Patrick Breitenbach

Journalismus braucht Strukturen, die seinem "Purpose" gerecht werden

22.10.2023

Wer im Arbeitskontext über „Purpose“ spricht, darf über Entfremdung nicht schweigen, sagt Innovationsmanager Patrick Breitenbach in unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus". Wir müssen uns vergegenwärtigen, welche Funktion Journalismus eigentlich haben soll. Text: Patrick Breitenbach

Patrick Breitenbach: "Wozu machen wir das eigentlich alles hier?" (Foto: privat)

Die derzeit umhergeisternden Begriffe „Purpose“, „New Work“ oder „Resilienz“ deute ich in erster Linie als simplen Ausdruck einer Sehnsucht nach besseren Arbeitsbedingungen – resultierend aus dem diffusen Gefühl der Entfremdung und dysfunktionalen Strukturen. Manche Organisationen scheinen sich zum Teil sogar so sehr von ihrem ursprünglichen Zweck entkoppelt zu haben, dass sie sich in „Purpose Workshops“ ernsthaft die Frage stellen müssen: Wozu machen wir das alles eigentlich hier?

Doch statt sich der Frage nach den darunterliegenden Strukturen und Vorbedingungen zur Ausgestaltung von Arbeitsprozessen – und ihrer ständigen Veränderungsdynamik durch Politik, Gesellschaft und Technologie – zu stellen, verlagert sich die Zuweisung der Verantwortung oft lediglich auf das jeweilige Individuum in der Organisation. Schließlich sind nicht die systemischen Voraussetzungen und Strukturen das Problem, also die Governance des Unternehmens, sondern die jeweilige Einstellung der Mitarbeitenden: Viele Mitarbeitende hätten einfach nur das falsche „Mindset“. Daran müsse man arbeiten.

Klar spielt der eigene Charakter oder die Haltung gegenüber Vorgängen und Zuständen in einem System wie einer Organisation durchaus eine Rolle, jedoch sollte man sich keinesfalls davon täuschen lassen, dass man allein mit der richtigen Einstellung in dysfunktionalen Strukturen auch permanent gut funktionieren kann. Man kann eine schmerzende, klaffende Fleischwunde mit der richtigen Einstellung ja auch nur zu einem gewissen Grad ignorieren – spätestens mit einer anrollenden Sepsis ist die Grenze der reinen mentalen Willenskraft jedenfalls überschritten.

Das allgegenwärtige, übrigens auch durch Medien oft unkritisch reproduzierte Credo der individualisierten Selbstoptimierung predigt der Gesellschaft schier ununterbrochen: Wenn du nur genügend Achtsamkeit und Resilienz entwickelst, ausreichend meditierst, lebenslang lernst und die richtigen Routinen zur richtigen Zeit etablierst, ja dann kann deine Arbeit nicht nur wieder Freude machen, sondern, weitaus wichtiger, du kannst endlich wieder Leistung abrufen. Aber natürlich nur, wenn du das willst und dich genug anstrengst.

Doch nur das Individuum zur Verantwortung zu ziehen, reicht offenbar nicht mehr aus. So gibt man in der angeblich bröckelnden Leistungsgesellschaft gleich einer ganzen Generation die Schuld an vielen Miseren: Die Generation Z, so die Auffassung einiger Diskursteilnehmender, sei offenbar direkt mit dem falschen Mindset geboren worden. Sie sei eine auffallend undankbare Alterskohorte, die – welch Skandal – das eigene, frei zu gestaltende Leben nicht mehr zu 100 Prozent der oftmals nicht mehr so gut bezahlten, zum Teil schlecht geführten, zunehmend entfremdeten Lohnarbeit unterwerfen wolle.

Dabei ist sich diese Generation (wenn man überhaupt so pauschal davon sprechen kann) darüber bewusst, dass die große Fortschrittserzählung ihrer Eltern und Großeltern aufgrund diverser Faktoren keinerlei Wirkung mehr zeigt. „Wer viel leistet, kann sich etwas für die Zukunft aufbauen“ oder „Später wird es dir mal besser gehen als uns“ ist für diese jungen Menschen angesichts stagnierender Reallöhne, steigender Mieten und Preise, gravierender Auswirkungen des Klimawandels und einer noch nie dagewesenen Schere zwischen Arm und Reich einfach nicht mehr anschlussfähig. Was ihnen also bleibt und für sie wichtig zu sein scheint, ist ein selbstbestimmtes Leben im Hier und Jetzt – mit Freunden, in der Familie oder wo auch immer sie den Sinn ihres Lebens außerhalb fremdbestimmter Lohnarbeit suchen. Und da ist er wieder, der „Purpose“, der Sinn und Zweck im Dasein, eine wichtige Zutat für das psychologische Konzept „Resilienz“.

