kriminalitaet-in-deutschland-im-spiegel-von-pressemitteilungen-der-alternative-fuer-deutschland-afd/). Die Debatte rund um Migration wird vor allem von Politiker*innen, aber auch von Polizei und Justiz geprägt, während Eingewanderte und Geflüchtete selten und nur als Randfiguren auftreten (https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Hestermann_Die_Unsichtbaren.pdf). Ihre Gesichter und Stimmen sollten bei der Berichterstattung präsenter sein – sie müssen Subjekte sein, nicht Objekte.
  • In einer Gesellschaft, in der Rassismus existiert, reproduziert auch die Polizei gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierungsmuster (https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/aktuelles/DE/2025/20250522_Polizeistudie.html). Einerseits können rassistische Einstellungen sich unter Umständen bei Beamt*innen finden lassen, doch auch strukturell spiegelt sich Rassismus etwa in Annahmen über bestimmte Bevölkerungsgruppen, in Form von Rechtsgrundlagen oder Praktiken wie Racial Profiling, der überproportional häufigen Kontrolle von als “fremd” gelesenen Menschen. 
  • In Bezug auf mutmaßliche Fälle von Polizeigewalt sind Kriterien wie Herkunft, Hautfarbe oder psychische Gesundheit aufschlussreiche Aspekte – denn Schwarze Menschen, Menschen in unsicheren sozialen Situationen oder in psychischen Ausnahmesituationen sind besonders häufig von Polizeigewalt betroffen – und sollten nicht als Einzelfall präsentiert werden (https://www.ardmediathek.de/video/story/die-polizei-und-der-rassismus-alles-nur-einzelfaelle/das-erste/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIxMDU5OTk).
    Der von der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP seit 1984 geführten Statistik über „Fälle von polizeilichem Schusswaffengebrauch“ des Polizeitechnischen Institut (PTI) der Deutschen Hochschule der Polizei zufolge wurden 2024 22 Menschen von Polizist*innen erschossen, bis Juli 2025 bereits 16 Personen (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/706648/umfrage/durch-polizisten-getoetete-menschen-in-deutschland/) – überdurchschnittlich oft “nicht-deutsche” Menschen. Auch der Einsatz von Tasern steigt, von 2021 bis 2023 haben sich die Einsätze CILIP zufolge auf 1.171 mehr als verdoppelt, in 662 Fällen waren die Betroffenen unbewaffnet. Auch die Bundespolizei wird künftig flächendeckend mit Tasern ausgestattet (https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2025/07/kabinett-distanz-elektroimpulsgeraet.html). 
  • Nur die Ergebnisse von Ermittlungen oder Urteilen wiederzugeben, reicht nicht, um Geschehen wie Polizeigewalt angemessen einzuordnen. Denn zu einem Strafverfahren oder einer Verurteilung von Polizist*innen kommt es selten (https://www.kriminologie.de/index.php/krimoj/article/view/25). 2023 wurden mehr als 4.500 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete abgeschlossen, es gab nur 80 an Amtsgerichten erledigte Strafverfahren gegen Polizeibedienstete. Wie oft es dabei zu einer Verurteilung gekommen ist, geht aus der amtlichen Statistik nicht hervor, zudem beziehen sich nur wenige Verfahren auf Tötungsdelikte. Dasselbe gilt für Todesfälle in Gewahrsam, Todesschüsse und Taser-Einsätze. Nur selten werden später auch endgültige Ergebnisse oder eingestellte Ermittlungen mitgeteilt. Um das Geschehen einzuordnen, ist auch von Bedeutung, ob gegen die gleichen Polizist*innen schon in der Vergangenheit wegen Schusswaffengewalt oder Gewalt ermittelt wurde. Es lässt sich vermuten: Widerrechtliches Handeln von Polizist*innen bleibt in der Regel straffrei.
  • Initiativen wie die Plattform Mediendienst Integration (https://mediendienst-integration.de/) oder Neue deutsche Medienmacher*innen (https://neuemedienmacher.de/) unterstützen Journalist*innen dabei, problematische Narrative im Kontext von Flucht, Migration und Diskriminierung zu reflektieren, zu entlarven und Zusammenhänge besser zu verstehen.