„Die Generation Z – so die Auffassung einiger Diskursteilnehmender – sei offenbar direkt mit dem falschen Mindset geboren worden.“

Nach dem Purpose von Journalismus zu fragen, ist also keineswegs peinlich, sondern mehr denn je zu einer überfälligen Notwendigkeit geworden. Es scheint fast so, als müsse man Medienmanagern, Sender- und Verlagschefs und vermutlich dem Rest der Gesellschaft erneut erklären, welchen Zweck der Journalismus im Idealbild einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft erfüllen sollte. Also tun wir das doch jetzt einfach mal gemeinsam: Welchen Zweck erfüllt Journalismus in unserer Gesellschaft beziehungsweise welchen sollte er erfüllen?

Man könnte Medien und ihre Inhalte, frei nach Luhmanns Systemtheorie, als eine Art „Quellcode der Gesellschaft“ begreifen. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, beginnt Niklas Luhmann sein wegweisendes mediensoziologisches Werk Die Realität der Massenmedien. Allein dieser Satz lässt erahnen, dass Journalismus eine weitaus größere Bedeutung für eine Gesellschaft hat als das schiere Aufnehmen und Weitergeben von Zeichen, die zum Ausdruck bringen sollen, was aktuell auf der Welt der Fall ist.

Wenn’s klickt, ist es doch am schönsten

Massenmedien konstruieren, ob man will oder nicht, unser aller Realität, an der wir uns nicht nur tagtäglich orientieren, sondern die wir zugleich als selbstverständlich betrachten. Journalismus beschreibt also nicht nur unsere Realität, sie etabliert und reproduziert sie – so wie der Quellcode einer Software nicht nur beschreibt, wie Operationen zu tun sind, sondern sie am Ende auch wirklich Operationen ausführen lässt und sie in der modernen Variante sogar veranlassen kann, selbst neuen Quellcode hinzuzufügen.

Um sich besser vorzustellen, was hier mit „Quellcode“ gemeint ist, präzisiere ich es: Alle EntscheiderInnen des Landes (WählerInnen und KonsumentInnen inbegriffen), egal ob in Wirtschaft, Politik oder privatem Umfeld, treffen den Großteil ihrer Beschlüsse heute immer auch auf Basis von Medieninhalten. Nicht nur die Elite der Welt reagiert und referenziert auf Umfragen, Marktentwicklungen, Neuigkeiten aus der Wissenschaft, Werbung und zahlreichen anderen deliberativen Impulsen aus den professionell produzierten Medien.

So wurde jüngst beim Gebäudeenergiegesetz (von einigen Medien direkt und indirekt als „Habecks Heizungshammer“ chiffriert) aus der Berichterstattung eine Handlungsabfolge. Menschen kauften doppelt so viele Ölheizungen wie zuvor, weil sie Angst hatten, dass sie demnächst gezwungen werden, eine superteure Wärmepumpe zu kaufen. Die Berichterstattung über die Wärmepumpe nahm zum Teil absurde Züge an, wovon diese kleine Peinlichkeit aus dem Medienbetrieb zeugt: Bild-Chefredakteurin Marion Horn musste laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vor versammelter Belegschaft zugeben: „Wir haben hier verdammt noch mal niemanden, der weiß, wie so eine Wärmepumpe funktioniert.“

Der Zweck des Journalismus ist also auch immer die (Re)produktion von Realität durch das „Gatekeeping“ von Informationen. Redaktionen selektieren, absichtlich und unabsichtlich, was der Fall sein könnte und was nicht. Journalismus beschreibt nicht nur, was der Fall ist, sondern entscheidet regelrecht, was der Fall sein wird. Medien treffen sekündlich Entscheidungen darüber, wovon wir etwas wissen, wie wir es wissen, in welchem Zusammenhang das einzuordnen ist und – vielleicht noch weitaus wichtiger – was wir gar nicht erst erfahren werden, weil sie es für zu unwichtig oder gelogen halten.

Je größer der ökonomische Druck ist, der auf einem Medienprodukt lastet, desto deutlicher wird der Fokus in der journalistischen Arbeit auf die Erfüllung einer bestimmten Erwartung. Man begibt sich in eine Nudging-Logik, die der Werbung ähnelt. Welche Knöpfe muss ich beim Publikum drücken, damit es meine Publikation käuflich erwirbt oder so oft abruft, dass mich Werbekunden spannend finden? Die Frage nach einer bedeutenden Funktion für die Zivilgesellschaft gerät dabei immer mehr ins Hintertreffen. Wenn’s klickt, ist es doch am schönsten.

Denn neben der grundlegenden Gatekeeper-Funktion hat der Journalismus seit Beginn der Aufklärung einen verantwortungsvollen, normativen Zusatzauftrag erhalten. Unter dem Label der „vierten Gewalt“ gilt Journalismus gerade in liberalen und demokratischen Kontexten als wichtiges Korrektiv, das neben der kritischen Hinterfragung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen auch Gesellschaft kontinuierlich im Sinne einer Mündigkeit aufklären und sie nach bestem Wissen und Gewissen bilden soll.

Demokratie ist angewiesen auf einen demokratisch sehr aktiven Journalismus, der demokratische Werte mit Vehemenz und Tatendrang vertritt und eben nicht einfach nur passiv den Menschen vermittelt, was der Fall ist, oder gar Meinungen – egal ob falsch oder antidemokratisch – ausgewogen nebeneinander präsentiert. Das investigative Aufdecken von Machtmissbrauch, das Stürzen von Personen, die ein mächtiges demokratisches Amt zu ihren eigenen Interessen ausnutzen, die allgemeine Aufklärung über Machtverhältnisse und der Zugang für Nicht-Privilegierte zu verborgenem Herrschaftswissen – all das sind Aufträge der Demokratie an ihren kommunikativen Ermöglicher, den Journalismus.

„Nach dem ‚Purpose‘ von Journalismus zu fragen, ist keineswegs peinlich, sondern offenbar mehr denn je zu einer überfälligen Notwendigkeit geworden.“

Der Feind des Journalismus stimmt überein mit dem Feind einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft. Die Werkzeuge des Feindes sind Propaganda, Zwietracht und Lüge. Er versucht, oft unter hohem Aufwand, aber mit üppig vorhandenen Ressourcen, die Hoheit über die Diskurse tagtäglich zu erlangen. So werden PR-Mitarbeitende in der Regel weitaus besser vergütet als investigative JournalistInnen, die deren Arbeit ständig aufwendig kritisch hinterfragen müssen.

Doch JournalistInnen arbeiten im Vergleich zu anderen WissensarbeiterInnen nicht nur unter benachteiligten, sondern zum Teil lebensgefährlichen Bedingungen. Organisationen wie Reporter ohne Grenzen dokumentieren, in welchen Ländern die Arbeit von JournalistInnen unterdrückt, verfolgt und weggemordet wird. Deren jährliches Barometer zur Pressefreiheit weist für dieses Jahr 13 getötete und 516 inhaftierte Journalist­Innen aus. Daran kann man eindrücklich erkennen, welchen Zweck der Journalismus in Kontext von Machtverhältnissen verfolgt und welche Bedrohung für Herrschaftsstrukturen offenbar von ihm ausgeht. Erstaunlich ist auch, dass sich Teile des Journalismus selbst von all dem nicht abschrecken lassen und trotz allem die riskante Arbeit fortsetzen. Das sagt wiederum viel über seinen eigentlichen „Purpose“ aus.

Zum Vergleich der Blick auf den Pflegeberuf

Es gibt noch eine weitere gesellschaftliche Entwicklung, die den allgemeinen Druck auf Journalismus strukturell und eher subtil erhöht hat. Eine globalisierte, digitalisierte Welt, die zunehmend von ökonomischen Marktlogiken durchdrungen ist, sorgt dafür, dass die Erwirtschaftung von Profiten mittlerweile einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. So entwickelt sich die Gewinnmaximierung im Medienbetrieb zum reinen Selbstzweck. Alternative Zwecke, Werte und Funktionen werden diesem radikal untergeordnet. So leiden gerade sozialgesellschaftlich relevante Berufe, bisher ohne unmittelbare Renditeabsichten, unter dieser Verschiebung. Es geht dabei auch längst nicht mehr um Refinanzierung oder Kostendeckung fair gezahlter Gehälter und guter Ausstattung, sondern darum, kontinuierliche Wertabschöpfung für Dritte, die Eigentümer und Shareholder, zu ermöglichen. Diese Vorbedingungen führen zu zum Teil entfremdenden Folgeerscheinungen.