 

Unklare Lagen: Recherchieren statt Copy-and-Paste von Polizeimeldungen

  • Besonders in unübersichtlichen Situationen, zu denen erst nach und nach Details bekannt werden, ist die Verwirrung oft groß – gleichzeitig ist der öffentliche Informationsbedarf immens, gerade bei Gewalttaten oder Gefährdungen in der direkten Umgebung von Bürger*innen. In aktuellen Lagen brauchen Journalist*innen eine Quelle, auf die sie sich stützen können, und greifen oft auf Polizeimeldungen zurück. Problematisch ist dabei, dass viele Medien Polizeien immer noch als sogenannte “privilegierte Quellen” behandeln, also davon ausgehen, dass deren Informationen korrekt sind und deswegen nicht mehr geprüft werden müssten. Journalist*innen sollten jedoch eine professionelle Distanz zu Polizei-Pressesprecher*innen wahren. Gerade wenn die Polizei aber selbst Konfliktpartei ist, wie etwa bei potenziell unverhältnismäßiger Polizeigewalt, verletzt die unkritische Übernahme von Informationen die journalistische Sorgfaltspflicht – und Medien können als eine Art PR-Agentur von Polizeien instrumentalisiert werden.
  • Bei Gewalttaten wie potenziellen Terroranschlägen sollten Journalist*innen darauf achten, sich nicht zu Terrorgehilfen zu machen, indem sie etwa Polizeieinsätze gefährden, live vom Tatort berichten, Aufnahmen von der Situation oder vermeintlichen Täter*innen und ungesichterte Social-Media-Gerüchte verbreiten. Voreilige Spekulationen zu Täter*innen und Tat sollten vermieden werden. Ein DJV-Leitfaden gibt Tipps für die “Journalistische Berichterstattung bei Einsatzlagen” (https://www.djv.de/medienpolitik/pressefreiheit/medienschaffende-und-polizeieinsatzkraefte/).
  • Steinwürfe, Terrorflaggen, Traktoren: Bei Demonstrationen versuchen häufig einzelne Akteur*innen – teils auch als gezielte Störaktion oder sogenannte False-Flag-Operation – mit spektakulären oder gewalttätigen Aktionen ihre Botschaft zu platzieren und die Aufmerksamkeit zu kapern. Journalist*innen sollten sorgfältig auswählen, welche Ereignisse sie in Bild und Text darstellen und inwieweit diese repräsentativ etwa für die Haltung oder Gewaltbereitschaft auf einer Demonstration oder die Vielfalt der Teilnehmenden sind. Gewalttätige oder extremistische Aktivitäten, die von Einzelnen ausgehen, sollten nicht zur Diskreditierung eines insgesamt friedlichen Protests genutzt werden. Je nachdem, welche Ausschnitte Fotograf*innen bei Protestgeschehen wählen, kann die Menschenmenge dichter und größer wirken, als sie tatsächlich ist – oder kleiner. Um Ereignisse auf Demonstrationen angemessen einordnen zu können, hilft die Teilnahme vor Ort und die langfristige journalistische Beobachtung relevanter Protestbewegungen sowie Recherchen zu deren zentralen Akteur*innen und Hintergründen. Auch Polizei-Angaben zu verletzten Polizist*innen und Demonstrant*innen müssen mit eigenen Quellen, wie der Befragung von Zeug*innen, Foto- und Videomaterial und Betroffenen beziehungsweise Angreifer*innen kontrastiert werden. 
  • Bei Massendemonstrationen klaffen auch die Zahlen von Organisator*innen und Polizeien häufig auseinander. Während Veranstalter*innen ein Eigeninteresse an hohen Teilnahmezahlen haben und sie daher in der Regel zu hoch ansetzen, schwanken die Schätzungen der Polizeien stark. Bei Massenprotesten gegen Rechtsextremismus in Hamburg im Januar 2024 schätzte die dortige Polizei die Teilnehmerzahlen erst auf 50.000, später wurde die Zahl nach kritischen Nachfragen auf 180.000 Teilnehmer*innen nach oben korrigiert (https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Grossdemo-gegen-Rechtsextremismus-in-Hamburg-Viel-mehr-Teilnehmer,hamburgstehtauf112.html). Einheitliche Zählmethoden existieren nicht, teils wird einfach geschätzt, etwa von Stichproben, früheren Veranstaltungen auf dem gleichen Areal oder von Luftaufnahmen oder digitalen Karten hochgerechnet. Journalist*innen sollten sich nie nur auf eine Angabe verlassen, manchmal können auch Kalkulationen aus der Wissenschaft dabei helfen, sich den Demo-Größen zumindest anzunähern. Auch dabei bleibt wichtig, die Unschärfen der Methoden offenzulegen.