Zum Vergleich lohnt der Blick auf den Pflegeberuf. Durch die Privatisierungswelle mussten pflegerische Tätigkeiten so vereinheitlicht, bemessen, dokumentiert und zerteilt werden, dass sie ökonomisch besser bewertet und abgerechnet werden können. Der eigentliche Zweck und das Ideal der Pflege – sich individuell so um den Patienten zu kümmern, wie es notwendig ist – wurde seitdem eher hintenangestellt. Der größte Kostenfaktor in der Pflege ist der Mensch selbst. Daher rationiert man ihn runter. Lücken im Personalschlüssel werden von tapferen Pflegekräften mit Idealen bisher ausgefüllt, wenn es sein muss bis in den Burn-out. Bei jedem Krankheitsausfall wird das auf Kante genähte System zusätzlich gestresst, aber der hohe Purpose des Berufs lässt viele Menschen einfach weitermachen – zum Wohle des Patienten, nicht für sich selbst.

In vielen Redaktionen und Medienproduktionsfirmen kann man mittlerweile ähnliche Muster beobachten. So sollen JournalistInnen neben ihrer eigentlichen Rolle zugleich auch Marketingmanager ihrer eigenen „Produkte“ sein. Ihre Beiträge wollen getrackt, ausgewertet und ständig optimiert werden. Sie sollen ausgeklügelte Distributionsstrategien vorlegen, bevor sie überhaupt die erste Zeile oder Minute ihres Beitrags produziert haben. So verschiebt sich nicht nur Rolle, Aufgabe und Tätigkeit ihrer Arbeit, mit ihr entsprechend auch der gesamte Zweck. Man ist nicht länger nur JournalistIn, man muss zugleich auch noch Werbe- und SEO-Texter, Social-Media- und Community-Manager, VJ und Podcaster und idealerweise noch Influencer mit Reichweite sein – alles am besten von heute auf morgen ohne passende langfristige Weiterbildungsangebote, für die auch mal freie Arbeitszeit eingeräumt werden müsste.

„Besinnt euch auf den ursprünglichen Zweck des Journalismus und beginnt endlich damit, an den Strukturen und nicht an den Psychen eurer Mitarbeitenden zu arbeiten.“

Auch für das Publikum hat der ökonomische Druck Auswirkungen. Er reicht schließlich sehr tief in die eigentliche redaktionell-inhaltliche Tätigkeit hinein. Der Beitrag passt sich den neuen ökonomischen Anforderungen der Distribution an. Die Überschrift wird provokanter oder gar widersprüchlich, die Bilder weniger stimmig, sondern emotional mitreißend. Und welcher dokumentarische Beitrag kommt eigentlich noch ohne Youtube-Ästhetik und passende Keywords aus?

Verkürzung und Geschwindigkeit – bekannte Praktiken aus der Werbe- und Propagandalogik – führen zu einer enormen Fragmentierung von Gesamtzusammenhängen und damit zur Verunmöglichung von Aufklärung bei komplexen Sachverhalten. Eine Eilmeldung jagt die nächste, aber das meist sehr wichtige große zusammenhängende Bild bleibt im Wust der Schlagzeilen verborgen. Was nicht auf Anhieb klickt oder vermeintlich klicken kann, wird auch gar nicht erst angefertigt. So fallen ganze Themenbereiche aus dem Diskurs aka unserer Realität.

Dabei dürstet es viele Menschen nach Orientierung und faktenbasierter Aufklärung abseits von plumpen Oberflächlichkeiten und Meinungsgequatsche. Zahlreiche Podcasts und Videoformate in ausführlicher Länge (beispielsweise Jung & Naiv) werden nicht nur ordentlich geklickt, sondern auch ausgiebig geschaut und in den sozialen Netzwerken weiter diskutiert und verbreitet – im Übrigen mit einem gesellschaftlichen Nutzen, der sich gar nicht erst in harten Zahlen messen lässt, oder wie würden Sie „Aufklärung“ und „gelungenen Diskurs“ messen?