  • Mehr Vorsicht bei der Übernahme von Polizeibegriffen: Bei der Beschreibung von Tatverdächtigen, etwa bei Diebstählen, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen oder (mutmaßlich geplanten) Anschlägen verwendet die Polizei häufig den Begriff „polizeibekannt“, dieser ist jedoch nicht einheitlich definiert und ungenau. Er bedeutet erst einmal nur, dass eine Person bereits in irgendeiner Form Kontakt mit der Polizei hatte oder polizeilich erfasst wurde – aber nicht in welchem Kontext oder Umfang. Auch Begriffe wie ‚Gefährder’ sind problematisch. Als ‚Gefährder’ werden Personen bezeichnet, bei denen kein konkreter Hinweis besteht, dass sie eine Straftat planen, bestimmte Tatsachen die Annahme der Polizeien jedoch rechtfertigen, dass dies künftig geschehen könnte – ein vager Arbeitsbegriff, dem eine klare rechtliche Definition, wissenschaftliche Grundlage und einheitliche Anwendung fehlt. In manchen Polizeimeldungen über Cannabis wird immer noch von “Rauschgift” gesprochen – obwohl Cannabis seit Inkrafttreten des Cannabisgesetzes 2024 nicht mehr zu den Betäubungsmitteln zählt.
  • Expert*innen wie Wissenschaftler*innen können bei der Einordnung von Polizei- und Kriminalitätsgeschehen helfen. Dabei sollten Verzerrungen geprüft werden: Wie divers sind die Expert*innen, die das Geschehen einordnen? Werden etwa migrantische Expert*innen nur angefragt, wenn es um “Clankriminalität” oder Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre geht, also Femizide? Inwieweit medial werden nur migrantische Expert*innen eingeladen, die bestimmte Haltungen, wie antimuslischen Rassismus, oder sicherheitspolitische Hardliner-Positionen verkörpern? 
  • Politiker*innen und Vertreter*innen von Polizeigewerkschaften sind keine neutralen Expert*innen, sie haben eine eigene politische Agenda – ihre Aussagen sollten daher kritisch eingeordnet werden. Politiker*innen nutzen mediale Inszenierungen von Sicherheitsthemen gezielt für ihre Wahlkampfstrategien und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Als Lobbyverbände wollen Polizeigewerkschaften die Interessen der Polizeibeschäftigten durchsetzen, wie eine Erhöhung von Polizeibudgets, bessere Arbeitsbedingungen oder erweiterte Befugnisse etwa bei der Überwachung. Einige Repräsentant*innen operieren dabei mit verkürzten oder falschen Darstellungen oder irreführenden Zahlen (https://uebermedien.de/105843/achtung-achtung-hier-spricht-die-polizeigewerkschaft). Medien sollten die jeweilige Parteinähe oder -zugehörigkeit von Gesprächspartner*innen aus den Gewerkschaften einordnen – und vor Interviews prüfen, ob diese in der Vergangenheit bereits durch irreführende Aussagen aufgefallen sind. 
  • Um Polizeithemen und -projekte angemessener einzuordnen, können Journalist*innen bei den Sicherheitsbehörden durch gezielte Nachfragen Details einholen, eigene Daten durch Abfragen bei allen Länderpolizeien einholen. Über die Plattform Dokukratie (https://www.dokukratie.de/) lassen sich Kleine Anfragen zu zahlreichen Themen finden, mit denen Abgeordnete in Parlamenten der Regierung Fragen stellen. Über FragdenStaat (https://fragdenstaat.de/) können Journalist*innen selbst Dokumente und Informationen von staatlichen Stellen anfordern. Die Informationsfreiheitsgesetze der Länder ermöglichen es zumindest in manchen Bundesländern über Dokumente wie zum Beispiel Einsatzprotokolle auch tiefere Einblicke in Polizeiaktivitäten zu bekommen, um offizielle Darstellungen zu hinterfragen.
  • Kriminalität ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Polizei- und Kriminalitätsberichterstattung sollte daher strukturelle Probleme und gesellschaftliche Ungleichheiten aufzeigen. Eine kritische Analyse von Verantwortlichkeiten, Strukturproblemen und Präventionsmaßnahmen kann dabei helfen, konstruktiv Lösungsansätze zu offenbaren (https://www.bonn-institute.org/konstruktiver-journalismus). 