Aber gibt es dafür nicht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Dieser wurde doch als ideales Gegenmodell zu den werbefinanzierten Privatmedien explizit damit beauftragt, Machtmissbrauch, Herrschaftsstrukturen und Propaganda nicht mehr über die Rundfunkempfangsgeräte in die Haushalte der Deutschen einsickern zu lassen und die Realität im Sinne einer herrschenden demokratie- und menschenfeindlichen Ideologie zu verbiegen. Rechtspopulisten verweisen zwar gerne darauf, dass der ÖRR keinen „erzieherischen Auftrag“ hätte. Nun, diese Leute verwechseln ganz gerne „Bildung“ mit „Erziehung“. Bildung kann ich ausschalten, Erziehung eben nicht. Und unabhängig von der Frage, ob das Publikum auch einfach was anderes konsumieren kann, hat der ÖRR den Auftrag, einen Prozess zu gestalten, der Menschen dazu befähigt, unsere verfassungsgemäßen demokratischen Werte bestmöglich zu kennen und anzuwenden. Dazu gehört eben auch, Praktiken und Narrative von möglichen Feinden unserer demokratischen Grundordnung öffentlich zu hinterfragen und klar zu benennen.

Metrik des Marktes

Und da anscheinend bei der Gründung des ÖRR bereits ein Bewusstsein darüber bestand, dass Geld unmittelbar mit Einfluss und Macht gekoppelt ist, hat man versucht, ihn so gut wie möglich von ökonomischen Einflüssen von Unternehmen und Einzelakteuren zu schützen. Kein Konzern und keine Partei sollte in der Lage sein, den Diskurs im ÖRR im eigenen Interesse zu beeinflussen. Gerade die ökonomische Stabilität, in Form von festgelegten garantierten Gebühren, sollte dafür sorgen, dass JournalistInnen in Ruhe ihren Auftrag erfüllen können, ohne tagtäglich Angst zu haben, die ökonomische Grundlage ihrer Arbeit zu verlieren. Nur mit Kontinuität, Sicherheit und Stabilität kann eine umfassende, zusammenhängende aufklärerische Arbeit geleistet werden.

Doch mittlerweile unterhält diese immer noch hierarchisch pyramidal geführte Struktur einen Pool sogenannter „fester Freier“, ein Subsystem, in das man die Verantwortung und den wirtschaftlichen Druck wunderbar abgeben kann. Redaktionen geben Themen vor, machen die Abnahmen und Freigaben – die eigentlichen Inhalte produzieren dann aber die „festen Freien“ oder die preisgedrückten, auf Kante genähten Produktionsfirmen. Interessenvertretungen und Gewerkschaften schätzen die Zahl der „festen Freien“ im ÖRR mit arbeitnehmerähnlichem Status auf rund 18.000 Personen. Während also weiterhin hierarchische operative Strukturen im Sender wenigstens ein gesichertes Einkommen mit Altersabsicherung haben, wird die eigentliche produktionelle Arbeit an Beschäftigte in unsicheren, fragilen und prekären Strukturen ausgelagert. Auch unterwirft sich der ÖRR der Metrik des Marktes in Form der Einschaltquote. Diese wurde eigentlich auch nur eingeführt, um Werbung im eigenen gebührenfinanzierten Programm schalten zu können. Wie konnte das eigentlich passieren?

Zudem wächst auch im ÖRR der Anspruch, dass die Mitarbeitenden viele neue Aufgaben einfach „on top“ ausführen sollen. Aber bitte mit Begeisterung und Elan wie man sie im Silicon Valley vorfindet. Der Termindruck nimmt zu, während die Aufgaben zugleich über den Kopf wachsen und die weitaus besser bezahlten Medienmanager ihre strategische und organisatorische Verantwortung an die Belegschaft delegieren oder ganz nach außen abgeben. Die Unzufriedenheit steigt, mit ihr zieht Zynismus ein, und lediglich die einstigen Ideale und der noch vorhandene Teamgeist bremsen die einsetzende Fluktuation in der Organisation. All das kann man auch in anderen gesellschaftlich relevanten Berufen beobachten. Berufe hingegen, in denen der Selbstzweck „Profit“ offen praktiziert wird, sind zugleich die bestbezahlten der Welt. Je höher der ideelle zivilgesellschaftliche Zweck, desto geringer fallen der Gehaltsscheck und die Bedingungen rundherum aus. „Ist nicht nötig, die machen das schließlich gern.“