 

Täter*innen und Betroffene: Weniger Sensationalismus, sensibler berichten 

  • Journalist*innen legen je nach Tat, Täter*innen und Opfern teils bewusst, teils unbewusst unterschiedliche Maßstäbe bei der Berichterstattung an – dieser Verzerrungen sollten sie sich bewusster werden. Für weiße, aber auch wohlhabendere Betroffene und Täter*innen vermitteln Medien meist mehr Empathie. Wenn junge, weiße Frauen aus wohlhabenderen oder unauffälligen Verhältnissen Opfer von Gewaltverbrechen werden, wie 2021 die 22-jährige US-Amerikanerin Gabby Petito, die von ihrem Freund bei einer Van-Reise ermordet wurde, beschäftigen sich Medien fast obsessiv mit der Tat. People of Color oder andere marginalisierte Menschen verschwinden oder werden häufig ermordet, ohne dass überhaupt berichtet wird. Dieses Phänomen ist als „Missing White Woman Syndrome“ bekannt (https://www.rnd.de/panorama/missing-white-woman-syndrome-warum-viele-schwarze-die-ermittlungen-im-fall-gabby-petito-kritisieren-UHWGF535PFHQVG3BWCQHFAD2EA.html). Während Femizide etwa bei als “fremd” wahrgenommenen Tätern deutlich als sogenannte Morde im Namen der Ehre verurteilt werden, vermitteln Berichte über weiße, deutsche Täter mit gesellschaftlich unauffälliger Biografie eher Verständnis und beziehen den Kontext mit ein. Begriffe und Formulierungen, die Verständnis für Täter erzeugen oder die Tat vermeintlich erklären, wie im Fall von Femiziden als “Liebesdrama”, “Mord aus Eifersucht”, “Töten aus Leidenschaft” oder “er liebte sie zu sehr” sollten generell vermieden werden – den Tätern geht es um Macht und Kontrolle, nicht um Liebe.
  • Medien sollten vermeiden, sich zum Sprachrohr von Gewalttäter*innen, (Serien-)Mörder*innen oder Terrorist*innen zu machen. Denn auch Kriminelle rezipieren Medien und richten ihre Taten zum Teil auf maximale öffentliche Wirkung aus. Früher schrieben Mörder wie der US-amerikanische “Zodiac Killer” Briefe mit verschlüsselten Rätseln an Medien, um Aufmerksamkeit zu erzeugen (https://www.wired.com/story/zodiac-killers-cipher-finally-cracked-after-51-years/?utm_campaign=likeshopme&client_service_id=31209&utm_social_type=owned&utm_brand=wired&service_user_id=1.78e+16&utm_content=instagram-bio-link&utm_source=instagram&utm_medium=social&client_service_name=wired&supported_service_name=instagram_publishing). Heute laden Täter*innen manchmal Aufnahmen ihrer Taten in soziale Netzwerke hoch. Terrorist*innen veröffentlichen digitale Manifeste, sie inzenieren ihre Gewalttaten wie der rechtsextreme Attentäter von Halle 2019 gezielt für die virale Verbreitung – in diesem Fall mit einem Livestream per Helmkamera (https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/halle-anschlag-der-copy-and-paste-attentaeter-a-1290907.html). Der Erfolg von Terror misst sich auch an der medialen Aufmerksamkeit, die Tat und Täter erhalten – und kann Nachahmungstaten inspirieren. Medien müssen den schwierigen Balanceakt meistern, angemessen über Gewalttaten zu berichten und gleichzeitig möglicht wenig zu Bekanntheit und Glorifizierung beitragen, indem sie etwa die ständige Wiederholung von Täter-Namen, Tatortaufnahmen oder Manifest-Zitaten verbreiten. 
  • Ein größerer Fokus auf die Betroffenen von Gewalt wäre sinnvoll. Leben und Schicksale –insbesondere von marginalisierten Menschen – verschwinden zudem häufig hinter gesichtslosen Kategorien wie “Obdachloser”, “Schwarzer”, “Drogensüchtiger”, “Prostituierte”, “Geflüchteter”. Persönliche Details können helfen, mehr Empathie zu erzeugen, sodass Betroffene von Gewalt und Kriminalität nicht hinter Meldungen oder gar nur Statistiken verschwinden.
  • Journalist*innen sollten Überlebende oder Zeug*innen von Gewalttaten nicht mit der Kamera überfallen oder ihnen zu Hause auflauern – Anfragen per Email, Brief oder Social Media können eine vorsichtige Annäherung einleiten. Bei Interviews sollten Reporter*innen achtsam mit den Gesprächspartner*innen umgehen, nicht mit traumatierenden Fragen in das Interview starten und auf deren Bedürfnisse und Grenzen eingehen.
  • Journalist*innen sollten einen sparsamen und bewussten Umgang mit der Rekonstruktionen von Verbrechen pflegen: Zum einen besteht die Gefahr, durch zu viele Details lediglich voyeuristisches Verlangen zu befriedigen, zudem können Rekonstruktionen retraumatisierend wirken. Redaktionen sollten bei der Berichterstattung über Gewalttaten – und auch bei der Verbreitung von entsprechenden Beiträgen in sozialen Netzwerken – diskutieren, ob ein Hinweis notwendig ist, der davor warnt, dass überraschend potenziell traumatisierende Inhalte folgen (Content Note). Teils genügen sorgfältig formulierte Überschriften, Unterzeilen und Vorspänne. So haben Betroffene die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie einen Text oder einen Film lesen oder sehen möchten oder darauf verzichten.
  • Die Darstellung von Gewalt und Kriminalität, etwa in Form von Fotos oder bei der Auswahl von Fällen und Protagonist*innen, sollten Medien sorgfältig auswählen, da sie eine starke emotionale Wirkung entfalten können. Wenn Berichte über Messerattacken ausschließlich mit Symbolfotos von Jugendlichen bebildert werden, beeinflusst dies die Wahrnehmung. Sind alle Protagonist*innen (bzw. alle ausgewählten Fälle) blond, weiß und gut situiert? Oder bezieht sich die Berichterstattung maßgeblich auf Betroffene oder Täter*innen, die ärmer, migrantisch oder BIPoC sind und verbreitet implizit Klischees, Gewalt und Kriminalität komme nur in bestimmten “Milieus” vor?
  • Verschiedene Leitfäden unterstützen dabei, wahrheitsgemäßer über Gewalt und Kriminalitätsphänome zu berichten und den Umgang mit Betroffenen oder Angehörigen zu verbessern – wie der vom Journalist dokumentierte Leitfaden zur Berichterstattung über Femizide (https://www.journalist.de/werkstatt/werkstatt-detail/kein-familiendrama-berichterstattung-ueber-femizide-und-der-umgang-mit-ueberlebenden-und-angehoerigen/) oder ein Leitfaden für den Umgang mit Betroffenen von sexualisiertem Missbrauch https://beauftragte-missbrauch.de/presse/tipps-fuer-medien-fuer-eine-betroffenensensible-berichterstattung. Auch das Dart Center (https://dartcenter.org) bietet Tipps und Leitfäden für die Berichterstattung über Terrorismus, Schusswaffengewalt oder sexualisierte Gewalt. Auf der Plattform des Global Investigative Journalism Network (GIJN) finden sich Leitfäden für tiefergehende Recherchen zu organisierter Kriminalität, etwa zu kriminellen Finanzstrukturen (https://gijn.org/stories/tracking-organized-crimes-dirty-money-illicit-operations-tips/).