Wie ist es also um die Zukunft des Journalismus bestellt? Mein Appell an alle Verantwortlichen, die sich immer noch zuerst den demokratischen Werten unserer Verfassung verpflichtet haben, lautet: Besinnt euch auf den ursprünglichen Zweck des Journalismus und beginnt endlich damit, in erster Linie an den Strukturen und nicht an den Psychen und Charaktereigenschaften eurer Mitarbeitenden zu arbeiten. Fragt euch, wie man die Arbeit des Journalismus, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten, so anders organisiert, dass er seinen eigentlichen Zweck besser erfüllt. Statt also, wie es bereits im journalist-Podcast Druckausgleich in der New-Work-Episode formuliert wurde, Mitarbeitende mit Pflastern, warmen Worten und Obstkörben zu verarzten, sollten Medienmanager – als Gatekeeper der Organisationsabläufe – dafür sorgen, endlich Strukturen zu gestalten, die dem ursprünglichen Zweck, dem „Purpose“ des Journalismus, gerecht werden. Es sei denn, es besteht kein Interesse mehr daran. Doch dann hat unsere Demokratie ein echtes Problem!

Patrick Breitenbach ist Blogger, Podcaster und kümmert sich als Unternehmensberater schwerpunktmäßig um die Strukturen von Organisationen.

Bisher erschienen:

Teil 1: Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed Deutschland

Teil 2: Carline Mohr, Social-Media-Expertin

Teil 3: Georg Mascolo, Leiter des WDR/NDR/SZ-Rechercheverbunds

Teil 4: Hannah Suppa, Chefredakteurin Märkische Allgemeine

Teil 5: Florian Harms, Chefredakteur von t-online.de

Teil 6: Georg Löwisch, taz-Chefredakteur

Teil 7: Stephan Weichert, Medienwissenschaftler

Teil 8: Julia Bönisch, Chefredakteurin von sz.de

Teil 9: Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin

Teil 10: Barbara Hans, Spiegel-Chefredakteurin

Teil 11: Sascha Borowski, Digitalleiter Augsburger Allgemeine

Teil 12: Richard Gutjahr, freier Journalist, Start-up-Gründer und -Berater

Teil 13: Benjamin Piel, Chefredakteur Mindener Tageblatt

Teil 14: Josef Zens, Deutsches GeoForschungsZentrum

Teil 15: Christian Lindner, Berater "für Medien und öffentliches Wirken"

Teil 16: Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtjournalistin

Teil 17: Carsten Fiedler, Chefredakteur Kölner Stadt-Anzeiger

Teil 18: Stella Männer, freie Journalistin

Teil 19: Ingrid Brodnig, Journalistin und Buchautorin

Teil 20: Sophie Burkhardt, Funk-Programmgeschäftsführerin

Teil 21: Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin, Filmemacherin, Journalistin

Teil 22: Tanja Krämer, Wissenschaftsjournalistin

Teil 23: Marianna Deinyan, freie Journalistin und Radiomoderatorin

Teil 24: Alexandra Borchardt, Journalistin und Dozentin

Teil 25: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 26: Jamila (KI) und Jakob Vicari (Journalist)

Teil 27: Peter Turi: Verleger und Clubchef

Teil 28: Verena Lammert, Erfinderin von @maedelsabende

Teil 29: Anna Paarmann, Digital-Koordinatorin bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide

Teil 30: Wolfgang Blau, Reuters Institute for the Study of Journalism der Universitäte Oxford

Teil 31: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater

Teil 32: Simone Jost-Westendorf, Leiterin Journalismus Lab/Landesanstalt für Medien NRW

Teil 33: Sebastian Dalkowski, freier Journalist in Mönchengladbach

Teil 34: Justus von Daniels und Olaya Argüeso, Correctiv-Chefredaktion

Teil 35: Benjamin Piel, Mindener Tageblatt

Teil 36: Joachim Braun, Ostfriesen-Zeitung

Teil 37: Ellen Heinrichs, Bonn Institute

Teil 38: Stephan Weichert, Vocer

Teil 39: Io Görz, Chefredakteur*in InFranken.de

Teil 40: Daniel Drepper, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung

Teil 41: Björn Staschen, Programmdirektion NDR, Bereich Technologie und Transformation

Teil 42: Malte Herwig, Journalist, Buchautor, Podcast-Host

Teil 43: Sebastian Turner, Herausgeber Table.Media

Teil 44: Alexander von Streit, Vocer Institut für Digitale Resilienz

Teil 45: Ellen Heinrichs, Bonn Institute

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