 

Kein KI-Hype: Polizei und Automatisierung kritisch beleuchten

  • Einige deutsche Medien wie die Bild oder das regionale Nachrichtenportal inFranken.de experimentieren mit KI, um Polizeimeldungen automatisiert oder teilautomatisiert aufzubereiten. KI-Tools können Zeit sparen, sie bergen aber das Risiko, dass Fehler, Vorannahmen oder Auslassungen reproduziert oder generiert werden. Redaktionen sollten sorgfältig auswählen, welche Bereiche sich für eine (Teil-)Automatisierung eignen. Unfälle mit Todesfolge, Morde, Vergewaltigungen oder auch tödliche Polizeigewalt sollten nicht automatisiert veröffentlicht werden, warnt Daniel-Krüger, Leiter des KI-Teams bei inFranken.de. KI-gestützte Berichte zu Polizei und Kriminalität müssen in jedem Fall sorgfältig durch Redakteur*innen kontrolliert, verifiziert und durch eigene Recherchen ergänzt werden. 
  • Die Nutzung von Automatisierung bzw. KI sollte stets transparent gemacht werden. Öffentlich einsehbare KI-Richtlinien – wie etwa bei inFranken.de (https://www.infranken.de/datenschutz/die-ki-richtlinien-art-5869935)  – können dabei helfen, den Umgang mit KI in der jeweiligen Organisation verbindlich festzulegen und die Rolle von Technologie bei der Berichterstattung auch den Nutzer*innen zu vermitteln und so Transparenz herzustellen.
  • Auch die Polizei selbst setzt zunehmend auf Automatisierung. Ansätze wie “Predictive Policing” (https://algorithmwatch.org/en/algorithmic-policing-explained/), vorausschauende Polizeiarbeit, die künftige Gewaltbereitschaft oder Kriminalität prognostizieren sollen, müssen journalistisch kritisch begleitet werden. Auch Vorhaben wie die Schaffung bestimmter Datenbanken für eine bessere Gefährdungseinschätzung, wie eine Zentralerfassung aller Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland, die in Folge des Attentats in Magdeburg als Maßnahme zur Gewaltprävention diskutiert wird, sind problematisch. Sie fördern die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Potenzielle Datenfehler oder Berechnungen können zudem zu problematischen Vorhersagen und polizeilichen Entscheidungen führen. Das Ausmaß, die Folgen und die Rechtmäßigkeit von digitalen Polizeiprojekten, auch im Bereich von Automatisierung und KI, werden meist erst im Nachhinein, oft erst nach Jahren öffentlich bekannt. Oft fließt viel Budget in aufwendige Tech-Projekte, die zu selten unabhängig wissenschaftlich begleitet werden und oft nicht nur diskriminierende Effekte haben, sondern häufig auch ineffizient sind und nach Pilotphasen teils wieder gekippt werden. Auch die zunehmende Abhängigkeit der deutschen Polizeien von dem US-Tech-Konzern Palantir, dessen Führungsriege enge Verbindungen zu US-Regierung, Geheimdienst und Militär hat, sollte hinterfragt werden, ebenso wie Fehleranfälligkeiten sowie die Auswirkungen von Datenanalysen auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen (https://www.blaetter.de/ausgabe/2025/august/das-ueberwachungsimperium). 
  • Journalist*innen sollten generell Forderungen der Polizeien nach mehr Personal, Budget und Überwachungstechnologie kritischer einordnen. Denn häufig erfolgen sie unabhängig von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die Befugnisse für deutsche Sicherheitsbehörden bereits stark zugenommen: Rund 90 Gesetzgebungsverfahren auf Bundes- und Landesebene hat die Sicherheitsstruktur noch unübersichtlicher gemacht. Auf EU-Ebene wurden seit 9/11 Hunderte von Initiativen zur Terrorbekämpfung verabschiedet (https://www.statewatch.org/media/documents/news/2016/oct/eu-secile-de-translation-10-2016.pdf). Die Anfang 2025 veröffentlichte “Überwachungsgesamtrechnung” (https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2025_Forschungsbericht_Ueberwachungsgesamtrechnung.html) des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht im Auftrag des Bundesinnen- sowie des Justizministeriums evaluiert verschiedene Polizeibefugnisse. Dieser Ansatz sollte mehr Transparenz über Überwachungsbefugnisse der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland fördern, wird jedoch unter der aktuellen Regierung nicht weitergeführt. Die Innenministerkonferenz diskreditierte die “Überwachungsgesamtrechnung” als ungeeignete Grundlage für Sicherheitspolitik, bevor deren Ergebnisse überhaupt vorlagen – und die Forscher*innen beklagen, sie hätten nur sehr eingeschränkt Daten zu den Behördenprojekten erhalten.

 

Dieser Leitfaden (Stand: 28.07.2025) erhebt keinen Anspruch, vollständig zu sein und soll regelmäßig aktualisiert werden. Senden Sie Ihre Anmerkungen an journalist@journalist.de